Bis vor einem halben Jahrhundert verfolgte die BRD noch "Straftaten gegen die Sittlichkeit". So stand es im Strafgesetzbuch. Mit etwas Verspätung fand die sexuelle Revolution auch ihren Weg in die Gesetze: 1973 verabschiedete sich der Staat von seiner Rolle als oberster Sittenwächter. Seitdem dient das Sexualstrafrecht dem Schutz der individuellen sexuellen Selbstbestimmung. Bereinigt von kirchlicher Moral, ist im neuen Sexualstrafrecht nicht mehr von "unzüchtigem Verhalten" die Rede, sondern von "sexuellen Handlungen". Diese fallen erst dann in den Bereich des Strafbaren, wenn sie gegen das "Recht auf sexuelle Selbstbestimmung" und den Jugendschutz verstoßen. Die Unionsparteien CDU und CSU stimmten gegen die Reform des Sexualstrafrechts. Aber die sozialliberale Koalition verfügte über eine komfortable Mehrheit, so dass das Gesetz im Juni 1973 den Bundestag passierte und im November desselben Jahres in Kraft trat. Weitergehende Reformen folgten erst 20 Jahre später. 1994 wurde der Paragraph 175 mit Sondervorschriften zur Homosexualität gestrichen. 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. 2016 wurde, befördert von der #metoo-Debatte, auch der Grundsatz ‚Nein-heißt-Nein‘ gesetzlich verankert. Seitdem macht sich strafbar, wer einer Person gegen deren "erkennbaren Willen" sexuelle Handlungen aufzwingt. Immer war das Sexualstrafrecht also ein Spiegel seiner Zeit.