Ein Standpunkt (in Form einer Rede) von Dr. Julie Ponesse.
Übersetzt von Bastian Barucker
Vielen Dank für die Einführung, vielen Dank an den Demokratiefonds, vielen Dank an Charles McVey für die Bereitstellung eines Raums, in dem wir offen und frei Ideen austauschen können.
Ich fühle mich zutiefst geehrt, hier zu sein, und bin sehr dankbar für Ihren freundlichen Empfang; Gnade ist heutzutage Mangelware, und wir müssen sie fördern, wo wir können.
Heute habe ich Ihnen ein altes armenisches Volksmärchen zu erzählen. Es ist eine Geschichte, die meine Tochter gerne hört, und sie geht so…
Es war einmal ein Fuchs, der einer alten Frau Milch gestohlen hatte. Sie bestrafte ihn, indem sie ihm den Schwanz abschnitt. Ohne seinen Schwanz sieht er komisch aus, und alle seine Freunde lachen ihn aus. Er bittet die alte Frau, ihm den Schwanz wieder anzunähen, aber sie will das nur tun, wenn er ihr die gestohlene Milch zurückgibt. Aber die Milch ist weg, also geht er zu einer Kuh und bittet sie um Milch, um sich bei der alten Frau zu revanchieren, aber die Kuh gibt ihm ihre Milch nur, wenn der Fuchs ihr etwas Gras bringt, und das Feld gibt sein Gras nur her, wenn er ihm etwas Wasser bringt … und so geht die Geschichte weiter…
Zwei Dinge sind an dieser Geschichte interessant:
Erstens kann der Fuchs nur bekommen, was er will, wenn er zuerst tut, was ein anderer von ihm verlangt. Zweitens unternimmt der Fuchs so große Anstrengungen, um seinen Schwanz zurückzubekommen, und zwar nicht wegen des Wertes, den der Schwanz für ihn hat (z. B. weil er ihm hilft, Fliegen zu verscheuchen oder nachts warm zu bleiben), sondern weil sein Schwanz einen großen sozialen Wert hat. Er will dazugehören; ohne ihn, sagt er, “werden mich alle meine Freunde auslachen”.
Handelt der Fuchs aus freien Stücken?
Mag sein. Aber die Entscheidungen, die er über sein Leben trifft, die Art und Weise, wie er bestimmt, was gut für ihn ist und wie er es bekommt, werden stark davon beeinflusst, was er glaubt, dass andere von ihm verlangen und erwarten.
Wie frei ist der Fuchs Ihrer Meinung nach? Fühlen Sie sich von seinem Dilemma angesprochen?
Wie frei fühlen Sie sich? Heben Sie die Hand hoch, wenn Sie sich vor 2 Jahren freier gefühlt haben? Wie wäre es mit vor 10 Jahren?
Vielleicht kennen Sie das berüchtigte Foto aus dem Jahr 1936, auf dem ein einsamer Mann mit verschränkten Armen zu sehen ist, während Hunderte um ihn herum ihre Arme zum Gruß und zur Treue gegenüber der Nazi-Partei hochhalten.
Jedes Jahr zeige ich zu Beginn meines Ethikunterrichts dieses Bild und frage meine Schüler: “Was glaubt ihr, wer von diesen Menschen ihr sein würdet?” Je nach Jahr sagten zwischen 80 und 85 % der Klasse, dass sie mit Sicherheit der einsame, abweichende Mann mit den verschränkten Armen sein würden. Aktuelle psychologische Studien zeigen jedoch, dass nicht einmal 10 % von uns wahrscheinlich dieser Mann sein werden. Aus diesen Studien geht hervor, dass unsere vorherrschende moralische Strategie in Wirklichkeit Fügsamkeit ist.
In einer Studie der Harvard Business Review aus dem Jahr 2016 wurden die Probanden zum Beispiel gefragt: “Was würden Sie tun, wenn sich jemand vor Ihnen in der Schlange vordrängt?”
Die meisten sagten, sie würden die Person sofort und höflich bitten, sich ans Ende der Schlange zu stellen. Was glauben Sie, wie viele haben sich tatsächlich gemeldet? Als die Forscher das Experiment durchführten, tat nur 1 von 25 Personen dies tatsächlich. Der Rest war entweder zu faul, um sich die Mühe zu machen, oder hatte zu viel Angst davor, was andere sagen oder tun würden.
Am 11. November dieses Jahres herrschte in einer Ingenieursklasse an der Western University wieder einmal Fügsamkeit, als ein Student verhaftet wurde, weil er der Impfpflicht der Universität nicht nachgekommen war.
Was mich überraschte, war nicht, dass der Student verhaftet wurde,