In diesem Buch, so schreibt Helga Schubert im Vorwort, möchte sie von den Übergängen des Lebens erzählen. Sie will Menschen in ganz verschiedenen Lebensphasen erreichen: vom angehenden Erwachsenen bis hin zu ihrer eigenen Generation, die schon viele Jahrzehnte gelebt hat.
Die erste Erzählung, einer der stärksten im Buch, wurde 1980 veröffentlicht. Helga Schubert ist viel zu jung Mutter geworden – gestresst und überfordert.
Ich musste immer an Brot denken, an Butter, an Milch, an Schularbeiten, Elternversammlung. Ich habe so viele Essen gekocht und so viele Pullover gewaschen und so viele Windeln, die froren nachts auf dem Hof.
Ich habe das Kind bedrückt mit meinen Erwartungen, meinen Wünschen, war enttäuscht und entmutigt und habe es so zärtlich geliebt, wenn es im Bett lag und schlief. Und ich habe mich geschämt, weil ich keine sanfte Mutter war, keine zärtliche weiche. Aber dies Kind war wie mein Arm. Den streichle ich auch nicht, den hab ich.
Quelle: Helga Schubert – Luft zum Leben
Das Gefühl, nicht gewollt zu sein
Das Thema vom unerwünschten Kind beschäftigte Helga Schubert also schon vor 65 Jahren ähnlich stark wie später in ihrem Erfolgsroman „Vom Aufstehen“, in dem sie die eigene Zurückweisung durch ihre kriegstraumatisierte Mutter verarbeitete.
Das Gefühl, nicht gewollt zu sein – Helga Schubert weiß, wie es sich anfühlt und was es in einem Menschen anrichtet. Deutlich spricht sie sich in einer Geschichte, eigentlich mehr ein Statement, für die Streichung des Paragrafen 218 aus.
In einer anderen Erzählung geht es um das Sterben, den Tod ihrer beiden Großmütter. Eine stirbt qualvoll an Krebs, die andere, eigentlich jugendlichere, fittere, ist nach Schlaganfällen nur noch ein Schatten ihrer selbst, will nicht mehr leben.
Sie weinte mit ihrer einen Gesichtshälfte, zog mich mit ihrem einen Arm zu sich, ich roch das Krankenhaus an ihr, aber auch die vertraute Seife. „Euthanasie, flüsterte sie beschwörend, ich will tot sein, bitte bring mir Gift, ich bin 81, bitte, bitte, ich will schnell sterben.
Quelle: Helga Schubert – Luft zum Leben
38 Texte enthält der Band „Luft zum Leben"
38 Texte enthält der Band „Luft zum Leben“, die Hälfte bisher unveröffentlicht. Manchen hat sie mit Erklärungen vorangestellt, damit die Leserinnen und Leser verstehen, warum sie in der DDR nicht erscheinen durften.
Nicht jede Geschichte in diesem Erzählband funktioniert heute noch gut, manche wurde einfach von der Zeit überholt. In „Ein Feuerwerk in Berlin“ reflektiert Helga Schubert über die Grenzen von Ost – und Westberlin, erinnert sich an politische Paraden und Zeremonien – das liest sich eher wie ein zeithistorisches Dokument, als ein literarisch berührender Text.
Der „Helga Schubert -Ton“
Geschrieben hat Helga Schubert die Erzählungen zwischen 1960 und 2025 – es sind kluge, detaillierte Beobachtungen und Gedanken, manchmal sehr kurz, mehr wie eine Notiz.
Den „Helga Schubert -Ton“ erkennt man gleich: kurze Sätze, schlicht und klar – durchzogen von feinem, trockenen Humor – der einen nicht laut losprusten lässt, sich eher durch Understatement und einen ironischen Blick auf den Alltag auszeichnet.
Wie in der Geschichte in der es um einen Besuch in West-Berlin, den ersten nach 17 Jahren geht. Helga Schubert läuft durch die Straßen, landet schließlich in einer feministischen Buchhandlung – ein Konzept, dass der „Ostfrau“ fremd ist:
Ich gehe hinein und komme mir in diesem Moment ganz privilegiert vor als Frau. Ich muss wohl wirklich eine Frau sein, denn sie werfen mich nicht wieder hinaus.
Eine Frau im Jugendstil, krauses schulterlanges Haar und fließendes Gewand, fragt, ob sie mir helfen kann. Ich will wissen, ob Männer wirklich nicht reindürfen. Sie bejaht.
Und warum?
Das ist ausdiskutiert.
Ich verstehe es nicht.
Wenn du ein wenig darüber nachdenkst, kommst du von selbst drauf, antwortet sie mit rätselhaftem Lächeln.
In dem anschließenden Raum sitzen schöne Mädchen und trinken Tee. Die Zeitschriften darf man sich ansehen: Emma, Courage, Lesbenpost – Lesbe, wo bist du?
Ihnen hab ich gesagt, wo ich her bin. Ein guter Rat, sag nicht BRD, sagt ein Mädchen sanft zu mir. Das sagen hier nur Kommunisten.
Quelle: Helga Schubert – Luft zum Leben
Geschichten aus der DDR
In vielen Geschichten geht es um den DDR-Alltag mit seinen Repressionen und kleinen Absurditäten. Sie zeigen das Leben in der DDR als ein System permanenter Beobachtung, bürokratischer Eingriffe und innerer Verunsicherung.
Viele Jahre hat Helga Schubert in Ost-Berlin als Psychotherapeutin gearbeitet und nebenher geschrieben. Man kann die Enge herauslesen, die Sehnsucht nach Freiheit, nach dem Reisen. Und ihre Freude, als es endlich so weit war – auch der Mauerfall: ein Übergang.
Und wenn Gleichaltrige nach dem Ende der DDR traurig sagten, es ist zu spät, das Ende kam zu spät, ich bin zu alt zum Reisen, zu alt, um noch einmal neu anzufangen, habe ich immer an das gesprungene Herz gedacht und gesagt man muss ja nicht unbedingt noch zu zweit mit einem Boot über den Atlantik segeln, mir reicht schon die endlich offene Welt.
Quelle: Helga Schubert – Luft zum Leben
Außergewöhnlich beständiger Blick auf das Menschliche
„Luft zum Leben" zeigt, wie außergewöhnlich beständig Helga Schuberts Blick auf das Menschliche geblieben ist. Ihre Texte, selbst die ältesten, sind jene Mischung aus Empathie und analytischer Klarheit, die ihr Schreiben immer ausgezeichnet hat.
Damit sind diese Erzählungen nicht nur ein Rückblick, sondern auch eine Fortsetzung. Helga Schubert weiß, dass jedes Ende auch ein neuer Anfang ist – nichts ist abgeschlossen, alles bleibt in Bewegung.