Preisfrage: Wie überlebte man in den Achtzigern als friedensengagierter Heranwachsender die DDR, noch dazu als schwuler Sohn einer strammen Sozialistin?
Antwort: Mit viel Humor und den Songs von Prince, David Bowie und Tina Turner.
Anschlussfrage: Und wie entkam man als junger Mann diesem Arbeiter- und Bauernstaat, der jedes seiner Schäfchen überwachte?
Antwort: Mit viel Chuzpe, gerade während stundenlanger Stasi-Verhöre – und im Vertrauen auf die Hilfe guter Freunde im Westen.
Queerer Schelmenroman
Das ist kurz gesagt die Quintessenz von Victor Schefés herrlich verrücktem autobiografischem Schelmenroman „Zwei, drei blaue Augen“. 1986, drei Jahre vor der Wende, durfte Schefé als Achtzehnjähriger nach Westdeutschland ausreisen.
Nach langem Kampf mit den DDR-Behörden ebenso wie mit seiner Mutter. Die war als Rostocker Radiojournalistin Teil der Funktionseliten der DDR und konspirierte hinter dem Rücken ihres Sohnes mit der Stasi.
Mutter sagt, sie wird alles dafür tun, dass mein Vorhaben nie aufgeht. Ich streite nicht mehr mit ihr. Nehme zur Kenntnis, nicke und denke, muss alles Persönliche, alles Verfängliche, alles Schriftliche aus der Wohnung schaffen. Ihre Kriegserklärung ist klipp und klar – nicht nur als Mutter, auch als Genossin.
Quelle: Victor Schefé – Zwei, drei blaue Augen
Das notierte Victor Schefé, der damals noch den Vornamen Tassilo trug, seinerzeit in sein Tagebuch. Die Aufzeichnungen seines jüngeren Ichs sind eine der Quellen dieses Romans, neben seinen Briefwechseln mit Freunden sowie, natürlich, den Stasi-Akten.
Aus ihnen erfuhr der bekannte Schauspieler Jahrzehnte später die ganze traurige Wahrheit. Zum Beispiel wie früh ihn das Ministerium für Staatssicherheit schon auf dem Radar hatte. Und mit welchem Aufwand sein Leben damals überwacht worden war.
Verfolgungsjagd mit der Stasi
Die erzählerisch beste Passage dieses großartigen Lebensromans ist eine Art Parallelmontage: Da ist sein 17-jähriges Ich auf dem Weg zu einem konspirativen Treffen in Berlin und versucht, einen Mann mit auffällig weißen Schuhen abzuschütteln.
Und da ist der Bericht des Stasi-Agenten über den vermeintlich impulsiven Jugendlichen – eine herrlich verrückte Verfolgungsjagd voller Missverständnisse mit Zügen einer absurden Komödie. In zwischengeschalteten Kapiteln rekonstruiert der Autor seine Kindheit und Jugend:
Wie sich langsam Zweifel in sein naives sozialistisches Weltbild schleichen, wie er wegen seiner Fragen rasch Probleme in der Schule bekommt oder wie er seine sexuelle Orientierung entdeckt, die ihn früh zum Außenseiter stempelt. Vor allem seine Liebe zu Mikis, einem jungen Mann aus Zypern, führt zum Entschluss, einen Ausreiseantrag zu stellen.
Ist schon crazy, wie forsch der ist. Und eine kleine Zahnlücke, vorn oben, hat er auch! Vorm Roten Rathaus schlage ich vor, einen Kaffee »in Honecker’s lamp shop«, in Erichs Lampenladen, zu trinken. Mikis guckt wie zwei Autos. Ich erkläre, dass der Palast der Republik den Spitznamen vom Volk bekommen habe, weil es nirgendwo sonst so viele Leuchten gibt. Er prustet los. Mann, hat der eine Lache!
Quelle: Victor Schefé – Zwei, drei blaue Augen
Krebserkrankung nach der Wende
Schefés Sprache platzt geradezu vor Lebendigkeit und Lebenslust, inklusive immer neuer Wortschöpfungen wie „Körperwinter“ oder „Schulkackpolitdeutsch“.
Ganz nah ist dabei das heutige, erzählende Ich bei seinem jüngeren, erlebenden. Bizarr gestaltet sich, nach dem überraschenden Fall der Mauer 1989, das Wiedersehen in Rostock mit der Mutter, die sich trotzig der Realität verweigert.
Kurz darauf übersteht Schefé eine schwere Krebserkrankung, feiert erste Erfolge auf Theaterbühnen, eröffnet eine queere Szenebar in Westberlin. Inzwischen konnte man den Schauspieler sogar schon in einem „James Bond“ und einem Stephen-Spielberg-Film sehen.
Wie schön, dass Victor Schefé Tassilo, sein jüngeres Ich, noch einmal zum Leben erweckt hat.