Wenn es zuhause bei Ji-won zum Abendessen Fisch gibt, bekommen sie und ihre jüngere Schwester Ji-hyun Schweißausbrüche vor Ekel. Ihre Mutter hat eine ganz ungewöhnliche Angewohnheit: Sie verspeist mit großer Leidenschaft Fischaugen. Denn die Augen, sagt sie, sind das Beste:
Sie nimmt eines der Stäbchen und sticht damit in den Fischkopf. Ji-hyun macht ein Geräusch, das irgendwo zwischen keuchen und würgen liegt. Ein paar Sekunden später hält Umma beide Stäbchen hoch, damit Ji-hyun und ich die kleine, weiße Kugel sehen können, die zwischen den schmalen Metallspitzen klemmt. Sie hat ein triumphierendes Funkeln in den Augen und bevor wir reagieren können, steckt sie sich das Ding in den Mund. »So köstlich!« Sie zeigt uns ihre leere Zunge. Die silbrige Füllung ihrer Zähne schimmert im Licht. »Seht ihr? Eure Umma lügt nicht. Ihr zwei verpasst was.«
Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen
Fischaugen bringen Glück
Es soll Glück bringen Fischaugen zu essen, sagt eine alte Weisheit in Korea. Zuhause in Los Angeles können Ji-won, ihre Mutter und ihre Schwester gerade eine große Portion Glück gebrauchen: Der Vater hat nämlich die Familie von heute auf morgen verlassen. Ji-wons Mutter ist erschüttert. Wochenlang sind ihre Tage gefüllt mit Warten und Weinen. Ihre Töchter können diese Passivität nicht ertragen.
Ji-won ist im ersten Semester an der Universität zudem so eingespannt, dass sie kaum Kraft hat, sich um ihre trauernde Mutter zu kümmern. Stattdessen wirft sie ihrer Mutter insgeheim vor, dass sie sich so abhängig von einem Mann gemacht hat. Und sich schon bald einem Neuen an den Hals wirft: George. It-Berater, stolzer Republikaner. Er hat braune Haare, blaue Augen und, und das erschüttert die Schwestern, eine weiße Hautfarbe.
Wie kommt es, dass du einen weißen Mann in einem koreanischen Laden kennengelernt hast?«, frage ich. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber George ist ein besonderer Mann. Ich habe noch nie jemanden wie ihn getroffen. Er weiß andere Kulturen zu schätzen und die koreanische mag er besonders, weil er in Seoul stationiert war. Er spricht sogar unsere Sprache! Ist das nicht toll?«
Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen
Aber schnell stellt sich raus: Der vermeintlich weltoffene George interessiert sich nicht für asiatische Kultur, sondern für asiatische Frauen. Er fetischisiert sie, macht sie zu Objekten seiner sexuellen Fantasien. Die Namen der beiden Schwestern Ji-won und Ji-hyun kann er nicht aussprechen und gibt ihnen kurzerhand Spitznamen. Er nennt sie „kleine, orientalische Mädchen“ und gafft sie unverhohlen an.
Georges stechender Blick ist ständig auf Ji-hyun und mich gerichtet. Er beobachtet uns. Bewertet uns. Legt uns frei, Schicht für Schicht. Er sieht hungrig aus, als wären wir seine Beute. Manchmal, wenn ich mich umdrehe und ihn beim Starren ertappe – und er nicht einmal den Anstand hat, wegzusehen –, dann sehe ich seine Augen und muss an meinen Traum denken.
Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen
Feministischer Horror-Roman
In Ji-won wächst die Wut. Und ein Hunger, der ihr Angst macht: Sie hat es auf Georges eisblaue Augen abgesehen. Traum und Realität verschwimmen in „Das Beste sind die Augen“, wenn Ji-won sich ausmalt, wie sie langsam und präzise Georges Augen aus ihren Höhlen löst und verspeist. Brutal und auch ziemlich ekelig ist diese Fantasie, die, so viel sei schon mal verraten, keine Fantasie bleiben wird.
Die koreanisch-amerikanische Autorin Monika Kim hat mit ihrem Debütroman einen Bestseller in den USA gelandet. Hier in Deutschland erscheint das Buch bei „kiwi sphere“. Das frisch gegründete Imprint gehört zum Verlag „Kiepenheuer und Witsch“ und richtet sich gezielt an Leserinnen zwischen fünfzehn und dreißig, sagt Programmleiterin Mona Lang.
„Das Beste sind die Augen“ ist der erste Titel des neuen Programms. Mit einem feministischen Horror-Roman zu starten, ist eine ungewöhnliche Entscheidung. Was hat Mona Lang und ihr Verlags-Team an Ji-wons Obsession für Augen gepackt?
„Ich habe mit der mitgefiebert, hab die Protagonistin, die dann gewalttätig wird und auch diese Augen isst, ich hab die so angefeuert. Und gedacht, endlich geht es andersrum und es wird nicht wie in all diesen eine Million True-Crime-Podcasts-irgendein-Mann-ermordet-junge-schöne-Frauen, das war alles so umgedreht.
Da konnte man so eine weibliche Wut kanalisieren. Das fanden wir alle total toll und dann haben wir gedacht, das ist genau der richtige Aufmacher für unser Programm, weil das so zeigen soll, dass wir nicht ein Romance- und Fantasy-Verlag nur sind, sondern relativ breit gehen wollen.“
Wütende „Weird girls“
Und sie folgen damit einem Trend: Wütende „Weird girls“, also seltsame Mädchen erobern die Popkultur. Sie sind die Antiheldinnen zum dezenten, lieben und hübschen Vanilla-Girl, zum Clean-Girl, zu den Tradwifes. Frauen, die sich nicht anpassen. „Weird Girls“, etwa wie in den Romanen von Ottessa Moshfegh oder auch bei Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang.
Autorin Monika Kim geht mit ihrer Protagonistin Ji-won noch einen Schritt weiter: Ji-wons Obsession für blaue Augen ist definitiv „weird“. Sie träumt ständig von ihnen, malt sich aus, wie sie wohl schmecken würden, während sie sich von hartgekochten Eiern und kleinen Kirschtomaten ernährt. Ji-wons zunehmende Obsession zeichnet Monika Kim in einer langsamen emotionalen Abwärtsspirale.
Ji-won isoliert sich zunehmend von ihrer Familie und hat Schwierigkeiten, an der Universität mitzukommen. Ihre Sehnsucht nach blauen Augen wird sehr konkret, als Ji-won auf ihr erstes, zufälliges Opfer trifft: Ein Obdachloser, den sie tot auffindet.
Ich erwarte, dass das Auge einfach herausspringt, so wie ich es mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Aber selbst nachdem ich um die Augenhöhle herumgeschnitten und den Hautfetzen entfernt habe, der als Lid diente, bewegt sich der Augapfel keinen Zentimeter. Ich hole tief Luft und grabe ihn mit den Fingernägeln aus. Schließlich reißt der Sehnerv und meine Finger umklammern ein triefendes Etwas.
Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen
Ji-won verspeist den Male Gaze
Wenn dieser Horror in „Das Beste sind die Augen“ einsetzt, kennt Monika Kim kein Pardon. Nach 200 Seiten wird die Träumerin Ji-won zur Serienmörderin. Und entwickelt ihr Können: das Entnehmen blauer Augen.
Anders als Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho” tötet Ji-Won nicht aus reiner Langeweile oder Lust. Ihre Geschichte ist die einer jungen, migrantischen Frau, ohne eine stabile Familie und ohne finanzielles Sicherheitsnetz. Eine Frau mit koreanischen Wurzeln, die für weiße Männer nie Mensch, sondern immer nur Objekt ist.
Ji-won macht diese Erfahrung sowohl zuhause mit George als auch an ihrer Uni. Dort lernt sie einen Kommilitonen kennen, der sich zunächst als besonders freundlicher und aufgeklärter Verbündeter gibt. Bis er immer mehr Ansprüche gegenüber Ji-won stellt. Je mehr sie sich ihm entzieht und nicht dem rassistischen Klischee einer dankbaren, immer verfügbaren asiatischen Frau entspricht, desto besitzergreifender wird er.
Als Serienmörderin übt Ji-won Rache am Male Gaze, indem sie wortwörtlich den männlichen Blick verspeist.
Tränen kullern über meine Wangen. Ich fahre mit der Zunge über das Auge, durchbreche die harte äußere Hülle. Es knirscht und knistert und ich muss an die knusprig gebratene Fischhaut zwischen den Zähnen meiner Mutter denken.
Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen
„Female Rage“ – Rache am Patriarchat
„Female Horror“, „Body Horror“ oder „Female Rage“ – es gibt viele Begriffe für diese Genre: Filme oder Bücher, in denen Frauen nicht das schöne, passive Opfer sind, sondern zu Täterinnen werden. Körper und Körperbilder werden hier im wahrsten Sinne des Wortes aufgebrochen. Mit einer großen Lust am Ekel und am Schock sprengen die Täterinnen ihre weibliche Sozialisierung.
In Zeiten, in denen Gewalt gegen Frauen stark zunimmt und rechte Kulturkämpfer Frauenrechte mit Füßen treten, bietet diese Popkultur eine Gegenerzählung an. „Good for her“ – „Gut für sie“ heißt es, wenn in dieser neuen Genre-Literatur eine Heldin wie Ji-won etwas tut, das moralisch absolut verwerflich ist, für sie persönlich aber ein Moment der Befreiung.
Weil sie ihre Wut nicht runterschluckt, sondern radikal rauslässt. Auch für Leserinnen kann das befreiend sein, meint Mona Lang von „kiwi sphere“: „'Das Beste sind die Augen' zu lesen hat für mich ein empowerndes Moment. Auch wenn ich niemandem dazu raten würde das zu tun, was die Hauptfigur tut.
Aber diese Fetischisierung, die ja stattfindet im Buch, der etwas entgegensetzen. Weil es ist ja nicht leicht, das ist ja eine strukturelle Ebene. Und was willst du als Einzelne asiatisch-amerikanische Frau wie jetzt Ji-won dem entgegensetzen? Und dass sie überhaupt etwas findet, das sie entgegensetzt, finde ich ein total empowerndes Moment für Frauen.“
Monika Kim öffnet uns die Augen
Am Ende des Romans plant Ji-won, Rache an demjenigen zu üben, der für sie schuld am Unglück ihrer Familie ist: Ihr Vater. Für Sigmund Freud ist der Vatermord grundlegend für die Kultur-Entwicklung. Bei Freud sind es allerdings immer die Männer, die „Bruderhorde“, die den Vatermord verüben.
Was sich der Vater der Psychoanalyse nicht vorstellen konnte: Frauen und queere Menschen, die sich an Patriarchen und am Patriarchat rächen. Ob Female Rage, die weibliche Rache in der Popkultur, so revolutionär werden kann wie damals Freuds Theorie vom Vatermord? Monika Kim öffnet uns jedenfalls die Augen, dass Frau durchaus durchtrieben und bösartig sein darf. Zumindest in der Fantasie.