Kurz nachdem Fan Yun im Jahr 2020 in das taiwanische Parlament gewählt wurde, erhielt sie eine beunruhigende Nachricht. Die Polizei habe über sie während ihrer Zeit als Präsidentin einer Studierendenvereinigung eine Akte angelegt. Wenn sie wolle, könne sie sich die anschauen.
Fan Yun traute ihren Augen kaum. Die Akte war viele hundert Seiten stark und enthielt detaillierte Aufzeichnungen. Gespräche wurden so minutiös wiedergegeben, dass nur Personen aus dem engsten Freundeskreis die Informationen an den Staat weitergegeben haben konnten. Nur wer? Diese Frage blieb für Fan Yun offen. Die Namen und Funktionen aller Informanten waren geschwärzt.
Die Frage, wie mit Kollaborateuren aus der Zeit der Diktatur umzugehen ist und welche Akten zugänglich gemacht werden sollen, spaltet die taiwanische Gesellschaft. Doch dem ging zunächst ein jahrzehntelanger Kampf und detektivische Aktenarbeit voraus, um die Wahrheit überhaupt ans Licht zu bringen.
In dieser Folge berichten Christina Sadeler und Tobias Sauer im Gespräch mit Carola Dorner:
- Wie Institutionen wie das National Human Rights Museum in Taiwan Informationen über die Vergangenheit aufarbeiten
- Welche Akten zur Verfügung stehen und welche nicht
- Wie die 228 Memorial Foundation arbeitet und was sie herausgefunden hat
- Welche Positionen es in Bezug auf das Recht auf Akteneinsicht gibt
- Ob sich die Situation in Taiwan mit der in Deutschland nach der Revolution von 1989 vergleichen lässt
Die Interviewpartner dieser Folge:
- Cheng Chu-mei, Tochter des Journalisten Nylon Cheng, der für Meinungsfreiheit kämpfte und sich aus Protest gegen die Erstürmung der von ihm geleiteten Redaktion das Leben nahm; Leiterin der Nylon Cheng Liberty Foundation and Memorial Museum
- Fan Yun, Abgeordnete der DPP im Legislativ Yuan und Opfer von Überwachungsmaßnahmen
- Fred Chin, der als Student unschuldig zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde und heute als Zeitzeuge durch das National Human Rights Museum führt
- Hsueh Hua-yuan, Historiker und Direktor der 228 Memorial Foundation
- Huang Lung-hsin, Abteilung für Ausstellungen und Bildung des National Human Rights Museums
- Pan Mei, Aktivistin der Taiwan Youth Association for Transitional Justice
- Su Ching-hsuan, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Pingtung
Weiterführende Informationen:
- Klaus Bardenhagen 2024: Die wichtigste Insel der Welt: Was Sie wissen müssen, um Taiwan zu verstehen. Freiburg: Herder.
- David Demes/Frédéric Krumbein 2024: Taiwan: Asiens erstaunliche Demokratie. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
- Gunter Schubert 2024: Kleine Geschichte Taiwans. München: C.H.Beck.
- Stephan Thome 2024: Schmales Gewässer, gefährliche Strömung: Über den Konflikt in der Taiwanstraße. Berlin: Suhrkamp.
- National Human Rights Museum, Taiwan
- Memorial Foundation of 228
- Yu, Pei-yun (Text) / Zhou, Jian-xin (Illustration) 2024: Tsai Kun-lin – A Graphic Novel from Taiwan. Baobab Books.
“Untold Her Story”. Ein Film von Zero Chou (2022).
Herzlichen Dank für die eigens komponierte Musik bei Baldwin Giang und für das Logo bei 2byWu&Chen! Die Recherchereise von Christina Sadeler nach Taiwan wurde unterstützt durch das Taiwan Fellowship Programm des taiwanischen Außenministeriums. Die Recherchereise von Tobias Sauer wurde ermöglicht durch das Deutsch-Asiatische Programm der Internationalen Journalisten-Programme. “Viele Opfer, keine Täter” wurde finanziell unterstützt von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Vielen Dank vor allem bei allen Gesprächspartnern vor Ort in Taiwan! Eine Produktion von Über Geschichte.