Nochmal aufdreh'n. Lass uns nochmal aufdreh'n. Ein Partylied? Ein Sommerhit um hemmungslos abzutanzen, alles rauszulassen? Aufdreh'n. Man lebt nur einmal, also hier und jetzt. Aufdreh'n, selbst wenn es weh tut. Ein Zeichen setzen. Eines, das bleibt. Aufdreh'n.
Nochmal aufdreh'n. Das war schon früher so. Da waren sie, die stolzen Zeiten. Wo der Applaus tobt. Wo der Bär steppt. Wo das Leben rauscht. Wo er zu Hause war. Leben. Aufdreh'n. Nochmal aufdrehn. Das gab's ja alles schon.
Nochmal aufdreh'n. Das gab's ja alles schon. Er hat gelebt. Er hat aufgedreht. Der Applaus tobte. Aufdrehn. Immer weiter drehn. Das Leben hat sich weitergedreht. Vieles war immer gleich. Die Bars kommen und gehen, der Schnaps schmeckt noch genauso. Drehn. Weiterdrehn. Lange. Schon sehr lange. Er zählt die Jahre schon nicht mehr. Alles kommt ihm vor, wie wenn es alles im Rauch liegt. Im Nebel. Man blickt schon gar nicht mehr durch.
Er sitzt in der Bar, am Hafen. Die Möwen kreischen über seinem Kopf. Wenn man die hören kann, ist die Musik verstummt. Die anderen Gäste sind längst weg. Nur die Reste der Party liegen noch auf dem Boden. Konfetti. Hier war mal richtig was los. Ein Taxifahrer sammelt die Letzten ein, die nicht mehr selbst laufen oder fahren können. Das Glas noch in der Hand. Den allerletzten Schluck.
Aufdreh'n. Nochmal aufdreh'n. Nein, das ist nicht "Layla". Wer hier nur sorglos tanzen will, hat das melancholische "Da-dei-da" überhört. Es ist ein nachdenkliches Lied, das er da singt. Ein Lied vom Ende. "Das letzte Lied zum Rausschmiss". Und dann? Was kommt nach dem letzten Schluck auf Ex? Nach dem Ausstieg aus dem Taxi. Rausschmiss?
Wenn ich geh...
Wer ist er eigentlich? Das "ich", das da singt?
Wer in irgendwann in den letzten Jahrzehnten in Deutschland mal das Radio angemacht hat, der wird Udo Lindenbergs Stimme sofort erkannt haben. 54 Jahre machte er bereits Musik, bevor er im Januar 2023 dieses Lied veröffentlichte. Vielfach wurde er mit dem Echo ausgezeichnet, mit dem Bambi für sein Lebenswerk, dem deutschen Radiopreis, der goldenen Kamera, der goldenen Stimmgabel und dem Bundesverdienstkreuz erster Klasse. Ehrenbürger von Hamburg ist er sowieso. Vermutlich hat niemand so viel dafür getan, Rockmusik in deutscher Sprache populär zu machen, wie er. Ein Meister der Sprache ist er. Er beherrscht das Spiel mit den Metaphern. 2010 hat er den Jacob-Grimm-Preis als Kategorie des Kulturpreises Deutsche Sprache bekommen--das ist auch nicht alltäglich, dass den ein Musiker bekommt. Wer an Musik in Deutschland denkt, kommt an Udo Lindenberg nicht vorbei. Jeder kennt seine Stimme.
Na ja, fast jeder. Meine Tochter hat in dem Lied sofort Apache 207 erkannt. Lindenberg war ihr fremd. Neue Generationen hören neue Stimmen. Apache 207, der Mannheimer, den niemand unter seinem bürgerlichen Namen Volkan Yaman kennt, ist mit "Roller" berühmt geworden. Nummer-eins-Hit, meistgestreamter Song 2019, meistverkaufter Rapsong in Deutschland. Lindenberg hat ein Konzert von ihm besucht und war gleich begeistert. "Apache fiel mir gleich auf, weil er sich doch sehr vom Normalo-Gangsta-Rap unterscheidet. Cooler, schlauer Junge, sehr geflashte Texte, Trademark-Stimme - und singt auch noch mega-geschmeidig." [NDR] Gegenseitige Besuche folgten. Der Song sei ihnen "nur so zugeflogen", erinnert sich Lindenberg im NDR-Interview. Zwei Musikrichtungen kommen zusammen. Zwei Stimmen ("passen tausendpro") kommen zusammen.
Meine Tochter Emma kannte nur eine davon. Neue Generationen hören neue Stimmen.
Ist es das, wovon Lindenberg singt? Da-dei-da -- die melancholischen Erinnerungen eines großen Musikers, der weiß, das seine Zeit vorüber ist? Der mit Stolz die Fahne vergangener Höhepunkte trägt, aber am Ende noch nur allein zu Hause sitzt -- im dichten Rauch der vorbeiziehenden Jahre?
Wer das meint, der kratzt höchtens an der Oberfläche des Werks, das nicht nur auf Lindenberg und Apache 207 zurückgeht, sondern in einer ganzen Gruppe erarbeitet wurde. Chris James, Jumpa, Sira und Takt32 zeichnen ebenfalls für den Song verantwortlich. Auch der Wechsel der Stimmen im Lied sollte Hinweis darauf sein, dass das "ich" nicht einfach mit einem alternden Lindenberg gleichzusetzen ist. Wie so oft hat das lyrische Ich eine Perspektive, die über eine Einzelperson hinausgeht. Das "ich" könnten wir alle sein.
"Unser Komet ist ein Song über die Unvergänglichkeit, über den Fußabdruck, den wir hinterlassen", meint Lindenberg. Gemeinsam mit den fünf anderen hat er einen Text über die eine Frage verfasst, an der kein Mensch vorbeikommt. "Und wenn ich geh...?" Was dann, wenn ich geh? Wer sein Leben nicht ganz in undurchsichtigen Rauchschwaden verbringt, der merkt mindestens in besonderen Momenten der Klarheit, dass es nicht endlos so weitergeht. Das Leben ist begrenzt. Mit jedem Jahr auf dieser Welt wird einem das mehr bewusst. Und die Jahre scheinen immer kürzer zu werden. Das letzte Glas schon fast leer. Kommt dann der Rausschmiss?
"Und wenn ich geh..." Was dann, wenn ich geh?
Kometen sind relative kleine Himmelskörper aus Eis, Staub und lockerem Gestein, die sich in den äußeren, kalten Bereichen des Sonnensystems gebildet haben und von dort auf die Reise Richtung Sonne begeben. Mit der Annäherung an die Sonne lösen sich ins Eis eingebettete Staubteilchen und bilden eine schalenförmige, nebulöse Hülle um den Kern des Kometen. Durch Strahlungsdruck und Sonnenwind werden Teile dieser Hülle "weggeblasen", so dass sich ein lang gestreckter Schweif bildet. Im Licht der Sonne werden Kometen daher besonders sichtbar, was sicher einer der Anknüpfungspunkte des Liedtextes ist. Die beobachtete Flugbahn eines Kometen um die Sonne ähnelt oft einer Parabel. Kometen kommen, umrunden die Sonne und gehen wieder -- ein weiterer Anknüpfungspunkt. Manche Kometen, die sogenannten "periodischen", fliegen in Wirklichkeit auf einer sehr langgezogenen, elliptischen Bahn, so dass sie immer wiederkommen -- wenn auch zum Teil in großen Abständen von bis zu 100 Millionen Jahren.
"Und wenn ich geh, dann so wie ich gekommen bin, wie ein Komet, der zweimal einschlägt."
In der Regel lösen sich Kometen irgendwann auf. Schließlich verlieren sie in ihrem Schweif bei jeder Umrundung der Sonne an Masse. Das eingeschlossene Eis verdampft und irgendwann gibt es einfach keinen Kometen mehr. Aus und vergessen. Nichts bleibt!
Einschlagen tun Kometen in der Regel nicht. Bruchteile von Kometen gehen manchmal als Meteore auf die Erde nieder. Ein Einschlag ist zwar nicht ausgeschlossen, es gibt aber in der bisher erforschten Erdgeschichte keinen einzigen gesicherten Hinweis auf den Einschlag eines Kometen. Zum Glück! Eine derartige Kollision wäre mit Sicherheit das Ende des Lebens auf diesem Planeten! Komplett auszuschließen ist deshalb auch die Möglichkeit, dass ein Komet gleich zweimal einschlägt. Mit dem ersten Einschlag wäre die Flugbahn nämlich definitiv beendet.
"Und wenn ich geh, dann so wie ich gekommen bin, wie ein Komet, der zweimal einschlägt."
Und wenn doch?
Der, der hier singt, will nicht einfach in Vergessenheit geraten. Nun, da der allerletzte Schluck Leben sich nähert, sorgt er sich um das, was am Ende übrigbleibt. Er will mit einem großen "Bang" gehen, etwas hinterlassen, das bleibt. Auf keinen Fall will er sich in der einsamen Stille zu Hause einfach auflösen und vergessen werden. Nein: Ich "will auf Nummer sicher geh'n, dass ich für immer leb." Deshalb: "Lass uns nochmal aufdreh'n!"
Das offizielle Musikvideo zum Lied legt noch einmal eine neue, spannende Folie darüber: Apache 207 spielt einen Kleinkriminellen, der an einer Kneipenschlägerei beteiligt war, in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde, Bier aus einem Laden klaut und auf der Flucht noch ein parkendes Auto beschädigt. Das alles sehen wir dort aber nur in Rückblenden. Völlig losgelöst von der bisherigen Bilderwelt des Songtexts nimmt uns das Video mit zur Gerichtsverhandung. Udo Lindenberg tritt als Verteidiger auf, nuschelt dort seine Hafenerinnerungen in das Mikrofon. Auch wenn er immer wieder Gründe zu finden scheint, die die Handlungen des Angeklagten rechtfertigen sollen, ist die Jury von dessen Schuld fest überzeugt. Am Ende erklingt, anders als in der Audioversion, die Stimme der Richterin: "Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Geschworenen befinden den Angeklagten für schuldig des gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahl. Der Angeklagte wird verurteilt zu Hausarrest. Es wird ihm überlassen, wo er diesen verbringt."
Dann fällt der Hammer. Schuldig. Auch ein "Bang".
Aber der scheint es wert gewesen zu sein: Es ging ja schließlich darum, nicht unbemerkt zu gehen. Etwas zu hinterlassen. Große Fußstapfen. Die finalen Sekunden des Videos zeigen, zu nachdenklicher Musik, die Dachterasse des Hotel Atlantic, Lindenbergs langjährigem Domizil. Lindenberg und Apache 207 sitzen dort, vor den Lichtern des nächtlichen Hamburg und rauchen Zigarren. Sie sehen sehr zufrieden mit sich aus. Am Himmel über ihnen zieht ein Komet seine leuchtende Bahn. Sie nicken.
Und wenn ich geh, dann so, wie ich gekommen bin, wie ein Komet, der zweimal einschlägt. Vielleicht tut es weh, doch will auf Nummer sicher geh'n, dass ich für immer leb. Lass uns nochmal aufdreh'n!
Über den "Big Bang" muss sich Udo Lindenberg nun keine Gedanken mehr machen. Nach 54 Jahren Musikerkarriere hat er es im Januar 2023 gemeinsam mit Apache 207 geschafft, einen Nummer-Eins-Hit zu landen. Und was für einen: 21 Wochen lang war "Komet" ununterbrochen an der Spitze der deutschen Single-Charts, 30 Wochen auf den ersten beiden Plätzen. Der Song bricht alle Rekorde: Nach 18 Wochen überholte er "Rivers of Babylon" und "Despacito" als am häufigsten auf Platz 1 platziertes Lied. Schon eine Woche früher lief er "Verdammt ich lieb dich" den Rang als deutschsprachiges Lied mit den meisten Spitzenplätzen ab. Zweimal Platin gab es inzwischen schon. 1,5 Millionen Aufrufe des Videos auf Youtube allein in den ersten zwei Tagen. Lindenberg hat sich ein Denkmal gesetzt.
War's das jetzt? War das der große Bang -- "sie sollen seh'n"? Nach all den Erfolgen der Vergangenheit, war das jetzt der Fußabdruck "stärker als die Zeit", in den kein andrer Fuß noch reinpasst? Reicht das jetzt, um nicht in Vergessenheit zu geraten -- "wenn ich geh"?
Als Pfarrer kann ich alle diese Fragen zunächst nur begrüßen. Es sei klug, heißt es im 90. Psalm, der Mose zugeschrieben wird, zu bedenken, dass man sterben muss. Es bringt ja nichts, vor sich hinzuleben, als würde alles ewig so weitergehen. Viele versuchen das ja. Auf Dauer kann man das gar nicht durchhalten. Das Leben ist endlich. Was machen wir damit? Was bleibt -- "wenn ich geh"?
Mein Beruf bringt es mit sich, dass man sich mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigt. Meine Töchter können bestätigen, dass man im Pfarrhaus ganz normal am Mittagstisch sitzen kann und plötzlich mit größter Selbstverständlichkeit über Sterben, Tod und Beerdigung geredet wird. Das Thema ist präsent. Und ich erlebe an mir selbst, was Psalm 90 beschreibt, dass es gut ist, sich damit auseinanderzusetzen. Das Nachdenken über das Sterben hilft tatsächlich bei der Gestaltung des Lebens. Ich bin froh darüber.
Was also, "wenn ich geh"?
Beim Hören von "Komet" fehlt mir (wenig überraschend für die, die mich kennen) die Hoffnung. Ich höre ganz viel Unsicherheit heraus. War's das jetzt? Reicht das jetzt? Ich höre ganz viel verzweifeltes Versuchen heraus, dem Sterben (und dem Vergessenwerden) ein Schnippchen zu schlagen, indem man das "eine große Ding" findet, das irgendwie Ewigkeitswert hat. "Ich will sicher geh'n" -- und dann findet man diese Sicherheit nicht. "Lass uns nochmal aufdreh'n" erscheint mir als eine wenig sinnvolle Lösungsstrategie angesichts eines begrenzten Lebens. Und irgendwann hat auch das größte Aufdreh'n, auch das letzte Aufbäumen ein Ende. Dann bleibt nur noch Konfetti auf der Straße. Der letzte Glitter von dem, was keiner festhalten kann.
Als Christ bin ich überzeugt davon, dass das anders gehen kann. Dass es bessere Antworten gibt auf diese Frage, der kein Mensch sich entziehen kann. "Wenn ich geh", dann gehe ich mit Hoffnung. Nicht mit einer Fantasie, an die ich mich klammere. Nicht mit irgendeinem unerreichbaren Komet, der unendlich weit von mir unberührt seine Bahn zieht. Meine Hoffnung hat einen Namen. Sie heißt Jesus Christus. In ihm hat Gott mir gezeigt, dass mein Leben seinen Wert nicht erst in einem unvergesslichen "Aufdreh'n" finden muss. Den Wert meines Lebens hat Gott von Anfang an garantiert. In Christus zeigt er mir, dass ich ihm so viel wert bin, dass er für mich Mensch wird, mit mir meine Lebenswege geht, für mich bereit ist, alles auf sich zu nehmen -- sogar das Sterben, dem ich nicht entkomme. In Jesus Christus hat mir Gott einen Weg geöffnet, durch dieses Ende hindurch, zu dem, was sich alle ersehnen und doch keiner allein erreicht: "Dass ich für immer leb." In Christus habe ich diese Gewissheit. In ihm weiß ich mich geborgen, auch über den Tod hinaus. Für mich verändert das alles. Es macht mich gelassener im Umgang mit meiner eigenen Endlichkeit. Es schafft Klarheit und Perspektive statt undurchdringlichem Rauch. Und mit Gottes Versprechen blüht mir eines Tages noch viel mehr Glitter, als man auf den Hafenstraßen Hamburgs jemals streuen kann.
Ich muss dem "Kometen" also wiedersprechen. In Christus ist mein Leben mehr als ein Kommen und wieder Gehen, sei es mit Applaus und Lichtschweif, sei es mit dem großen "Bang" oder ohne.
"Wenn ich geh..." Ich habe versucht, eine neue Formulierung zu finden, die passt. Ich habe sie bei Paulus gefunden, im 14. Kapitel des Römerbriefs. In meiner letzten Gemeinde kamen diese Worte jedesmal zu Gehör, wenn wieder jemand von uns gegangen war. Alle haben sie dann auswendig mitgesprochen. Hier sind sie -- mein "Wenn ich geh..."
Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. (Römer 14,7-9)
Amen.
Am Ende der Predigt habe ich als "Widerspruch" zum "Kometen" nicht noch einmal den Hit von Udo Lindenberg und Apache 207 eingespielt, sondern ganz bewusst ein anderes Lied: