Hannes Kolbe ist Joint Lead AI bei der AOK Nordost und einer der ersten, die eine spezialisierte KI-Einheit in einer gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland aufgebaut haben. Er hat keinen klassischen Informatik-Hintergrund, sondern kommt aus der Gesundheitswissenschaft. Nach seinem Bachelor in Prävention und Gesundheitssport und einem Master in Public Health an der Universität Bielefeld begann er seine Karriere bei der AOK Nordost. Über die Abteilung für individuelle Prävention gelangte er zur Unternehmensstrategie.
Mit der Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022 erkannte er das enorme Potenzial der Technologie und eignete sich intensiv Wissen durch Selbststudium an – mittels YouTube-Videos, Podcasts und Newslettern. Diese intrinsische Motivation ermöglichte es ihm, das Thema KI bei der AOK auf die Agenda zu setzen und eine eigene KI-Einheit aufzubauen.
Wie KI Einzug in die gesetzliche Krankenversicherung hält
Der Einstieg in das Thema KI bei der AOK Nordost
Hannes Kolbe schildert, dass er sich zunächst selbst für KI begeisterte, obwohl er kein technischer Experte war. Sein erstes Experiment bestand darin, sich von ChatGPT ein komplett neues Brettspiel erstellen zu lassen – inklusive Regelwerk und Code für eine digitale Umsetzung. Diese Fähigkeit, neue Dinge in kürzester Zeit zu generieren, überzeugte ihn von der Tragweite der Technologie.
Um das Thema in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu etablieren, nutzte er ein praxisnahes Beispiel, um Kollegen zu überzeugen: KI wird in Zukunft unverzichtbar sein – nicht um Menschen zu ersetzen, sondern um Prozesse effizienter zu gestalten. Es wird keine zukünftigen Arbeitsprozesse ohne KI-Unterstützung geben.
Herausforderungen der KI-Integration im GKV-Kontext
Datenschutz und regulatorische Hürden
Ein großes Hindernis für den Einsatz von KI in der GKV ist der sehr hohe Datenschutzstandard für Sozialdaten. Während andere Branchen bereits mit KI experimentieren, sind gesetzliche Krankenkassen aufgrund der strengen SGB V-Regulierungen stark eingeschränkt.
Dennoch gibt es viele unproblematische Anwendungsfälle, etwa:
Textzusammenfassungen medizinischer Gutachten, die von Menschen final geprüft werden.E-Mail-Kategorisierung zur schnelleren Bearbeitung.Marketing- und Strategieentwicklung mit KI-gestützten Tools.Kolbe plädiert für einen stufenweisen Ansatz: Erst wird mit öffentlichen Daten gearbeitet, dann mit internen Verwaltungsdaten, und schließlich kann – mit entsprechenden Schutzmechanismen – auch mit sensiblen Sozialdatenexperimentiert werden.
Das „Too Busy to Innovate“-Problem
Warum KI in vielen Organisationen nicht vorankommt
Ein großes Problem ist, dass viele Gesundheitsorganisationen in ihrem Tagesgeschäft gefangen sind und keine Kapazitäten für Innovation haben.
„Zu beschäftigt zum Innovieren“ bedeutet, dass Organisationen ihre bestehenden Probleme managen, aber keine Zeit haben, um sich mit Zukunftstechnologien auseinanderzusetzen.Lösung: Die Schaffung einer klaren Zuständigkeit für Innovation. Unternehmen brauchen dedizierte KI-Teams, die neue Technologien vorantreiben, anstatt zu warten, bis sie irgendwann „dringend“ werden.Kolbe betont, dass Organisationen, die sich jetzt nicht mit KI beschäftigen, bald nicht mehr wettbewerbsfähig sein werden.
KI und Change Management in Unternehmen
Die 4 Typen von Mitarbeitenden im Umgang mit KI
Kolbe beschreibt vier typische Reaktionen auf KI in Unternehmen:
Die Enthusiasten: Sie sind begeistert und erwarten, dass KI sofort perfekte Ergebnisse liefert. Sie müssen realistisch auf das 80/20-Prinzip eingestellt werden: 80 % KI-Unterstützung, 20 % menschliche Feinarbeit.Die Ängstlichen: Sie fürchten Kontrollverlust und negative Konsequenzen, z. B. durch Deepfakes oder Bias in KI-Systemen. Hier hilft Aufklärung und gezieltes Change Management.Die Skeptiker (Führungskräfte): Sie sind meist rational, aber sehen KI als Bedrohung für ihre eigene Expertise und Erfahrung. Diese Gruppe bringt oft bewusst Negativbeispiele ein, um KI abzulehnen.Die Anpassungsfähigen: Diese Gruppe nutzt KI realistisch und strategisch, macht sich mit neuen Tools vertraut und nutzt sie zur eigenen Weiterentwicklung.Die Herausforderung besteht darin, die ersten drei Gruppen durch gezielte Maßnahmen abzuholen.
Die Zukunft der KI im Gesundheitswesen
Veränderung des Arzt-Patienten-Verhältnisses
Ein spannendes Zukunftsszenario ist die Veränderung des Gesundheitswesens durch KI.
Immer mehr Patienten nutzen KI, um sich selbst über Krankheiten und Therapieoptionen zu informieren – ähnlich wie bei Google-Suchen heute.Ärzte müssen sich darauf einstellen, dass Patienten mit KI-generierten Studienanalysen in die Praxis kommen.Die Kompetenz, Informationen zu hinterfragen und zwischen KI-generierten und echten medizinischen Erkenntnissen zu unterscheiden, wird essenziell.Automatisierung von Bürokratie und Wissensmanagement
KI kann nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte und Versicherungen unterstützen:
Studienzusammenfassungen für Ärzte in wenigen Sekunden.KI-gestützte Entscheidungsfindung bei Anträgen.Automatisierte Erstellung von Versicherungsdokumenten.Gesellschaftliche und ethische Implikationen von KI
Manipulationsgefahr und Sicherheit
Betrüger nutzen KI bereits für Deepfakes und Betrugsversuche (z. B. im Enkeltrick-Betrug).Datenschutz und Cybersicherheit müssen weiterentwickelt werden, um diesen Bedrohungen entgegenzuwirken.Neue Ungleichheiten oder mehr Chancengleichheit?
KI kann bestehende Wissensungleichheiten reduzieren, indem sie Informationen für jeden zugänglich macht – auch für Menschen ohne klassische Bildung.Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass nur gut informierte oder wohlhabende Menschen von den neuen Möglichkeiten profitieren.Vision für die Zukunft der gesetzlichen Krankenkassen
KI als Gamechanger für das gesamte Gesundheitssystem
Kolbe beschreibt eine Zukunft, in der:
Jede Interaktion mit Krankenkassen, Ärzten oder Behörden KI-gestützt ist.Prozesse vollständig automatisiert werden – von der Leistungsabrechnung bis zur medizinischen Beratung.Versicherte personalisierte Angebote erhalten, basierend auf individuellen Gesundheitsdaten und präzisen Prognosen für Krankheiten oder Therapien.KI-Agenten als persönliche Gesundheitsassistenten fungieren, die Versicherte rund um die Uhr unterstützen.Diese Zukunft wird nicht nur die Effizienz steigern, sondern auch die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern.
KI als Chance für das Gesundheitswesen
Zum Abschluss betont Kolbe, dass KI nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern eine gesellschaftliche Transformation ist. Diejenigen, die sich frühzeitig mit KI auseinandersetzen, werden langfristig bessere Entscheidungen treffen, effizienter arbeiten und innovativer agieren können.
Wer sich dagegen sperrt, wird bald den Anschluss verlieren.
Inga Bergen bedankt sich für das spannende Gespräch und verweist auf weitere Angebote zur KI-Weiterbildung, u. a. über die Future Health Academy.
Der Beitrag Hannes Kolbe – Joint Lead AI bei der AOK Nordost – über Chancen und Herausforderungen von KI in der GKV erschien zuerst auf Visionäre der Gesundheit.