Pourquoi le droit de manifester est sous pression
https://www.humanrights.ch/de/
Podcast Artikel Sieben – wir reden über Menschenrechte in der Schweiz
Episode 21
Demonstrationsrecht unter Druck
mit Jeanne Durafour
(Automatisch generierte Übersetzung, es gilt das gesprochene Wort in der Episode)
Jeanne Durafour: Willkommen zu Folge 21, der ersten Folge des Podcasts «Article sept» auf Französisch. Wir sprechen über Menschenrechte in der Schweiz. Nach 20 Folgen auf Deutsch möchten wir nun auch über Menschenrechte in der Westschweiz sprechen und beschäftigen uns heute mit einem grundlegenden Menschenrecht: dem Recht auf Demonstration. Wir haben be-reits in der zweiten Folge des Podcasts darüber gesprochen, aber wir stellen fest, dass dieses Recht weltweit und auch in der Schweiz zunehmend in Frage gestellt wird. Mein Name ist Jeanne Durafour und ich begleite Sie in dieser ersten Folge des Podcasts „Article sept“ auf Französisch. Willkommen, Anita Go! Guten Tag. Danke. Anita Goh, du bist Juristin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International und verantwortlich für die Kampagne für das Demonstrationsrecht. Könntest du uns zunächst einmal erklären, was eine Demonstration ist?
Anita Goh: Ja, eine Demonstration im weitesten Sinne ist ein Ereignis in der kollektiven Vor-stellung. Man stellt sich oft eine Gruppe von Menschen vor, die mit Botschaften, Slogans und Transparenten durch die Straßen ziehen. Diese Vorstellung von einer Gruppe ist also genauso richtig wie die, eine Botschaft zu vermitteln. Denn wenn wir vom Recht auf Demonstration sprechen, sprechen wir eigentlich von der Kombination zweier Freiheiten: der Versammlungs-freiheit und der Meinungsfreiheit. Demonstrieren bedeutet also letztendlich, dass sich mindes-tens zwei Personen versammeln, um eine gemeinsame Meinung auf friedliche, also gewaltfreie Weise zu äußern. Eine Demonstration kann hingegen an allen möglichen Orten stattfinden. Der öffentliche Raum ist der erste, an den man denkt, wie beispielsweise die Straße, aber auch der private Raum oder das Internet. Und man muss dabei nicht unbedingt marschieren. Es kann sich um eine Sitzblockade handeln, um eine Blockade oder um das, was man gemeinhin als statische Versammlung bezeichnet.
Jeanne Durafour: Am 23. Juni 2023 organisiert die pensionierte Gewerkschafterin Manuela Catania eine Demonstration zur Unterstützung eines im Gefängnis von Chandon inhaftierten Umweltaktivisten. Sechs Monate später erhält sie eine Geldstrafe von 950 Franken wegen Nichteinhaltung der Modalitäten, Auflagen oder Bedingungen einer Demonstration auf öffentli-chem Grund und wegen Nichtbefolgung der Anweisungen. Der Demonstrationszug hielt tat-sächlich dreimal an, das erste Mal zwölf Minuten lang, das zweite Mal vier Minuten und das letzte Mal sieben Minuten, obwohl die Genehmigung vorsah, dass der Zug nicht anhalten durf-te. Die Demonstration endete vier Minuten nach Ablauf der vorgeschriebenen Zeit. Manuela Catania beschließt daher, Berufung einzulegen, um ihr Recht auf Demonstration zu verteidigen. Anita – ist dieser Fall in Genf ein Sonderfall. Oder werden Demonstrationen in der Schweiz generell so streng geregelt?
Anita Goh: Leider handelt es sich hierbei nicht um einen Sonderfall. Tatsächlich ist dies ein per-fektes Beispiel für das Genehmigungsverfahren in der Schweiz, das lange Auflagen mit sich bringt. Eine lange Liste von Auflagen für die Organisatoren von Demonstrationen. Man muss verstehen, dass das Demonstrationsrecht in der Schweiz in erster Linie als Sicherheitsfrage be-trachtet wird und als sogenannte verstärkte Nutzung des öffentlichen Raums, d. h. eine Nutzung des öffentlichen Raums, die über das hinausgeht, was ich normalerweise tue, wenn ich zur Ar-beit gehe, einkaufen oder auf der Straße spazieren gehe. Da es sich um eine Frage der Sicherheit handelt, sind die Kantone oder sogar die Gemeinden zuständig und legen letztendlich diese Ge-nehmigungsregelung fest, die mit Auflagen und potenziellen Sanktionen verbunden ist. Aus diesem Grund habe ich zu Beginn des Podcasts eine sehr weit gefasste Interpretation und Defi-nition des Begriffs „Demonstration” gegeben. In den meisten Kantonen, wenn wir von De-monstrationen sprechen, sprechen wir von Demonstrationen als einem Ereignis. Und daher un-terliegen Demonstrationen im Sinne des Demonstrationsrechts genau denselben Regeln wie jede andere Art von Veranstaltung im öffentlichen Raum, wie Nachbarschaftsfeste oder Sportveran-staltungen. Das bedeutet, dass ich, wenn ich eine Demonstration organisieren möchte, um für eine bestimmte Sache einzutreten, einen Antrag nach einem bestimmten Rahmen stellen, be-stimmte Fristen einhalten, ein oder mehrere Formulare ausfüllen und oft Verwaltungsgebühren bezahlen muss. Als Organisatorin gebe ich auch meinen Namen an und übernehme die indivi-duelle Verantwortung für diese Demonstration. Ich bin also die einzige Ansprechpartnerin für die Behörden, und wenn während der Veranstaltung etwas nicht eingehalten wird, bin ich allein verantwortlich. An sich verstößt dieses Genehmigungssystem bereits gegen die internationalen Menschenrechte. Ich möchte dennoch zitieren, was der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen in einer Auslegung des Pakts über bürgerliche und politische Rechte gesagt hat. Die Verpflichtung, eine Genehmigung der Behörden einzuholen, untergräbt den Grundsatz, dass das Recht auf friedliche Versammlung ein Grundrecht ist. Und genau darum geht es hier. Ein Men-schenrecht steht uns zu, weil wir Menschen sind. Daher sollten wir es einfach ausüben können, ohne die Genehmigung einer Behörde einholen zu müssen. Das ist so, als müsste ich, bevor ich meine Meinungsfreiheit ausübe und meine Meinung äußere, zuerst jemanden um Erlaubnis bit-ten. Wenn ich mich jedoch entscheide, dies zu zweit auf der Straße zu tun, ist genau das der Fall. Ich muss jemanden um Erlaubnis bitten. Und es kann alle möglichen Bedingungen geben. Da. Sie haben den Fall in Genf angesprochen, wo die Genehmigung eine sehr genaue Start- und Endzeit vorgab und als Bedingung auferlegte, dass der Zug nicht je nach Kanton anhalten darf. Es kann zehn solcher Bedingungen geben, es können bis zu 50 sein. Man findet Dinge, die ein wenig grotesk sind. Dass die Orte in einwandfreiem Zustand hinterlassen werden müssen – stellen Sie sich vor, was das bedeutet, wenn es um einen Demonstrationszug mit Tausenden von Demonstrantinnen für den Frauenstreik geht. Wenn also Papier auf dem Boden liegt oder je-mand etwas fallen gelassen hat, könnte ich als Organisatorin und alleinverantwortliche Person wegen Nichteinhaltung der Genehmigungsbedingungen strafrechtlich verfolgt werden. In ande-ren Kantonen, zum Beispiel in Freiburg, war im Rahmen einer Demonstration für den Waffen-stillstand in Gaza eine der Bedingungen, dass Plakate und Transparente nur auf Französisch oder Deutsch verbreitet werden durften. Wenn also jemand mit einem Plakat mit der Aufschrift „Free Palestine” zu dieser Demonstration kommt, kann die Person, die die Demonstration orga-nisiert, möglicherweise wegen Nichteinhaltung der Genehmigungsbedingungen strafrechtlich verfolgt werden. Man merkt, dass es sich letztendlich um ein Regime handelt, das Angst macht. Wer von uns möchte schon seinen Namen hergeben und für Tausende von Menschen bürgen, die man nicht persönlich kennt? Das ist die abschreckende Wirkung des Genehmigungssystems. Genau das ist Manuela Catania in Genf passiert. Sie wurde als alleinige Verantwortliche ausge-wählt, weil ein Demonstrationszug zu einem bestimmten Zeitpunkt beschlossen hatte, anzuhal-ten, vier Minuten lang eine kurze Rede zu halten und damit den in der Genehmigungsentschei-dung festgelegten Zeitplan um vier Minuten zu überschreiten.
Jeanne Durafour: Am 6. Oktober 2025 wird das Urteil im Fall Manuela Catania gefällt. Das Polizeigericht ist der Ansicht, dass es gegen Artikel 22 der Schweizer Verfassung und Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention, die das Recht auf Demonstration garantieren, verstoßen würde, die Organisatorin der Demonstration zu verurteilen, auch wenn sie die Ge-nehmigung nicht in allen Punkten eingehalten hat. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass das Recht auf friedliche Versammlung unter Druck steht. In den Vereinigten Staaten wurden mehr als 3000 Menschen, darunter vor allem Studenten und Studentinnen, verhaftet, weil sie De-monstrationen organisiert hatten, um gegen den Völkermord Israels in Gaza zu protestieren. Auch in Europa verschlechtert sich die Lage. Amnesty International ist besorgt über diese, ich zitiere, „Erosion der Demonstrationsfreiheit auch in der Schweiz”. Warum ist dieses Recht so wichtig? In der Schweiz gibt es doch bereits zahlreiche demokratische Instrumente, die es er-möglichen, seine Meinung zu äußern. Oder nicht?
Anita Goh: Dieses Recht ist grundlegend, weil es sich wiederum um eine Kombination aus Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit handelt. Das heißt, es ist nichts anderes als das Recht, vor mindestens zwei Personen seine Meinung zu äußern. Wie der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte festgestellt hat, gehören diese Freiheiten zu den Grundwerten einer de-mokratischen Gesellschaft. Denn tatsächlich handelt es sich dabei auch um den ersten Schutz-wall gegen einen möglichen Aufstieg des Autoritarismus. Dieses Recht ermöglicht nicht nur eine einfache Teilnahme am politischen Leben. Letztendlich ist es etwas, das jedem zugänglich ist. Ich muss keiner politischen Partei angehören, über die richtigen Beziehungen verfügen, um letztlich das Schicksal meines Landes beeinflussen zu können, oder genug Geld haben, um Kampagnen für eine Initiative zu starten, die ich dem Schweizer Volk vorschlagen möchte. Ich muss auch nicht volljährig sein und ich brauche nicht die Schweizer Staatsangehörigkeit. Es ermöglicht mir auch, in Echtzeit auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Typisch dafür ist das, was kürzlich mit der Flottille in Gaza passiert ist. Und außerdem ist es nicht nur ein Recht für Men-schen, die demonstrieren. Meinungsfreiheit bedeutet auch, informiert zu sein, wenn Menschen demonstrieren und ihre Meinung äußern. Es bedeutet auch, anderen zu ermöglichen, Standpunk-te zu hören und für Probleme sensibilisiert zu werden, die ihnen vielleicht nicht bekannt waren. Was gibt es Besseres in einem demokratischen Land wie der Schweiz, als dieses Recht an die Spitze unserer Werte zu stellen?
Jeanne Durafour: Am 2. Oktober findet in der Stadt Genf eine spontane, friedliche Demonstra-tion zugunsten Palästinas statt. Der Zug, an dem etwa dreihundert Personen teilnehmen, über-quert die Mont-Blanc-Brücke. Die Polizei geht mit Gewalt gegen die Demonstranten vor und setzt insbesondere Tränengas und Gummigeschosse ein. Amnesty hat dieses Vorgehen verur-teilt. Hatte die Polizei in diesem Fall das Recht, so zu handeln?
Anita Goh: Nach Genfer Recht hatte die Genfer Polizei vielleicht das Recht dazu, aber nach in-ternationalem Menschenrecht hatte sie das Recht dazu wohl nicht. Man muss verstehen, dass bei einer friedlichen Demonstration die Behörden und die Polizei die positive Verpflichtung haben, den Ablauf einer Demonstration zu schützen und zu erleichtern. Im Fall des 2. Oktober in Genf kommen wir nach unserer Analyse zu dem Schluss, dass die Genfer Polizei zu Beginn der De-monstration, also von der statischen Versammlung bis zur Ankunft auf der Brücke, genau das getan hat, d. h. sie hat die Demonstranten begleitet, sie vor dem Straßenverkehr geschützt und ihnen ermöglicht, in aller Ruhe voranzukommen. Die Fragen, die wir uns schließlich ab der Brücke stellen, lauten vor allem: Warum gibt es diese Blockade? Eine Blockade ist letztlich im Sinne des Völkerrechts eine Einschränkung, und eine Einschränkung muss gerechtfertigt sein. Es ist also richtig, dass aus völkerrechtlicher Sicht, wenn diese Einschränkung nicht gerechtfer-tigt ist, kein Grund besteht, Gewalt anzuwenden, weil die Demonstranten weitergehen wollen. Das ist also wirklich die erste Frage, die uns bereits Zweifel am Recht aufkommen lässt, wenn Sie so wollen. Jedenfalls haben Sie mir die Frage so gestellt, dass die Polizei so handeln sollte. Aber nehmen wir einmal an, diese Einschränkung wäre gerechtfertigt gewesen. Was hat man schließlich von Seiten der Polizei gehört? Dass es gewalttätige Personen gab und die Polizei deshalb Gewalt anwenden musste. Nach Angaben der Polizei handelte es sich jedoch um etwa 150 Personen in einem Zug von 3000 Personen. Also um eine sehr kleine Minderheit. In einem solchen Fall bleibt die Versammlung friedlich, auch wenn sich einige Personen gewalttätig ver-halten. Von der Polizei wäre also erwartet worden, dass sie die gewalttätigen Personen aus der Demonstration entfernt, damit die anderen Demonstranten friedlich weiter demonstrieren kön-nen und um sie zu schützen. Was jedoch geschah, war, dass die Zwangsmittel, wie die Polizei sagt, jedenfalls der Einsatz von Gewalt und die Wahl von Waffen mit reduzierter Tödlichkeit, wie Tränengas und Wasserwerfer, Auswirkungen auf den gesamten Demonstrationszug hatten. Es handelt sich dabei ohnehin um Waffen, die unterschiedslos eingesetzt werden. Man kann mit Tränengas nicht wirklich gezielt auf Menschen schießen. Warum also wurden diese Waffen zu diesem Zeitpunkt eingesetzt, obwohl sie mindestens 2850 friedliche Demonstranten treffen würden?
Jeanne Durafour: Darunter auch Familien.
Anita Goh: Darunter Familien mit Kindern, ältere Menschen und Menschen mit eingeschränkter Mobilität an einem Ort, nämlich auf einer Brücke, wo die Menschenmenge dicht gedrängt war und wo es letztlich nicht möglich war, sich zu zerstreuen. Nun sind aber gerade der Einsatz von Tränengas oder Wasserwerfern Strategien, um eine Menschenmenge zu zerstreuen. Eine Men-schenmenge an einem Ort zu zerstreuen, an dem sie sich nicht zerstreuen kann, zwingt uns, ei-nige Fragen zu stellen. Und genau hier wurde tatsächlich entschieden, dass die Anwendung von Gewalt ungerechtfertigt war, ohne dass überhaupt geprüft werden musste, ob sie verhältnismä-ßig war.
Jeanne Durafour: 2023 lanciert die Zürcher SVP die Anti-Chaos-Initiative. Ihr Ziel? Die Bewil-ligungsvorschriften für Demonstrationen zu verschärfen und die Kosten für Polizeieinsätze den Organisatoren und Teilnehmern dieser Demonstrationen in Rechnung zu stellen. 2024 wird die Initiative abgelehnt. Aber der Gegenvorschlag, der das Demonstrationsrecht ebenfalls stark ein-schränkt, wird angenommen. Die Diskussion findet nun in Bern statt, nach der Demonstration vom 11. Oktober 2025 zur Unterstützung Palästinas. Black Blocks haben Gewalt angewendet und insbesondere Sachschäden verursacht. Wer trägt in solchen Situationen die Verantwortung? Kann man die Demonstrationen in der Schweiz wirklich als Chaos bezeichnen?
Anita Goh: Ja. Vielen Dank für diese Frage, Jeanne. Denn in der aktuellen Debatte, sei es in den Medien oder bei verschiedenen Politikern, hört man sehr viele Vereinfachungen und Verallge-meinerungen, die letztendlich zu einer extremen Vereinfachung von Situationen führen, die zwangsläufig etwas komplexer sind, und vor allem dazu führen, dass alle Demonstranten auf-grund bestimmter Verhaltensweisen stigmatisiert werden. Der Fall Zürich ist recht interessant, denn tatsächlich ging es auch darum, diese Rhetorik der Angst zu nutzen, um letztlich eine Ent-scheidung der Stadt Zürich zu konterkarieren, die gerade beschlossen hatte, dass alle Demonst-rationen mit weniger als 100 Teilnehmern ohne Genehmigung stattfinden dürfen. Wenn es einen Ort im Kanton Zürich gibt, der Erfahrung mit Demonstrationen hat, dann ist es die Stadt Zürich. Es gab also auch ein anderes politisches Interesse daran, eine Entscheidung zu revidieren, die viel mehr im Einklang mit dem Völkerrecht stand als diese Initiative und der Gegenvorschlag. Zumal die überwiegende Mehrheit der Demonstrationen in der Schweiz friedlich verläuft. Eine Demonstration bleibt friedlich, solange es nicht zu schweren und allgemeinen Gewalttätigkeiten während der gesamten Versammlung kommt. Ja, es kann vorkommen, dass sich Personen ge-walttätig verhalten, und dann gilt letztendlich das allgemeine Recht, d. h. es ist Aufgabe der Po-lizei und der Justiz, bei nachgewiesenen Verstössen ihre Arbeit zu tun. Und das Schweizer Strafrecht ermöglicht es, solche Fälle zu verfolgen. Wenn wir über das Recht auf Demonstration sprechen, meinen wir damit nicht, dass alle Personen, die an einer Demonstration teilnehmen, eine Art strafrechtliche Immunität genießen. Wenn jemand gegen das Gesetz verstößt, Sachbe-schädigungen begeht oder andere Personen verletzt, muss er natürlich strafrechtlich verfolgt werden. Allerdings darf man nicht alle Demonstranten über einen Kamm scheren und letztend-lich ein grundlegendes Menschenrecht für alle einschränken, nur weil sich einige Personen ge-walttätig verhalten. Diese Art von stigmatisierenden Äußerungen, die alle Demonstranten in der Schweiz als gewalttätige Personen darstellen, führen letztendlich zu einer starken Spaltung der Gesellschaft und dienen auch als Vorwand, um unser aller Menschenrechte einzuschränken. Wir sind also zumindest froh, dass die Initiative nicht angenommen wurde. Wir sind nach wie vor sehr besorgt über den Gegenvorschlag. Wir waren etwas beruhigt, als die Behörden sagten, dass das Ausführungsgesetz mit dem Völkerrecht im Einklang stehen würde. Wir warten also ab, um zu sehen, welche praktischen Konsequenzen das Geschehen in Zürich letztlich haben wird.
Jeanne Durafour: Gemeinden und Kantone führen manchmal Sicherheitsargumente an, um das Demonstrationsrecht einzuschränken. Am 16. September 2025 beispielsweise lehnte die Stadt Sion die Genehmigung einer für den 1. November geplanten Demonstration gegen den Völker-mord in Gaza ab. Gibt es berechtigte Gründe, warum man eine Demonstration verbieten kann? Anita?
Anita Goh: Ja, eine Demonstration kann verboten werden. Das Demonstrationsrecht ist kein absolutes Recht, das heißt, es kann Einschränkungen geben. Ein Verbot ist jedoch die stärkste Einschränkung. Es muss immer eine Maßnahme der letzten Möglichkeit sein und um gerechtfer-tigt zu sein, muss es drei kumulative Bedingungen erfüllen. Das heißt, erstens muss es gesetz-lich vorgesehen sein. Es muss also ein Gesetz geben, das ein Verbot der Demonstration erlaubt. Es muss einem legitimen Zweck dienen. Der Schutz der öffentlichen Ordnung und der Sicher-heit gehören zu diesen legitimen Zwecken. Aber vor allem, drittens, das Verbot muss zur Errei-chung des Ziels notwendig und verhältnismäßig sein. Das heißt, wenn es aus Sicherheitsgrün-den verboten wird, muss erklärt werden, warum keine andere Maßnahme dieses Sicherheitsziel erreichen könnte. Warum gibt es keine weniger einschneidende Maßnahme? Und auf der Grundlage einer genauen Bewertung darf es nicht allgemein sein. Es besteht ein Sicherheitsrisi-ko. Also verbieten wir. In diesem Fall wäre das Verbot nicht gerechtfertigt. Und es stimmt, dass der Fall Sion viele Fragen aufwirft. Wenn ich mich auf die öffentliche Entscheidung der Stadt stütze, wurden vier Gründe für das Verbot dieser Demonstration angeführt. Der erste Grund war, dass es bereits ein Verbot für eine ähnliche Demonstration einer der Parteien gegeben hatte und es daher schwierig erschien, der anderen Partei eine Genehmigung zu erteilen. Wir haben verstanden, dass eine der Parteien sich tatsächlich auf eine pro-israelische Demonstration be-zieht. Nun, hier stellt sich bereits die Frage nach der Bedeutung der Parteien, der Konfliktpartei-en. Schließlich sprechen wir hier von Demonstrationen und Menschen, die ihre Meinung äu-ßern. Man kann also eine pro-israelische Meinung vertreten und eine pro-palästinensische Mei-nung vertreten, ohne als solche Partei des Konflikts zu sein. Vor allem aber ist, wie ich bereits sagte, das Recht zu demonstrieren ein Menschenrecht. Die Behörden sind verpflichtet, dies zu erleichtern, zu schützen und vor allem nicht über den Inhalt der Meinung zu urteilen, die man äußern möchte. Hier hat man jedoch den Eindruck, dass es eine Vermischung mit der Schweizer Neutralität gibt, wenn man sagt: Wir haben eine Meinung nicht zu Wort kommen lassen, also lassen wir auch die andere nicht zu Wort kommen, was eine Beurteilung des Inhalts der Mei-nung darstellt. Und das wäre nach internationalem Recht nicht gerechtfertigt. Was dann die reine Sicherheitsfrage angeht, verweist die Stadt Sion auf das Beispiel Lausanne. Also noch einmal: Wenn man letztendlich eine Einschränkung analysiert, ob sie verhältnismäßig ist usw., muss man den konkreten Fall des Ortes betrachten, an dem man sich befindet. Die Situation in Lausanne unterscheidet sich von der Situation in Sion, die sich wiederum von der in Bern unter-scheidet. Sion muss also tatsächlich seine eigene Situation beurteilen, und es ist auch nicht rele-vant, sich auf das zu beziehen, was in Lausanne oder anderswo passiert sein könnte. Schließlich erwähnt sie auch, dass die Polizei die Sicherheit der Teilnehmer nicht garantieren kann, weil sie nicht über die notwendigen Mittel verfügt, um einen Umzug zu sichern. Und auch hier gilt, was ich vorhin gesagt habe: Es muss die am wenigsten einschneidende Maßnahme gefunden wer-den. Nehmen wir also an, dass es selbst mit der zweimonatigen Frist für den Genehmigungsan-trag nicht möglich ist, innerhalb von zwei Monaten die erforderlichen Kräfte zu beschaffen, um die Sicherheit des Umzugs zu gewährleisten. Dann wäre vielleicht die am wenigsten einschnei-dende Maßnahme, die Durchführung des Umzugs in Frage zu stellen oder die Route des Um-zugs zu überdenken. So würde beispielsweise eine statische Versammlung auf einem Platz oft weniger Polizeikräfte erfordern. Es gibt also noch eine ganze Reihe von Maßnahmen, die hätten ergriffen werden können. Und direkt zu einem Verbot zu gelangen, würde hier unverhältnismä-ßig erscheinen. Und schließlich gab es noch einen letzten Grund, der in der Entscheidung ange-führt wurde: Die gleichen Organisatoren halten bereits wöchentlich spontane Versammlungen ab, sodass eine zusätzliche Genehmigung nicht notwendig erscheint. Das heißt also, dass die-selben Personen bereits einmal pro Woche demonstrieren und daher an diesem Tag nicht zusätz-lich demonstrieren müssen. Ich komme zurück auf die Meinungsfreiheit. Ist mein Recht, meine Meinung zu äußern, auf die Anzahl der Male beschränkt, die ich sie äußere? Darf ich sie nur dreimal äußern? Kann die Behörde mir sagen: „Okay, ab zehn Mal dürfen Sie dieselbe Meinung nicht mehr äußern.“ Ich denke, Sie verstehen genauso wie ich, dass das nicht viel Sinn ergibt und sicherlich kein Grund ist, ein Demonstrationsverbot zu rechtfertigen, das wirklich die rest-riktivste Maßnahme ist.
Jeanne Durafour: Um mit einer etwas ermutigenderen Nachricht zu schließen: Im Mai 2025 hat das Kantonsgericht Freiburg eine Entscheidung getroffen, die das Demonstrationsrecht stärkt. Die Organisatoren politischer Demonstrationen im Kanton Freiburg müssen die Kosten für den Polizeieinsatz nicht mehr tragen. Dazu mussten die Bürger, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen wollten, sich weigern, diese Kosten zu bezahlen, und Rechtsmittel einlegen, um diese Praxis zu ändern. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, dass es sich manchmal lohnt, vor Gericht zu kämpfen, um Menschenrechte durchzusetzen.
Anita Goh: Ja, das ist wirklich ein tolles Beispiel. Vor allem, weil diese Polizeikosten besonders schockierend waren. Wenn ich kurz erklären darf, worum es genau ging: Die Organisatorinnen der Demonstration hatten einen Demonstrationszug geplant, der sich jedes Mal weiterbewegte, wenn ein Polizist oder eine Polizistin aufgestellt wurde, beispielsweise an einer Kreuzung, um den Verkehr zu regeln und den Demonstrationszug passieren zu lassen. Es gab tatsächlich eine stündliche Abrechnung, sodass die Organisatorinnen am Ende der Demonstration eine Rech-nung erhielten, auf der stand: zwei Polizisten am Kreisverkehr X für Absperrungen und 800 Franken. Das heißt, es war eigentlich so, als würde die Polizei als private Sicherheitsfirma agie-ren, als würden wir kein Menschenrecht ausüben. Noch einmal: Menschenrechte sind wie die Schulpflicht für Kinder mit dem Recht auf Bildung. Das heißt, sie müssen für alle zugänglich sein. Es handelt sich nicht um eine Dienstleistung, die mir die Gemeinschaft erbringt. Der Staat und der Rechtsstaat sind dafür da, dies zu garantieren. Letztendlich ist dies also Teil dessen, was unsere Steuern abdecken. Diese Polizeikosten waren also sehr, sehr schockierend. Es ist eine hervorragende Nachricht, dass das Gericht im Sinne des Völkerrechts und der Menschenrechte entschieden hat und zu einer Praxis zurückgekehrt ist, die den Grundrechten und der eidgenös-sischen Konzession besser entspricht. Denn natürlich übernimmt die eidgenössische Konzession diese Grundsätze des Völkerrechts. Und dann kommt es ein wenig auf das Beispiel zurück. Du hattest zu Beginn des Podcasts Manuela Catania in Genf erwähnt. Sie hat dasselbe getan, eine Geldstrafe von 950 Franken erhalten und beschlossen, Berufung einzulegen. Und man sieht, wie wichtig diese Art von Berufung ist, da sie Recht bekommen hat. Die Freiburger haben Recht bekommen. Auch in Neuenburg haben wir dank Berufungen vor dem Bundesgericht Veränderungen seitens der Behörden in Bezug auf den Verlauf von Demonstrationen gesehen. Es ist in der Tat von entscheidender Bedeutung, dass die Justiz korrigieren kann, was möglich-erweise von den Exekutivbehörden versäumt wurde. Das ist sehr ermutigend für eine bessere Anwendung des Völkerrechts in der Schweiz. Und vor allem beweist es, dass es nach wie vor sehr wichtig ist, auch hier für dieses Demonstrationsrecht zu kämpfen.
Jeanne Durafour: Und damit kommen wir zurück zum Titel «Demonstrieren in der Schweiz ist ein Recht, das seinen Preis hat». Vielen Dank, Anita, für deine Zeit und deine Erklärungen.
Anita Goh: Danke, Jeanne.
Jeanne Durafour: Artikel 7 ist ein Projekt von Human Rights ch, produziert von Podcast Lab ch. Artikel 7 Wir berichten über Menschenrechte in der Schweiz und veröffentlichen jeden letz-ten Freitag im Monat auf allen Kanälen, auf der Website von Human Rights ch und auf Podcast lab ch. Wir bedanken uns nochmals herzlich für Ihre Unterstützung unserer Crowdfunding-Kampagne, die es uns ermöglicht, weiterhin Episoden auf Deutsch und Französisch zu produ-zieren. Bis zum nächsten Mal! Viel Spaß beim Zuhören!