Der 7. Oktober als Zäsur
„Wie geht es Dir?" Es ist erstaunlich, was eine so kleine Frage alles zum Vorschein bringen kann. „Von Tag zu Tag verschieden“, antwortet die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt Mirjam Wenzel. Die Comicszene zeigt sie an ihrem Lieblingsplatz im Museum, auf der Terrasse.
Ein Polizeiwagen steht vor dem Haus. So Mirjam Wenzel: „Wir haben massive Kontrollen von Seiten der Polizei – Taschenkontrollen, Körperkontrollen. Vor uns stehen Polizisten mit Maschinengewehren vor beiden unserer Häuser. Das ist sozusagen eine ganz andere Art des Arbeitens."
Der 7. Oktober sei für alle im Haus eine Zäsur, erzählt Mirjam Wenzel im Comic. Ihre große Sorge: das Museum nicht als offenen Ort der Begegnung erhalten zu können. Auf 16 kleine Bilderkacheln, schwarz-weiß mit Bleistift gezeichnet, hat die Karlsruher Comic-Autorin Julia Kleinbeck ihr Gespräch mit der Museumsdirektorin verdichtet.
Künstlerische Energie gegen die Verzweiflung
Seit einem Jahr gehört sie zur Kurationsgruppe des Comic-Projekts „Wie geht es Dir?“. Nach dem brutalen Überfall der Hamas habe sie sich über die rasche Lagerbildung auch unter den eigenen Kolleg*innen pro Israel bzw. pro Palästina gewundert.
Sie erzählt: „Oft war ich erstaunt, dass so schnelle Antworten und einfache Antworten gefunden sind auf was, was ich immens komplex gerade finde oder wo ich noch nicht die schnelle Antwort habe und eben zeichnend versuche, mit den Fragen umzugehen. Und ich das Gefühl hatte, man muss darauf achten, dass es eine Vielstimmigkeit bleibt. Dass verschiedene Antworten zugelassen werden, möglich sind und dass man die auch aussprechen darf in der Verschiedenheit."
60 ganz unterschiedliche Stimmen kommen daher in diesem Comic zu Wort: Menschen, die von ihrer Verbindung zu einem Ereignis erzählen, das zwar weit weg in Israel stattgefunden hat, das sie aber nun in Deutschland einholt – mit antisemitischer Hetze, mit rassistischen Übergriffen und antimuslimischen Protesten.
Im Netz und auf der Straße. Diese aggressive Stimmung hat auch Nathalie Frank schockiert. Die Comic-Autorin kommt aus der Nähe von Paris, lebt aber schon seit 2011 in Berlin und ist eine der Initiator*innen des Projekts: „Mich hat die Situation nach dem 7. Oktober, den Anfang von Gaza-Krieg und die Stimmung hier sehr verunsichert. Deshalb habe ich schnell entschlossen: anstatt den ganzen Tag Nachrichten gucken und verzweifelt sitzen, ein brückenbauendes Projekt in die Welt setzen, erschien mich eine sinnvolle Nutzung von meiner verzweifelten Energie."
Vielstimmigkeit als Gestaltungsprinzip
Brücken bauen, zum Dialog einladen – die Idee hat sich in der gut vernetzten Comic-Szene schnell herumgesprochen. Es gab gleich viele Zusagen, erinnert sich Münchner Comic-Autorin Barbara Yelin, die zum Kernteam des Projekts gehört.
Das Konzept habe überzeugt: journalistische Interviews zu führen und diese dann künstlerisch umzusetzen, also auf eine Seite zeichnerisch zu verdichten. Die eigene Meinung spiele bei diesem Projekt keine Rolle, betont Barbara Yelin.
Es gehe ums Zuhören, ums Lernen, um Solidarität: „Ich sehe uns als Gesellschaft in der Verantwortung, dass wir gegen den ansteigenden Antisemitismus einstehen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Dass wir gegen den ansteigenden Rassismus einstehen. Was wir mit unserem Projekt versuchen, ist wirklich, persönlich, individuell Empathie zu schaffen, hinzuhören. Diese Vielstimmigkeit, dieses Zuhören auf verschiedene Seiten ist wirklich eine Herzensbildung, eine Menschenbildung und ein Lernen und vor allem ein In-Kontakt-Bleiben."
Vielstimmig und vielschichtig erweist sich dieses Comic-Projekt tatsächlich: es sind jüdische, yezidische, deutsch-türkische und deutsch-palästinensische Stimmen dabei, Jung und Alt, Professoren, Kulturwissenschaftlerinnen, Friedensaktivisten, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Musiker und andere mehr.
Und trotz der extremen Verdichtung eines in der Regel mehrstündigen Interviews auf wenige Comic-Bilder sind es sehr komplexe Episoden geworden, die ein genaues Hinsehen und Hinhören erfordern.
Das habe sie auch gefordert, meint Comic-Autorin Julia Kleinbeck: „Manche Leute erzählen ja vermeintlich aus dergleichen Perspektive, haben aber – es sind ja individuelle Geschichten – einen ganz anderen Blick oder andere Schwerpunktsetzung. Und dass das alles Platz haben kann. Stärkend auch der Blick, sich selbst als Zeichnerin noch einmal zu hinterfragen. Wir wurden ja auch begleitet im Bereich des Sensitiv Reading selber noch einmal zu gucken, wie erzähle ich eigentlich, was habe ich eigentlich für Bilder – das war eine sehr dichte Erfahrung."
Bilder erzählen komplexe Lebensgeschichten
Bekannte Namen sind darunter, aber auch Menschen, die lieber anonym bleiben wollen, um sich nicht zu gefährden. Benji zum Beispiel, 1997 in Berlin geboren, ein „jüdischer Berliner“, die Eltern sind als jüdische Kontingentflüchtlinge in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen.
Dass Benji nicht erkannt werden will, hat tiefe Wurzeln, wie Comic-Autorin Nathalie Frank bei ihrem Interview erfahren hat: „Was mir vorher nicht klar war: er hat erzählt, dass seine Eltern ihm verboten haben als Kind zu erzählen, dass er jüdisch ist in der Schule in Berlin in den 90er Jahren. Das ist ein Teil der Realität des jüdischen Lebens, die mir nicht bewusst war. Und ich dachte, dann ist es wahrscheinlich vielen nicht bewusst und sie sollten das wissen, dass das die Realität ist."
Dabei hat die Journalistin Nathalie Frank selbst jüdische Wurzeln: die Geschichte ihrer Großmutter, die als junges Mädchen nach Frankreich fliehen musste, ist ebenso in das Projekt eingeflossen wie das Empfinden der Autorin und Übersetzerin Rasha Khayat. Eine Frau mit internationalem Hintergrund: in Deutschland geboren, Kindheit in Saudi-Arabien verbracht, um dann wieder in die alte „Heimat“ zurückzukehren.
So Khayat: „Das ist ganz ganz schwer auszuhalten für jemanden wie mich. Wenn man von außen immer wieder diese Message bekommt: wer man zu sein hat oder wer man nicht zu sein hat. Also das hat mich in so eine Art Identitätskrise gestürzt. Vielleicht war es auch naiv, dass ich immer dachte: Ach, komm, irgendwie gehöre ich doch zu Deutschland dazu. Aber auf einmal hatte ich wieder das Gefühl: wie als ich mit 11 Jahren nach Deutschland gekommen bin – ich gehöre hier nicht dazu. Ich werde immer das Andere sein."
Wut und Trauer mischen sich in dieser Erkenntnis. Comic-Autorin Barbara Yelin zeichnet ihre Interviewpartnerin Rasha Khayat beim Schwimmen. Ein Ort, um Kraft und neue Gedanken zu fassen. „Wie geht es Dir?“ – eine kleine Frage nur, die bei diesem wertvollen, sehr gelungenen Projekt ganze Horizonte öffnet.
Und bei aller Unterschiedlichkeit auch Verbindendes entdeckt: „Diese Frage, wie geht es Dir, war wirklich auch ne überraschend wichtige Einstiegsfrage. Weil wir damit ja auch nicht nur individuelle Sichtweisen bekommen, sondern was auch immer wieder klar wurde, waren Gemeinsamkeiten. In so vielen dieser Comics war gemeinsam: der Wunsch nach Frieden.