Carlos ist 70 und kriegt einen Stent. An seinem Krankenhausbett in Manila sitzen seine Frau Renata und die Tochter Brynn und giften sich an. Ein Zimmer voller Spannungen. Dennoch hat Carlos Zeit, an sein Leben zurückzudenken: an die Zeit der Besatzung, die er als Kind erlebte.
Da waren erst die Amerikaner, dann die Japaner, dann wieder die Amerikaner. Er denkt auch an die philippinische Unabhängigkeit, die aber – so die These dieses Romans von Katrina Tuvera – bis heute keine ist. Besonders genau erzählt sie von der Ära des Ferdinand Marcos. Ein Diktator von Washingtons Gnaden.
Er mag es nicht, wenn der US-Präsident Johnson ihn seinen ‚rechten Arm‘ in Asien nennt – aber was ist daran so falsch, frage ich dich? Denkt, er, die Leute werden darüber lachen? Ihn als Schoßhund bezeichnen?
Quelle: Katrina Tuvera – Die Kollaborateure
Antikommunistisches Bollwerk in Asien
Ja. Und zurecht. „Die Kollaborateure“ heißt Katrina Tuveras sehr wacher Roman. Ihre Figuren reden leichthin von Kollaboration, wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht. Doch auch danach wird fleißig antichambriert, zeigt dieser Roman, vor allem bei den Amerikanern, für die die Philippinen in den 60ern und 70ern zum antikommunistischen Bollwerk in Asien wurden.
Garant dafür waren Diktator Ferdinand Marcos und seine Frau Imelda. Herzpatient Carlos gehörte einst zu Marcos‘ Entourage. Wie auch die Eltern von Katrina Tuvera selbst.
Katrina Tuvera: Ich wuchs in einer Familie auf, die loyal zu Marcos stand. Erst an der Uni sah ich die dunkle Seite dieser Marcos-Loyalität. Seither bewege ich mich zwischen diesen beiden Weltsichten. Für mich ist das eine Art Schizophrenie. Ich kann diese Perspektiven nicht in Einklang bringen. Deswegen bin ich Schriftstellerin geworden.
Wichtig sind für Tuvera Figuren, die nicht leicht fassbar sind. Carlos etwa erleben wir als fröhlichen Jungen und liebevollen Vater, als widerwärtigen Ehemann und fragwürdigen Politunterhändler. Auch er wird einmal ein Schoßhund genannt.
Carlos ist ein Antiheld
Katrina Tuvera: Carlos ist für mich ein Antiheld. Ich mag Antihelden, weil sie nicht einfach gut oder böse sind. Sie sind beides. Wer von uns könnte sie verurteilen? Für meinen Roman wollte ich Figuren und Erzählstrukturen, die komplexer sind.
Vertrackt sind auch die politischen Verhältnisse, die Katrina Tuvera beschreibt. In der Gegenwart des Romans wird mit Joseph Estrada um die Jahrtausendwende herum wieder mal ein Präsident geschasst. Tuvera erwähnt viele reale Persönlichkeiten der Zeitgeschichte, benennt sie aber nicht konkret.
So steckt ihr Text voller Andeutungen, die deutsche Leser nur schwer verstehen. Das einordnende Nachwort von Annette Hug hilft bei der Lektüre. Auch Carlos Tochter Brynn will begreifen, was in ihrem Land vor sich geht. Zusammen mit Freund Jacob besucht sie eine Ausstellung zur Marcos-Ära.
Aufarbeitung der Marcos-Ära
An einer Wand befinden sich Streifen aus Stacheldraht, die von Quadraten aus Metall unterbrochen werden, auf die Daten geprägt sind. Daneben stehen Zahlen und Beschreibungen, die nicht länger geheim gehalten werden: 70.000 Inhaftierte und 34.000 Gefolterte; über 3.200 außergerichtlich Getötete über einen Zeitraum von neun Jahren, von 1972 bis 1981.
Quelle: Katrina Tuvera – Die Kollaborateure
Die Aufarbeitung ist im Gang, will dieser multiperspektivische Roman sagen. Jan Karsten hat ihn zugkräftig übersetzt. Sicherlich eines der klügsten philippinischen Bücher in diesem Herbst. Eine lohnende, aber auch durchaus fordernde Lektüre.