CIW - Folge 143 - 09.07.2025 - Zweite Klasse
- Wir begrüssen auch die niederen Kasten zur Folge 143 von "Captain it's Wednesday", dem Podcast über Freie Software und Freie Gesellschaft, aufgenommen am 7. Juli von Lioh Möller und Ralf Hersel. In dieser Folge sprechen wir über den zunehmenden Ausschluss von freien Menschen aus der digitalen Gesellschaft.
Hausmitteilungen
- Für ihre Spenden bedanken wir uns herzlich bei: Michael, Siegmund, Sören, Albrecht, Andris, Folker, Ingmar, Edmund, Florian, Michel, Rolf, Klaus-Dieter, Dirk, Remo, Torsten, sowie allen anonymen Spendern und unserem neuen Sponsor, der Heinlein GmbH.
- Ein Dank gilt auch unserem CORE-Team und den Teilnehmenden aus der Community, die während meiner Abwesenheit drei Podcast-Folgen produziert haben.
Thema: Digitale Zweiklassengesellschaft
- Was heisst denn "Klassengesellschaft"? Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt:
"Der Begriff kam im 19. Jahrhundert auf. Mit dem Begriff ist die Vorstellung verbunden, dass man die Bevölkerung eines Landes in unterschiedliche Gruppen oder Klassen aufteilen kann. Als Beispiel dafür wurde das Bild einer Pyramide gebraucht. Den Sockel bildet die Klasse der Land- und Fabrikarbeiter, die auch "Arbeiterklasse" genannt wurde. Diese Menschen mussten für wenig Lohn sehr hart arbeiten. Darüber folgte die Klasse der Handwerker und Gewerbetreibenden, der kleinen Beamten und Angestellten. Darüber waren die "Besitzbürger". Darunter verstand man diejenigen, denen Land gehörte, die Eigentum besaßen. Das waren Fabrikbesitzer, leitende Angestellte oder auch Beamte. An der schmalen Spitze der Pyramide fand man die wirklich reichen Leute. Sie konnten allein von den Zinsen ihres Kapitals leben und beeinflussten aufgrund ihres Reichtums die Wirtschafts- und Finanzwelt ebenso wie die Politik." - In einer digitalen Gesellschaft kann man die Pyramide auf den Kopf stellen. Ganz oben befindet sich die breite Bevölkerung, die sich konform bezüglich des verwendeten Betriebssystems verhält. Google (mit Android und dem PlayStore) und Apple (mit iOS und ihrem AppStore) bestimmen, ob und welche Dienste genutzt werden können. Für die Nutzer:innen von freien Betriebssystemen wird es immer dünner. Sie befinden sich an der dünnen Spitze der Pyramide, ganz unten. Solche Anwender:innen haben keine Lobby, weil sie im Gegensatz zur normalen Pyramide ganz wenige sind.
App-Zwang
Ein Nebenthema ist der App-Zwang, also die ausschliessliche Bereitstellung von Informationen und Dienstleistungen über Smartphone-Apps. Beispiele:
- Authentifizierung beim Online-Banking
- Tickets für den öffentlichen Verkehr
- Packstationen
- Bonusprogramme bei der Deutschen Bahn und im Einzelhandel
- Museumsführer (z.B. Guggenheim Museum in Bilbao)
Probleme:
- Registrierungszwang
- Schlechter Datenschutz
- PlayStore, AppStore als Voraussetzung
- Fehlende Alternativen; keine Wahlfreiheit
Lösung:
Hier ist die Politik gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die Verbraucherrechte schützen und echte Alternativen zu digitalen Monopolen ermöglichen. Ob solche Maßnahmen realistisch zu erwarten sind, ist allerdings fraglich – denn in der Vergangenheit hat die Politik meist nur halbherzig oder zu spät auf solche Entwicklungen reagiert.
Custom ROMs sind hierfür nur bedingt eine Lösung, wie wir gleich sehen werden.
Wenn die App nicht mehr funktioniert
Wer dem Würgegriff der kapitalistischen Ökosysteme entfliehen will, hat die Möglichkeit, ein von Google befreites Android (Custom ROM) wie GrapheneOS, CalyxOS, e/OS oder weitere zu installieren. Zudem gibt es auch reine Linux-Systeme für das Smartphone, wie UbuntuTouch, PostmarketOS, Sailfish, Mobian, PureOS oder PlasmaMobile. Letztere verwenden Paketmanager, wie man sie von den Desktop-Distributionen kennt. Die Android-basierten Custom ROMs bieten F-Droid und weitere AppStores an, aus denen sich 90 % der App-Anwendungsfälle abdecken lassen. Bei e/OS kommt die AppLounge zum Einsatz, in der mehrere alternative AppStores kombiniert werden. Damit ist es möglich, Apps zu installieren, die nur über den Google PlayStore verfügbar sind. Hierbei wird die App mit einem anonymen Account installiert (Aurora).
Es sind oft die wichtigen Apps, bei denen man die AppStores von Google und Apple nur schwer umgehen kann. Dabei handelt es sich meist um Banking-Apps oder um Anwendungen für den öffentlichen Verkehr. Hier sind zwei Beispiele:
Twint ist eine in der Schweiz sehr populäre Mobilanwendungen zum Zahlen im Einzelhandel und für die Geldüberweisung zwischen Personen. Diese Lösung der privatwirtschaftlichen Twint AG wird (als gebrandete Versionen) von allen Schweizer Banken, im Gross- und Einzelhandel, sowie im Gastronomiebereich breit unterstützt. Ein vergleichbarer Zahlungsdienst im europäischen Raum ist Wero, welcher sich noch in der Startphase befindet.
Bis vor einem Jahr konnte man die Twint-App in der Version seiner eigenen Bank auf einem Google-freien Smartphone installieren. Irgendwann funktionierte die App nicht mehr. Statt einer aussagekräftigen Fehlermeldung erhielt man eine flackernde App, die sich nur mit brachialen Methoden beenden liess. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, woran es liegt. Aktuelle Versionen der Twint-App verlangen, dass man bei den Google Play-Services angemeldet ist. Entweder man hat einen richtigen Google-Account oder die App läuft nicht mehr.
Alternative kann man die Prepaid-Variante von Twint installieren. Dieses erfordert ein aufwendiges Identifikationsverfahren: Selfie mit Personalausweis, was bei mir bisher nicht funktioniert hat. Ob die Anwendung nach Abschluss der Identifikation läuft, kann ich noch nicht sagen.
Eine weitere App, die in der Schweiz im öffentlichen Verkehr unverzichtbar ist, ist SBB Mobile. Diese Anwendung lief seit Jahren einwandfrei auf entgoogleten Android Geräten. Seit Kurzem zeigt die App zwei Auffälligkeiten:
- Beim Start der Anwendung muss jedes Mal die Datenschutzerklärung akzeptiert werden. Früher war das nur einmalig nach der Installation notwendig.
- Ausserdem erscheint nach dem Start der SBB-App neuerdings eine Warnmeldung:
SBB Mobile
Google Play-Dienste aktualisieren
SBB Mobile wird nur ausgeführt, wenn du die Google Play-Dienste aktualisierst.
Diese Meldung ist nur halb wahr. Die normalen Funktionen laufen weiterhin. Doch beim Einrichten einer Pendlerstrecke bricht die Anwendung mit Fehlercode VXA-7008 ab. Ähnliches geschieht, wenn man EasyRide (Hop-on, Hop-off Service) einrichten möchte.
Weitere Apps, die ohne Google-Konto nicht funktionieren, sind: Ebay und Fraenk.
Gründe
Als ein Grund wird häufig die DSGVO-Konformität genannt. Insbesondere geht es um TCF 2.2. Das Transparency and Consent Framework ist ein Standard des Interactive Advertising Bureau Europe, der die Einholung und Übermittlung von Nutzereinwilligungen für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Online-Marketing regelt. Ziel ist es, die Anforderungen der DSGVO zu erfüllen und eine standardisierte, transparente Abfrage und Verwaltung von Nutzerentscheidungen zu ermöglichen.
In deren Rahmen musst Du als Nutzer:in bestätigen, dass du die Nutzungsbedingungen der App einhältst. Das Argument lautet, dass die App ohne ein Google-Konto keine Informationen über dich hat und die App deshalb ihren Dienst verweigern darf.
Als weiteren Grund liest man, dass Entwickler gerne auf die vorhandenen Google Play-Services zugreifen, z. B. für die Altersverifikation oder die Standortbestimmung, weil es zu aufwendig ist, diese Dienste selbst zu entwickeln. Hier kommt MicroG ins Spiel, welches eine quelloffene Alternative zu den Google-Play-Diensten ist. MicroG unterstützt in der aktuellen Version auch den SafetyNet-Nachfolger Play Integrity, der oft als Grund für das Nichtfunktionieren von Apps genannt wird. Allerdings ist dies auf meinem /e/OS-Smartphone aktiviert, aber die genannten Apps laufen trotzdem nicht.
Falls euch noch weitere Gründe bekannt sind, dann schreibt diese bitte in die Kommentare.
Ausblick
Rechtlich gegen Digitalzwang vorzugehen, ist nicht einfach. Der deutsche Gesetzgeber schreibt weder Privatunternehmen noch Behörden vor, dass ihre Angebote auch ohne digitale Technik nutzbar sein müssen. Nach dem in § 311 BGB normierten Grundsatz der Privatautonomie dürfen Unternehmen normalerweise selbst bestimmen, gegenüber wem und zu welchen Konditionen sie ihre Angebote machen.
Sich auf Grundrechte wie das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 3 GG zu berufen, führt gegenüber privaten Anbietern meistens nicht weit: Grundrechte sind als Rechte gegenüber den staatlichen Gewalten konzipiert, nicht gegenüber privaten Adressaten. Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn Bürger auf Leistungen der Daseinsvorsorge dringend angewiesen sind. Typische Beispiele sind Stromversorgung, Post, Telefon, Verkehrsunternehmen und die Müllabfuhr.
Das Netzwerk Datenschutzexpertise hat Ende 2024 auf Initiative des Vereins Digitalcourage ein Rechtsgutachten zu der Frage vorgelegt, unter welchen Voraussetzungen ein Anspruch auf eine analoge Alternative abzuleiten ist. Das Gutachten legt dar, dass die Forderung nach analogen Alternativen aus unserem Grundgesetz und der europäischen Grundrechtecharta abzuleiten ist. Es sei sinnvoll, ein Verbot digitaler Diskriminierung verfassungsrechtlich zu fixieren.
Bezüglich der nicht mehr funktionierenden Apps kann man davon ausgehen, dass sich dieses Problem ausweiten wird und weitere Apps nicht mehr laufen werden. Dies trotz alternativer Betriebssysteme. Leider sind oft solche Apps betroffen, zu denen es keine wirklichen Alternativen gibt, z. B. Banking und öffentlicher Verkehr.
Falls euch Lösungen für dieses wachsende Problem einfallen, schreibt sie bitte in die Kommentare.
Outro
- Euer Feedback ist uns wichtig. Ihr könnt uns über Matrix, Mastodon oder per E-Mail erreichen. Die Adressen findet ihr auf unserer Webseite.
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Quellen
- https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/320630/klassengesellschaft/
- https://www.kuketz-blog.de/kommentar-digitale-erpressung-der-unaufhaltsame-vormarsch-des-app-zwangs/
- https://www.heise.de/hintergrund/Ohne-App-geht-nix-Ein-rechtlicher-Blick-auf-den-Digitalzwang-9576044.html
- https://taz.de/Recht-auf-analoges-Leben/!6009956/
- https://digitalcourage.de/digitalzwang/definition
- https://digitalcourage.de/blog/2024/rechtsgutachten-digitalzwang
- https://www.netzwerk-datenschutzexpertise.de/sites/default/files/pe_2024_digitalzwang.pdf
- https://de.wikipedia.org/wiki/Twint
- https://de.wikipedia.org/wiki/Wero_(Zahlungsdienst)
- https://discuss.grapheneos.org/d/18761-twint-not-working-anymore
- https://play.google.com/store/apps/details?id=ch.sbb.mobile.android.b2c&hl=de
- https://www.dr-datenschutz.de/online-werbung-tcf-2-0-verstoesst-gegen-dsgvo/
- https://de.wikipedia.org/wiki/MicroG