Ingeborg Arvola ist ein zurückhaltender Mensch. Das ist beim Treffen in einem separaten Raum in der altehrwürdigen Nationalbibliothek nah beim verschneiten Schlosspark im Zentrum Oslos nicht zu übersehen.
Aber wenn die 50 Jahre alte Schriftstellerin, die seit langem in der norwegischen Hauptstadt lebt, von der Gegend erzählt, in der sie aufgewachsen ist, dann verändert sie sich, dann leuchten ihre Augen.
Sie stammt aus dem äußersten Norden des Landes, der sogenannten Finnmark, und gehört zur Minderheit der Kvenen, Nachkommen finnischer Einwanderer, erzählt sie:
„Mein Vater kam von einem Bauernhof. Wenn ich für längere Zeit bei ihm wohnte, war das wie eine Reise in die Vergangenheit. Gesprochen wurde Finnisch oder Kvenisch. Wir waren mit Pferd und Schlitten unterwegs, holten Heu aus der Scheune, um es zu den Tieren auf dem Hof zu bringen. Er lebte in einer Lehrerwohnung in der Nähe der Schule.
Und wenn wir zum Arvola-Hof fuhren, mussten wir im Sommer mit Booten oder im Winter mit Skiern über den Fluss fahren. In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, dass ich die Letzte war, die eine wirklich alte Zeit erlebte, weil er der Letzte war, der das Pferd herumführte.“
Gegen alle Widerstände
Es ist wohl diese sehr intime Kenntnis einer fernen, einfachen Lebensweise, die Ingeborg Arvolas Roman „Der Aufbruch“ so lesenswert macht. Das Buch, Auftakt ihrer Eismeer-Trilogie, führt weiter zurück als nur in die Zeit der Kindheit der Autorin, nämlich bis ins 19. Jahrhundert.
Arvola porträtiert eine schicksalsgläubige Gemeinschaft von Fischern und Bauern. Im Mittelpunkt der auf wahren Begebenheiten beruhenden Geschichte steht eine unangepasste, selbstbewusste, eigensinnige Frau.
Britta Caisa, aus deren Perspektive erzählt wird, hält gegen alle Widerstände an der Liebe zu einem verheirateten Mann fest und stellt sich somit gegen Jahrhunderte alte Traditionen und Gesetze. Der Roman ist eine Feier des einfachen und auch harten Lebens im äußersten Norden – und einer atemberaubenden Natur.
Der Schnee hat einen ganz eigenen Glanz, wenn der Wind nachlässt und die Abendsterne am Nachmittagshimmel funkeln. Der Himmel erstreckt sich in alle Richtungen. Noch nie habe ich so viele Sterne auf einmal gesehen. Wie viele vor uns schauen wir zurück, in Richtung der dichten Wälder, der Seen und Flüsse, in deren Nähe wir gewohnt haben, auf Gebäude, Blaubeerwiesen und Familien, die wir hinter uns gelassen haben. Sie, die anderen, drehen sich um, als die Weite um uns herum alles Gewohnte verschluckt. Ich nicht. Ich begrüße das Neue. Das Offene und Große.
Quelle: Ingeborg Arvola – Der Aufbruch
Ingeborg Arvolas präzise, detailgenaue Beschreibungen machen die Landschaft und das Leben der Menschen darin sinnlich erfahrbar. Die schneebedeckten Weiten und die Schilderungen scheinbar schlichter, urtümlicher Lebenswege werden zu einem mythisch beseelten Gegenentwurf zur unerbittlichen Modernisierung der Welt.
Ingeborg Arvola hat den Roman in Oslo mit Blick auf Straßen und Häuser geschrieben. Die Finnmark aber war trotzdem präsent.
„Ich sitze in Oslo und sehne mich nach dieser Natur. Ein Teil von mir will immer in der Finnmark sein. Es ist die schönste Natur. Ich glaube, die Kombination aus Wissen und Sehnsucht macht das Buch aus. Wenn ich in der Finnmark leben und schreiben würde, wäre es vielleicht schrecklich. Womöglich ist die Sehnsucht also ganz wichtig.“
Wie eine Explosion
In Norwegen erscheint im Herbst der Abschlussband der Eismeer-Trilogie. Für die Autorin war das Großprojekt selbst ein Aufbruch. Während sie zuvor vor allem Kinderbücher geschrieben hat, wurde sie für „Der Aufbruch“ 2022 mit dem Norwegischen Buchpreis ausgezeichnet. Damit habe sich für sie alles verändert, sagt sie:
„Ich hatte früher fünf Leser, aber mit diesem Roman hatte ich in nur wenigen Monaten 50.000 Leser. Das war wie eine Explosion. Es war eine sehr seltsame und willkommene Erfahrung, denn ich schreibe seit 25 Jahren Bücher.
Ich habe nie wirklich den Durchbruch geschafft, aber mir ist es trotzdem irgendwie gelungen, immer weiterzumachen. Und dann habe ich plötzlich all diese Leser, und sie sind so dankbar. Das ist eine sehr schöne Erfahrung.“
Zum großen Erfolg der Trilogie mag beigetragen haben, dass in Norwegen seit einiger Zeit offen und kritisch über die erzwungene Assimilation angestammter Minderheiten im Land diskutiert wird. Sprache und Kultur von Samen und Kvenen wurden lange Zeit rigide zurückgedrängt.
Hoffnungsvoller Blick auf die Gegenwart
Für Ingeborg Arvola gehören solche Erfahrungen jedoch der Vergangenheit an. Auf die Gegenwart schaut sie hoffnungsvoll: „Es wird mehr und mehr anerkannt, dass sich im Norden Norwegens drei Stämme treffen: Samen, Norweger und Kvenen. Jetzt, wo die Leute anfangen, ihre Wurzeln zu erforschen und ihre Familiengeschichte zu entdecken, stellen die Menschen aus Nordnorwegen fest:
‚Oh, wir haben auch diese finnischen Namen und diese samische Kultur und diese norwegischen Fischer in der Familie.‘ Es handelt sich also eher um ein fröhliches Wiederaufleben der Dinge. Und es gibt den politischen Willen, etwas zu tun, damit auch unsere Kultur wieder bessere Tage erlebt.“
Einzelne Wörter und kurze Passagen im Roman wurden auch in der deutschen Übersetzung in der Sprache der Kvenen belassen. Den Lesefluss stört das nicht, vielmehr verstärkt es den Eindruck einer ganz eigenen Welt, in die das Buch entführt.
Ingeborg Arvola selbst ist ohne die Sprache ihrer Vorfahren aufgewachsen. Sie lernt sie jetzt. Am liebsten singt sie Lieder auf Kvenisch.