Ein Kommentar von Bernd Lukoschik.
Element unserer konformistischen Gesellschaft
Das Phänomen
Etwas ganz alltäglich Gewordenes: Da tritt ein Politiker auf und wirft der Friedensbewegung vor, sie solidarisiere sich nicht (genug) mit der Ukraine gegen Russland. Sie fröne einem falsch verstandenen Pazifismus. Der Hinweis der Friedensbewegten auf die Vielzahl an Untaten der NATO in den letzten Jahrzehnten, ihr Verweis auf die illegalen Kriege der westlichen „Werte“-Gemeinschaft, all das, um Russlands Vorgehen zu relativieren, gar verständlich zu machen, sei unangebracht.
Was war, zähle nicht.
Allein das, was ist, zählt: Heute begehe Putin Verbrechen. Und das muss gewissermaßen bestraft werden, was nur mit militärischen Mitteln gelingen könne.
Frieden schaffen mit schweren Waffen!
Mit solchen Gedankengängen wird der Zeitgenosse nicht nur seitens der Politiker eingedeckt, sondern auch vom näheren oder ferneren Bekanntenkreis. Zunehmend macht sich Aggression breit. Wer für Frieden ist, ist für Russland.
Engstirnigkeit bzw. Borniertheit Nr. 1
Was war, zählt nicht, nur was eben geschieht, bestimmt unser Denken und Handeln.
Wir interessieren uns nicht mehr für die Vergangenheit, weil wir keine Vergangenheit mehr haben. Längst ist das flüchtige Kurzzeitgedächtnis an die Stelle der Erinnerung getreten.
Engstirnigkeit bzw. Borniertheit Nr. 2
Was sein wird, was droht, worauf wir hinarbeiten, gerät aus dem Fokus unseres Vorstellens und Denkens. Verzicht auf den unbedingten Pazifismus – was zunehmend gefordert wird – lässt eine sehr wahrscheinlich furchtbare Zukunft schlicht aus der Vorstellungswelt verschwinden: den drohenden Nuklearkrieg.
Wir machen uns keine Gedanken mehr um die drohende Zukunft, weil wir keinen Zeithorizont nach vorn haben, keine Zukunft mehr vorstellen können.
Das Ausblenden von Vergangenheit und Zukunft lässt den Zeitgenossen sich auf eine nahezu punktuelle Gegenwart fixieren: Die Wirklichkeit verkommt zu einer bloßen Aneinanderreihung von Momentaufnahmen.
Und er verändert sich ebenfalls: Er verkümmert zum Jetztling, zu einem Wesen, das über den zeitlichen Horizont einer Eintagsfliege verfügt – wenn deren Zeithorizont mit ihrem einen Tag den des westlichen Wertemenschen hier nicht bereits bei Weitem übertrifft! Man bedenke nur die Erinnerungsleistung des Tagesschaukonsumenten fünf Minuten nach Verglimmen der Nachrichtenberieselung!
Die Handlung
Dabei ist doch klar, dass die Handlung des anderen und meine eigene Handlungsfähigkeit zutiefst von der Vergangenheit und der Zukunft abhängen.
… von der Vergangenheit
Wie soll ich Putins Handeln verstehen, wenn ich nur auf sein punktuelles Tun starre, das mir die Medien in Momentaufnahmen präsentieren? In Momentaufnahmen – das haben nun mal Bilder so an sich –, die systematisch Vergangenheit und Zukunft ausklammern müssen.
Um seine Handlung zu verstehen, ist es notwendig, seine Beweggründe und Motive empathisch nachzuvollziehen, warum die Situation, in der und aus der heraus Putin handelt, so geworden ist, wie sie ist. Und dazu gehört natürlich auch sein Blick auf die vergangenen illegalen Kriege und Menschenrechtsverletzungen der NATO und der Krieg in der Ostukraine in den vergangenen acht Jahren und die seit zwanzig Jahren von der NATO vollzogene Bewegung auf Russland zu.
Von Putin zu verlangen, er müsse, um rational in unserem Sinne zu handeln, auf die Einschätzung dieser Vergangenheit verzichten, hieße, ihn auf den Zustand einer Eintagsfliege zu reduzieren. Klar, das wäre tatsächlich das Beste, was der westlichen Wertegemeinschaft geschehen könnte! Natürlich fordert sie von ihm dieselbe Zeiteinengung, die sie selbst praktiziert!
… von der Zukunft
Der oben erwähnte Politiker und die vielen anderen sonst halten den unbedingten Pazifismus vieler Friedensbewegter zunehmend für etwas zu unbedingt. Zunehmend wird,