„Ich mache nicht so viel mit Hanteln. Ich starte immer mit Cardio, zum Aufwärmen vielleicht auf dem Crosstrainer oder einem kleinen Spaziergang auf dem Laufband,“ schlägt Verena Keßler vor.
Literatur auf dem Laufband also. Ungewöhnlich? Nicht bei diesem Roman. „Gym“ heißt der und spielt in einem Fitnessstudio. In so einem treffe ich heute Autorin Verena Keßler. Hier zeigt sie mir ihre Trainingsroutine - und wir sprechen über ihren neuen Roman.
Darin landet die Protagonistin als Angestellte hinter der Smoothie-Theke des „Mega Gym“. Zunächst ohne Absicht, dort zu trainieren. Bis sie merkt, dass ihr Körper sich mit dem Kraftsport verändert: „Jedenfalls ihrem Gefühl nach. Und sie merkt, sie wirkt plötzlich ganz anders auf die Leute, bei ihr werden mehr Shakes am Tresen gekauft und so.“
Fitnessstudio als Ausgleich
Vor zwei Jahren hat Verena Keßler selbst mit dem Trainieren in einem Fitnessstudio angefangen, als Ausgleich zum Schreibtischjob. Meist ein-, zweimal die Woche, mittags, wenn das Studio leer ist: „Irgendwie fühle ich mich da ganz wohl und gehe gerne hin. Es gibt aber auch Phasen, wo ich – zum Beispiel nach dem Schreiben des Buchs – gar nicht mehr hingehe.“
Zwischen Hantelbank und Crosstrainer kam ihr die Idee zu einem Roman. Den Einstieg in den Job erschwindelt sich Keßlers Ich-Erzählerin. „Mega Gym“-Chef Ferhat erzählt sie, ihren nicht gerade Fitnessstudio-konformen Körper habe sie nur, denn sie habe gerade…
(…) entbunden: nicht: Ich habe vor Kurzem ein Kind bekommen, wie ein normaler Mensch es ausgedrückt hätte.
Quelle: Verena Keßler – Gym
Die Lüge hält sie erstaunlich lange aufrecht. Zwischen dem Mixen von Smoothies und Proteinshakes mit obskuren Namen erzählt sie dem Roman- und Studiopersonal von den Herausforderungen, die die vermeintlich alleinerziehende Mutter problemlos zu meistern scheint.
Kontrolle oder Kontrollverlust?
Ob es ein Roman über Kontrolle oder Kontrollverlust sei, frage ich Keßler.
„Beides. Sie kommt ja in einer Situation an, wo sie das Gefühl hat, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. Sie hat ihren Job verloren und sich eine Weile gehen lassen. Dann fängt sie im Fitnessstudio an, obwohl sie eigentlich nicht trainieren will.
Aber als sie merkt, dass sie Muskeln aufbaut und es mit ihrem Einsatz zusammenhängt, entdeckt sie etwas Neues, das sie kontrollieren kann. Das motiviert sie sofort, weiterzumachen.“
Ein Roman in drei Sätzen
Im Grunde war es ganz simpel. Ein fitter, ein straffer, ein starker Körper war vor allem eins: Arbeit.
Quelle: Verena Keßler – Gym
Diese Arbeit beschreibt Keßler auf knapp 190 Seiten und in drei Sätzen. Also, im Sinne einer Trainingsdramaturgie. In drei Teile ist Keßlers Roman gegliedert. Sätze – im Kraftsport die übliche Struktur in der eine Muskelgruppe trainiert wird. Dreimal fünfzehn Wiederholungen. Dazwischen: Rückblenden. Der alte Job, der, soviel sei verraten, mit einer ungeheuerlichen Tat der Erzählerin endete.
Von Satz zu Satz wird die Verbissenheit ihrer Hauptfigur größer.
„Scheitern ist für sie die allergrößte Katastrophe.“
Keßler erzählt mir während des Trainings: „Ehrgeiz, der große Wunsch nach Anerkennung, das finde ich interessant. Und auch dieses Streben nach Leistung. Wie sehr kann man das verfolgen, ohne dass es einen krank macht? Bei ihr ist es ja letztendlich so.
Auf der einen Seite ist es total gewünscht und anerkannt, dass man nach Leistung und Erfolg strebt. Auf der anderen Seite soll man auf keinen Fall zu verbissen sein. Am besten fällt einem alles zu und man schafft auch alles andere. Und wenn man es dann nicht schafft, wenn ein Erfolg zum Beispiel nicht eintritt, dann soll man ganz bescheiden sein und sagen: Das ist ja gar nicht schlimm. Das ist ja etwas, das die Protagonistin gar nicht kann. Dieses Scheitern ist für sie die allergrößte Katastrophe.“
Ein Millennial-Roman durch und durch.
Denn „Gym“ ist keine reine Milieustudie der Fitnessszene: In dieser Welt voller Proteinshakes und Instagram-Posen stecken die gut trainierten „Glutes“, die Gesäßmuskeln, in Leggins. In der Erzählung steckt einiges an Zeitdiagnose. Ein Millennial-Roman durch und durch.
Irgendwann habe ich bei Instagram auch nichts anderes mehr gesehen und gemerkt, wie Protein-besessen diese Welt eigentlich ist.
Quelle: Verena Keßler im Gespräch
„Bei diesem ersten, assoziativen Schreiben ist mir aufgefallen, wie das automatisch reinrutscht. Obwohl ich vorher gesagt hätte, dass ich mich gar nicht so wahnsinnig viel mit dieser Fitnesswelt beschäftigt habe,“ gibt die Autorin zu. „Aber das ist ja dann auch eine Frage des Algorithmus: Irgendwann habe ich bei Instagram auch nichts anderes mehr gesehen und gemerkt, wie Protein-besessen diese Welt eigentlich ist. So sind die Dinge dann da reingekommen.“
Gegenwartsmarker im „Mega Gym“
Hüttenkäse, Protein und Pumpen: Diese Gegenwartsmarker treten im „Mega Gym“ personifiziert in Form der Figuren auf. An ihnen verhandelt Keßler Leistungsdruck, Kontrolle, Körperbilder und die Sozialen Medien amüsant mit. Da gibt es zum Beispiel die Trainerin Swetlana, die schließlich mit ihrem Instagram-Account, auf dem sie ihre tanzenden Pobacken präsentiert, viral geht.
Eine Kränkung für das Erzählerinnen-Ego, der Growth und Gains bald nicht mehr reichen. Chef Ferhat stellt ihr einen Trainingsplan zusammen:
Wir fangen mal mit 45 Kilo an. Klingt vielleicht viel, aber in ein paar Wochen wirst du schon dein Eigengewicht auflegen können. Und in ein paar Monaten ist auch das Doppelte bis Dreifache drin. Mag glaubt immer gar nicht, wie viel ein Mensch bewegen kann, auch Frauen, unterschätz dich da nicht, im Grunde gibt’s kein Limit.“
Ein leichter Schwindel erfasste mich.
Kein Limit, keine Grenzen.
Quelle: Verena Keßler – Gym
Keßlers Eskalationsfantasien
Kein Limit haben auch Keßlers Eskalationsfantasien. In „Gym“ erschafft sie eine überzeichnete, absurde Welt: „Dann sieht sie,“ die Erzählerin, „Vic, die krasse Bodybuilderin, die diese von dem Ideal abweichenden Muskeln hat. Ah ja, man kann sich abheben. Das ist immer das, worauf sie anspringt. Dann will sie das sofort auch, doller als Vic und will noch krasser werden als sie,“ weiß die Romanautorin.
Beim Schreiben halfen ihr deshalb nicht nur eigene sportlichen Erfahrungen, sondern auch Recherche, unter anderem ein Telefonat mit einer echten Bodybuilderin: „Es geht nicht darum, wie das aussieht, sondern was das für eine Leistung ist. Die richten ihr Leben darauf aus. Die trainieren so viel, dazu gehört die strenge Ernährung. Für Wettkämpfe sind sie runtergehungert, damit man die Muskeln gut sehen kann“.
Verena Keßler faszinierte das: „Die sind krass ehrgeizig und auf den Erfolg bei Wettkämpfen gepolt. Das passt zu meiner Figur. Als ich mit der Bodybuilderin telefoniert habe, da war ich schon relativ weit mit dem Text und habe ein paar Sachen abgeglichen: Wie trainierst du, wie oft trainierst du?“
Unsympathische Erzählerin
Keßlers Protagonistin ist dabei wenig sympathisch. Die Kolleginnen im „Mega Gym“ belächelt sie. Die Mütter, denen sie in einem Kurs zum Prä-Baby-Body verhelfen soll, vergrault sie schnell mit ihren neo-liberalen ‚Du kannst alles schaffen, wenn du dich nur richtig anstrengst‘-Ansprachen.
„Also über meine Protagonistin würde ich nicht sagen, dass sie Feministin ist, sie ist eher Egoistin. Und ich glaube, sie würde es auch über sich selber nicht sagen, weil das für sie relativ egal ist, weil das sowas Gesellschaftliches ist und die Gesellschaft ist ihr eigentlich völlig egal,“ verrät die Autorin.
„Für sie zählt sie selbst, ihre Ziele, was sie erreichen möchte und dass sie sich abhebt von den anderen. Und ja, ihr Frauenbild ist oft ein bisschen abschätzig und sie ordnet sich ja immer so ein. Also jede Frau wird erstmal abgecheckt, ist die besser als ich? Wenn ja, was kann ich dagegen tun? Wo kann ich sie irgendwie übertrumpfen? Und wenn nein: Wie kann ich sie kleinhalten, durch das, wie ich mit ihr agiere?“
Verena Keßlers Lieblingsgeräte
Im Studio zeigt mir Verena Keßler ihre Lieblingsgeräte. Wichtig sei ihr beim Training selbst eher der Spaßfaktor. Und: Körper und Geist in Einklang zu bringen.
„Schreiben ist ja dieses ständige ‚In seinem eigenen Kopf sein‘ und der Körper stört dabei ja fast. Irgendwann macht er sich bemerkbar, durch Rückenschmerzen. Und dann fand ich’s schon immer gut zu sagen: So, jetzt gehe ich einfach mal ins Fitnessstudio.
Der Kopf ist dabei auch aus. Was ich nicht gut kann, ist mir dabei Gedanken machen. Es tut auf jeden Fall gut, wenn man kurz raus ist aus dem Kopf.“