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By Florian Freistetter
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The podcast currently has 636 episodes available.
Sternengeschichten Folge 625: Przybylskis Stern - Fabrik für exotische Elemente oder Alienmüllhalde?
Am 4. März 1961 hat der polnisch-australische Astronom Antoni Przybylski einen Fachartikel veröffentlicht, der den relativ harmlosen Titel "HD 101065-a GO Star with High Metal Content" trägt. Also übersetzt: "HD 101065- ein GO Stern mit hohem Metallgehalt". Das klingt nicht sonderlich aufregend, zumindest dann, wenn man weiß, dass in der Astronomie das Wort "Metall" etwas anderes bedeutet als im normalen Sprachgebrauch. Aber dazu kommen wir später noch. Aber tatsächlich ist der Stern, den Przybylski entdeckt und in seiner Arbeit beschrieben hat, definitiv enorm aufregend. So aufregend, dass die Forschung auch mehr als 60 Jahre später immer noch jede Menge offene Fragen hat, was dieses Ding angeht.
Aber fangen wir mit dem an, was wir definitiv wissen. Der Stern wurde am 26. April 1960 von der Mount Stromlo Sternwarte in Australien aus beobachtet. Er ist knapp 360 Lichtjahre von der Erde entfernt und dort am Himmel, wo sich das Sternbild Zentaurus befindet. Er hat die 1,4fache Masse der Sonne, ist doppelt so groß und leuchtet circa 5,5mal heller. Przybylski hat damals nicht gezielt nach seltsamen Sternen gesucht, er wollte Sterne finden, die sich schnell bewegen und dafür hat er diverse Sterne aus dem Henry-Draper-Katalog im Detail beobachtet. Er hat ihr Spektrum bestimmt; hat also das Licht der Sterne das durch sein Teleskop gefallen ist, mit optischen Instrumenten in seine Bestandteile aufgespalten, um zu sehen, wie viel Energie das Licht bei bestimmten Wellenlängen hat. Das ist eine Standardtechnik in der Astronomie, die ich ja schon sehr oft im Podcast erklärt habe. Im Spektrum eines Sterns gibt es immer Bereiche, wo bei bestimmten Wellenlängen quasi gar nichts durchkommt. Das ist das, was man "Spektrallinien" nennt, weil dort in der visuellen bzw. grafischen Darstellung des Spektrums eine dunkle Linie zu sehen ist. Welche Spektrallinien zu sehen sind, hängt davon ab, aus welchen Elementen ein Stern besteht, denn jedes chemische Element blockt andere Wellenlängen des Lichts ab. Und wo genau man die Linie im Spektrum sehen kann, hängt davon ab, wie schnell sich die Lichtquelle, also der Stern, bewegt. Deswegen hat sich Przybylski die Spektren angesehen und deswegen hat er auch entdeckt, dass dieser eine Stern eine ganz besondere chemische Zusammensetzung hat.
Der Stern hat vor allem sehr viele Metalle, womit in der Astronomie alles bezeichnet wird, was kein Wasserstoff und kein Helium ist. Wasserstoff und Helium sind mit sehr, sehr großem Abstand die häufigsten Elemente des Universums und damit auch die Elemente, aus denen Sterne fast komplett bestehen. Alles andere - also Zeug wie Kohlenstoff, Sauerstoff, Gold, Silber, Eisen, usw, der ganze Rest des Periodensystems - wird in der Astronomie mit dem Begriff "Metalle" zusammengefasst, war zwar verwirrend und aus chemischer Sicht Quatsch ist, aber sich nun mal eben historisch so eingebürgert hat.
Sterne, die viele Metalle enthalten, sind jetzt erst mal nicht außergewöhnlich. Die Sonne enthält auch Metalle, genau so wie alle anderen Sterne, die wir bis jetzt beobachtet haben. Nur die allerersten Sterne, die im Universum entstanden sind, können keine Metalle enthalten haben, denn damals gab es ja nur Wasserstoff und Helium, wie ich in Folge 454 der Sternengeschichten erzählt habe. Die ganzen anderen chemischen Elemente sind ja erst durch Kernfusion im Inneren der Sterne erzeugt worden. Je später ein Stern in der Geschichte des Universums entstanden ist, desto mehr Metalle kann er - theoretisch - enthalten. Es kommt aber nicht nur auf die Menge der Metalle an, sondern auch auf die Art. Und das ist genau das, was die Leuten bei Przybylskis Stern bis heute irritiert. Przybylski selbst konnte damals unter anderem Barium und Strontium nachweisen und das in ungewöhnlich großen Mengen. Außerdem viele der sogenannten "seltenen Erden". Mittlerweile weiß man, dass man es dort Caesium gibt, Holmium, Niob, Scandium, Yttrium, Neodym oder Praesodym. Von dem Zeug gibt es dort mehr als man eigenlich erwarten würde. Es gibt außerdem Hinweise darauf, dass Przybylskis Stern viele Actinoide enthält, also chemische Elemente die im Allgemeinen radioaktiv und darüber hinaus sehr kurzlebig sind. Thorium und Uran hat man definitiv gefunden, aber auch Indizen für Actinium, Protactinium, Neptunium, Plutonium, Americium, Curium, Berkelium, Californium und Einsteinium. Mit den meisten dieser Elemente hat man es im Alltag so gut wie nie zu tun, sie kommen eigentlich auch nicht natürlich vor. Elemente wie Neptunium, Plutonium, Americium, Curium, Berkelium, Californium und Einsteinum haben wir in kernphysikalischen Laboren oder bei der Explosion von Kernwaffen entdeckt; die liegen nicht einfach irgendwo rum. Und sie liegen deswegen nicht irgendwo rum, weil sie eben so stark radioaktiv sind und nach sehr kurzer Zeit wieder zerfallen. Einsteinium hat zum Beispiel im besten Fall eine Halbwertszeit von 472 Tagen. Das heißt, selbst wenn ein Stern aus irgendeinem Grund bei seiner Entstehung eine relevante Menge dieses Elements von irgendwoher mitbekommen hat, ist davon nach ein paar Millionen Jahren definitiv nichts mehr übrig.
Przybylskis Stern ist auf jeden Fall über eine Milliarde Jahre alt; wenn wir heute dort solche Elemente wie Einsteinium finden, stimmt also irgendwas nicht. Es ist aber immer noch umstritten, ob man Einsteinium wirklich nachweisen konnte. Das liegt vor allem daran, dass wir hier auf der Erde nicht genug Einsteinium für die Forschung haben, um zu wissen, welche Art von Spektrallinien es im Detail produziert. Beim Element Promethium sieht es aber anders aus; das kennen wir hier auf der Erde und nutzen es zum Beispiel in der Raumfahrt als Energiequelle. Und man hat es auch relativ sicher in Przybylskis Sterns nachgewiesen. Promethium hat aber im besten Fall eine Halbwertszeit von knapp 18 Jahren; die Lage ist also nicht viel besser als beim Einsteinium.
Also: Was ist da los? Wie kommt dieser Stern an so eine seltsame Sammlung chemischer Elemente und wieso sind dort Elemente, die eigentlich schon längst zerfallen sind. Die kurze Antwort ist: Keine Ahnung. Die längere Antwort lautet: Keine Ahnung, aber wir haben zumindest ein paar spannende Ideen. Es könnte zum Beispiel sein, dass Przybylskis Stern nicht alleine ist, sondern einen Begleiter hat. Dieser Begleiter könnte ein Neutronenstern sein, also der Überrest eines ehemaligen, großen Sterns. So ein Neutronenstern könnte Teilchen mit hoher Geschwindigkeit ins All schleudern, die dann, wenn sie auf Przybylskis Stern treffen, die entsprechenden radioaktiven Elemente erzeugen. Bis jetzt haben wir so einen Neutronenstern aber noch nicht nachgewiesen. Das heißt nicht, dass es ihn nicht gibt, aber wenn es ihn gibt, muss er sich in einer speziellen Umlaufbahn befinden, um sich so lange vor uns verstecken zu können.
Trotzdem ist das fast noch die plausibelste Erklärung. Eine andere lautet nämlich so: Wir wissen zwar, dass die chemischen Elemente tendenziell immer instabiler werden, je mehr Kernteilchen sie enthalten. Also Atome wie Wasserstoff, mit nur einem Proton als Kernbaustein oder Sauerstoff mit 8 Protonen und 8 Neutronen sind stabil und zerfallen nicht und Elemente wie Einsteinium mit 99 Protonen und mindestens ebenso vielen Neutronen sind hoch radioaktiv und zerfallen schnell. Es gibt aber die Theorie einer "Insel der Stabilität", laut der, vereinfacht gesagt, Elemente existieren können, die ein bisschen stabiler sind, wenn die Zahl der Kernbausteine noch höher wird. Sie zerfallen zwar auch irgendwann, aber überleben deutlich länger. Wenn es diese Insel der Stabilität im Periodensystem gibt, dann könnte es entsprechende Elemente in Przybylskis Stern geben, die im Laufe der Zeit langsam zerfallen und als Zerfallsprodukte die beobachteten Elemente wie Einsteinium oder Promethium produzieren. Und weil dieser Zerfall der superstabilen Elemente kontinuierlich abläuft, wird eben auch dauernd neues Material als Zerfallsprodukt nachgeliefert. Das ist als Hypothese schon wild genug, aber man muss auch irgendwie erklären, wie ein Stern an solche Elemente kommt. Der Vorschlag: Vielleicht gibt es spezielle Arten von Supernova-Explosionen, die sie produzieren und dann durchs All schleudern.
Oder vielleicht sind die superstabilen Elemente eh auch häufig in Sternen, aber wir kriegen sie nur in Ausnahmefällen zu sehen. Przybylskis Stern ist nämlich auch ein sogenannter roAp-Stern, ein Rapidly oscillating Ap star oder "schnell oszillierenden Ap Stern". Ich erkläre jetzt nicht im Detail, was das bedeutet, aber kurz gesagt: Der Stern ändert seine Helligkeit schnell und das deutet darauf hin, dass in seinem Inneren auch jede Menge an Dynamik abläuft, die es anderswo nicht gibt. Vielleicht werden die komischen Elemente nur bei solchen Sternen so weit aus dem Kern nach oben transportiert, dass wir sie mit spektroskopischen Methoden nachweisen können. Wie gesagt: Wir haben noch zu wenig Ahnung.
Und wenn man keine Ahnung hat, kann man es natürlich auch immer mit einer anderen Antwort probieren: Aliens! Tatsächlich wurde auch schon vorgeschlagen, dass Außerirdische die ganzen obskuren Elemente absichtlich in Przybylskis Stern gekippt haben. Warum? Vielleicht weil sie so auf sich aufmerksam machen wollten - was ja dann auch recht gut funktioniert hätte. Oder vielleicht haben sie auf diesem Weg versucht, ihren radioaktiven Müll loszuwerden, aber dann müssten sie SEHR viel von diesem Müll haben. Gut, bei Aliens ist alles möglich, das ist ja das praktische und gleichzeitig das blöde, wenn man sie als Erklärung für irgendwas heranziehen will.
Am Ende bleibt ein Stern, der ohne jeden Zweifel nicht so ist wie andere Stern. Ein Stern, der chemische Elemente enthält, die uns vor ein Rätsel stellen. Ein Stern, der uns die Entdeckung chemischer Elemente ermöglichen könnte und vielleicht einer ganz neuen Art von Chemie und Kernphysik. Es könnte ein Stern sein, der uns den Kontakt zu Aliens ermöglicht. Oder zumindest zu ihren Müllkippen…
Sternengeschichten Folge 624: Was ist eine Singularität?
Das Wort "Singularität" klingt irgendwie aufregend. Und ursprünglich stammt es ja auch vom lateinischen Begriff "singularis", der "einzigartig" bedeutet. Etwas einzigartiges ist immer spannend. Und in der Wissenschaft werden mit "Singularität" jede Menge einzigartige, spannende und faszinierende Themen bezeichnet. Ich möchte aber heute nicht über die Singularität in der Meteorologie reden, womit ungewöhnliche Abweichungen vom üblichen Wetter bezeichnet werden, auch nicht von geographischen Singularitäten, also irgendwelchen auffälligen Bergen, die mitten in der flachen Landschaft stehen oder so. Ich möchte auch ganz explizit nicht über die technische Singularität sprechen, wo ja irgendwelche Leute mit mehr oder meistens weniger guten Argumenten behaupten, das irgendwann in Zukunft eine unvorstellbar mächtige Künstliche Intelligenz die Welt übernimmt. Das sind zwar auch alles interessante Themen, aber in diesem Podcast geht es um die Astronomie und das Weltall, also erzähle ich heute etwas über die astronomischen Singularitäten und die Frage, ob sie auch nackt sein können.
Zuerst müssen wir aber einmal klären, was eine "Singularität" in der Astronomie überhaupt sein soll. Meistens hört man dieses Wort in Verbindung mit schwarzen Löchern, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Ganz allgemein ist eine Singularität ein Ort, an dem die Gravitation so stark ist, dass die Krümmung der Raumzeit divergiert. Da kann man sich aber nicht sonderlich viel vorstellen, also braucht es ein bisschen mehr an Erklärung. Fangen wir mit ein paar sehr groben Vereinfachungen an und nähern uns dann Stück für Stück der Realität. Und der Ort, an dem wir anfangen, ist der Nordpol der Erde. Oder der Südpol, das ist egal, aber wir müssen uns für einen entscheiden, also nehmen wir den Nordpol. Und wenn wir dort angekommen sind, können wir uns fragen, wie unsere Position ist. "Am Nordpol, was sonst!" gilt nicht als Antwort, wir brauchen die geografische Länge und die geografische Breite. Letzteres ist einfach: Wir sind bei 90 Grad Nord, denn genau so ist es am Nordpol definiert. Aber auf welcher Länge sind wir? Also wie weit östlich oder westlich befinden wir uns von der Linie, die man vom Nordpol durch die Sternwarte von Greenwich zum Südpol ziehen kann (denn diese Linie ist der Nullmeridian der Längenmessung)? Die Antwort darauf ist nicht nur schwierig zu finden, es ist unmöglich. Berlin zum Beispiel hat eine geografische Länge von ein bisschen über 13 Grad Ost. Das bedeutet, die Linie, die ich vom Nordpol durch Berlin zum Südpol ziehen kann, liegt 13 Grad östlich des Nullmeridians. Aber auch diese Linie startet eben am Nordpol. ALLE Längengrade der Erde verlaufen durch den Nordpol und den Südpol und diese beiden Punkten haben schlicht keine geografische Länge. Es ist unmöglich, einen Längengrad des Nordpols anzugeben, weil alle Längengrade der Erde dort durchlaufen. Der Nordpol ist in dieser Hinsicht eine Singularität, aber es nicht die Art von Singularität, die in der Astronomie eine Rolle spielt. Der Nordpol ist eine sogenannte Koordinatensingularität, sie ist quasi nicht "echt". Und tatsächlich würden wir auch nichts besonders bemerken, wenn wir am Nordpol stehen - außer dass es sehr kalt ist. Aber dort hört die Erde nicht zu existieren auf; es ist ein Punkt wie jeder andere auf der Erdoberfläche. Die Probleme mit dem Längengrad können wir verschwinden lassen, wenn wir einfach andere Koordinaten als die geografische Länge und Breite verwenden. In der Astronomie haben wir es aber mit einer intrinsischen Singularität zu tun, die man nicht zum Verschwinden bringen kann. Dort IST tatsächlich irgendwas im Raum, dass einzigartig ist; es handelt sich um reale, physikalische Eigenschaften.
Genauer gesagt: Es handelt sich vor allem um eine ganz bestimmte physikalische Eigenschaft, nämlich die Krümmung der Raumzeit. Wir wissen ja seit Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, dass der Raum nicht nur auf besondere Weise mit der Zeit zusammenhängt, sondern auch gekrümmt ist und dass es die Anwesenheit von Masse ist, die dafür sorgt, dass sich die Raumzeit krümmt. Objekte, genau so wie Lichtstrahlen, folgen bei ihrer Bewegung dieser Krümmung und wenn da jetzt zum Beispiel ein Stern ist, wie die Sonne, der mit seiner Masse den Raum krümmt und ein Planet wie die Erde sich in der Nähe des Sterns bewegt, dann sorgt die Raumkrümmung dafür, dass der Planet um den Stern herum läuft. Das sieht so aus wie eine Kraft, nämlich die Gravitationskraft, die der Stern auf die Erde ausübt, in Wahrheit ist es aber ein Resultat der Krümmung des Raums. Soweit ist das alles weder neu, noch hat es etwas mit der Singularität zu tun. Interessant wird es, wenn - wie ich vorhin gesagt habe - die Krümmung der Raumzeit divergiert. Und "divergieren" beziehungsweise "Divergenz" ist ein Begriff aus der Mathematik, der so viel heißt wie "hat keine Grenze".
Was das in unserem Fall bedeutet kann man mit einem nicht ganz so mathematisch exaktem Beispiel erklären. Wenn wir uns anschauen, wie ein Stern entsteht, dann passiert das, in dem eine große Wolke aus kosmischen Gas und Staub in sich zusammenfällt. Die Wolke wird also immer dichter und dichter und dichter - aber hier gibt es irgendwann eine Grenze. Dann nämlich, wenn die Temperatur in der Wolke hoch genug ist, dass Kernfusion einsetzen kann. Die Fusion erzeugt Strahlung, die dringt nach außen, drückt dabei - vereinfacht gesagt - gegen das kollabierende Gas und hält den Zusammenfall auf. Die Dichte erreicht einen von der Temperatur abhängigen Maximalwert und wird nicht größer. Dadurch kann auch die Krümmung der Raumzeit, die der Stern verursacht nicht beliebig groß werden. Wenn wir uns jetzt aber vorstellen, dass es keinen Mechanismus wie die Kernfusion gibt, der den Kollaps der Wolke aufhält und die Materie tatsächlich immer dichter und dichter und dichter wird: Was dann? Dann gibt es keine Grenze, die Dichte der Wolke wird irgendwann in einem Punkt unendlich groß und damit auch die Krümmung der Raumzeit. Das ist gemeint, wenn man sagt, dass die "Krümmung der Raumzeit" divergiert. Und der Ort, an dem so eine unendliche Krümmung auftritt, ist eine Singularität. Die aber, wenn man es mathematisch wieder ein bisschen exakter betrachtet, gar kein "Ort" im eigentlich Sinn ist. Denn auch die Metrik der Raumzeit divergiert dort. Über Metriken habe ich ja in Folge 617 schon gesprochen. Das ist, simpel gesagt, die Art und Weise, wie wir Abstände definieren beziehungsweise die Form des Raums selbst beschreiben. Wenn aber die Metrik selbst in einer Singularität divergiert und nicht definiert ist, dann kann man die Singularität auch nicht als Teil der Raumzeit betrachten. Es ist ein bisschen so wie vorhin beim Nordpol und der nicht definierten geografischen Länge. Nur dass man dieses Problem bei einer Singularität eben nicht einfach mit ein paar mathematischen Tricks verschwinden lassen kann. Im Gegensatz zum Nordpol ist eine Singularität tatsächlich ein Ort, der außergewöhnlich und anders als die anderen Orte im Raum ist.
So weit, so gut. Aber jetzt kann man natürlich fragen, ob das auch wirklich relevant ist. Man kann ja leicht sagen: Die Dichte wird immer größer und größer und größer und die Krümmung der Raumzeit divergiert. Aber nur weil man das sagen und mathematisch formulieren kann, folgt daraus ja nicht, dass es so etwas auch in echt geben muss. Und tatsächlich hat man in der Astronomie die Singularität lange Zeit auch nur als mathematische Kuriosität betrachtet, die in der Realität keine Rolle spielt. Bis dann in den 1960er Jahren die britischen Physiker Roger Penrose und Stephen Hawking kamen.
Eine dieser Situationen ist der Kollaps eines großen Sternes, wie ich ja schon öfter hier im Podcast erklärt habe. Wenn der Stern ausreichend viel Masse hat, gibt es nichts, was verhindern kann, dass er immer weiter in sich zusammenfällt. Und das bedeutet, dass dort die Krümmung der Raumzeit divergiert: Es bildet sich eine Singularität. Das ist aber nicht die einzige Singularität, es gibt auch eine "Anfangssingularität", nämlich den Urknall. Auch unser Modell des gesamten Universums startet aus dem Zustand einer Singularität heraus, die sich ebenso wenig vermeiden lässt, wie die Singularität beim Kollaps eines großen Sterns.
Ein Problem bleibt aber noch: Es kann keine Singularität geben. Im realen Universum kann nicht wirklich ein Punkt existieren, an dem die Massendichte unendlich groß ist. Oder die Krümmung der Raumzeit unendlich groß ist. Zum Zeitpunkt des Urknalls kann die Temperatur nicht unendlich groß gewesen sein. Und so weiter: Unendlichkeiten dieser Art können in der Realität nicht existieren. Lassen wir die Sache mit dem Urknall jetzt mal beiseite und bleiben beim schwarzen Loch. Wir wissen, dass es diese Objekte gibt, das haben wir mittlerweile ohne Zweifel nachgewiesen. Wir wisse aber NICHT, ob da irgendwo wirklich eine Singularität ist. Denn wenn sich ein schwarzes Loch bildet, kommt irgendwann der Punkt, an dem die Dichte und die Krümmung der Raumzeit so groß wird, dass Lichtstrahlen nicht mehr aus ihrer Umgebung entkommen können - und auch sonst nichts. Es bildet sich ein Ereignishorizont um den kollabierenden Stern. Und nur diesen Ereignishorizont können wir von außen beobachten. Da von dahinter kein Licht entkommen kann, sehen wir auch nicht, was dort passiert. Das was dahinter passiert kann den Rest des Universums auch nicht beeinflussen, denn nichts - kein Licht, keine Materie, keine Kraft, gar nichts - kann von innerhalb des Ereignishorizontes nach außen dringen. Es ist fast so, als wüsste das Universum, dass wir ein Problem mit Singularitäten haben und verhindert durch die Existenz eines Ereignishorizontes, dass wir irgendwas davon mitbekommen und nicht einmal wissen, ob da jetzt wirklich eine Singularität ist, oder nicht. Und tatsächlich hat Roger Penrose - der u.a für seine Arbeit am Singularitätentheorem den Physik-Nobelpreis bekommen hat - diese Idee unter dem Begriff "Kosmische Zensur" bekannt gemacht.
Wir könnten uns jetzt also damit abfinden, dass die Frage nach den Singularitäten durch die Naturgesetze quasi zensiert wird und wir uns die Arbeit sparen können, darüber nachzudenken. Aber natürlich haben wir darüber nachgedacht, insbesondere über die Frage, ob es auch "nackte Singularitäten" geben kann. Damit ist eine Singularität gemeint, bei deren Entstehung sich KEIN Ereignishorizont ausbildet. Das klingt erstmal unmöglich, aber man hat schon in den 1970er Jahren zeigen können, dass es das nicht unbedingt ist. Hat man zum Beispiel einen unendlich langen Zylinder, der nicht rotiert und würde DER in sich zusammenfallen, dann würde man eine Singularität bekommen, aber keinen Ereignishorizont. Ok, es gibt keine unendlich langen Zylinder im Universum. Aber man kann auch zeigen, dass manche schwarze Löcher ihren Ereignishorizont verlieren oder gar nicht erst bekommen, zum Beispiel wenn sie sehr, sehr schnell rotieren. Warum das so ist, ist ohne viel Mathematik nicht so einfach zu erklären. Es kommt unter anderem darauf an, ob so ein Kollaps in alle drei Raumrichtungen gleichzeitig erfolgt oder ob die Materie in bestimmten Richtungen nicht oder langsamer kollabiert.
Wenn es tatsächlich nackte Singularitäten gibt, wäre das natürlich super. Denn dann könnten wir - zumindest theoretisch - einfach nachschauen, was da denn jetzt wirklich los ist, wenn die Raumzeit sich scheinbar ohne Grenze immer weiter krümmt und krümmt. Und ich habe jetzt deswegen "scheinbar" gesagt, weil es am Ende ja sehr wahrscheinlich doch so sein muss, dass wir da irgendwas übersehen haben. Es ist offensichtlich, dass wir zwar sehr gut verstanden haben, wie die Gravitation funktioniert, aber wir sie noch ein bisschen besser verstehen müssen. Wenn es um Singularitäten geht, also um Phänomene, bei denen ja nicht nur bestimmte Parameter unendlich groß werden, sondern andere - wie die Ausdehnung - unendlich klein, dann braucht man auch die Quantenmechanik. Wir haben es aber immer noch nicht geschafft, die Beschreibung des Allerkleinsten mit der Beschreibung der Gravitation vernünftig zusammen zu bringen. Beide Theorien widersprechen einander in genau den Bereichen, die wir verstehen müssten, wenn wir verstehen wollen, wie das mit den Singularitäten wirklich ist. Erst wenn wir eine echte Quantentheorie der Gravitation haben, werden wir auch wissen, ob es wirklich Singularitäten im Universum gibt - und ob sie dabei nackt oder angezogen sind.
Sternengeschichten Folge 623: Sample-Return Missionen
Astronomie ist eine Naturwissenschaft, die sich auf eine sehr grundlegende Art von allen anderen Naturwissenschaften unterscheidet. Die Objekte, die in der Astronomie erforscht werden, sind so gut wie immer extrem weit entfernt. In der Geologie kann man durch die Gegend wandern und unterschiedliche Gesteinsschichten direkt vor Ort erforschen. In der Biologie kann man ebenfalls direkt in der Natur arbeiten oder DNA, Mikroorganismen, und so weiter ebenso direkt im Labor untersuchen. Auch Physik und Chemie können das, was sie untersuchen, direkt untersuchen. Aber in der Astronomie geht das nicht. Sterne sind absurd weit entfernt; selbst der nächste Stern - die Sonne - ist 150 Millionen Kilometer von uns entfernt. Das gilt noch viel mehr für ferne Galaxien, und es gilt auch für die Planeten, von denen wir zwar ein paar in unserem eigenen Sonnensystem haben, von denen aber auch fast alle für uns unerreichbar sind. Deswegen ist die Astronomie auch eine Wissenschaft, in der die Optik eine so fundamentale Rolle spielt: Alles, was wir über das Universum wissen, wissen wir nur deswegen, weil wir gelernt haben, das Licht, das uns aus dieser unvorstellbaren Ferne erreicht hat, so genau zu untersuchen wie es sonst keine andere Wissenschaft kann.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Es gibt Meteoriten, die aus dem Weltall auf die Erde gefallen sind. Wir haben es geschafft, ein paar der Himmelskörper des Sonnensystems mit Raumsonden zu erreichen und Forschung direkt vor Ort anzustellen. Wir haben einen dieser Himmelskörper - den Mond - sogar selbst besucht. Aber die überwiegende Mehrheit unserer Information haben wir indirekt aus dem Licht gewonnen. Um so wichtiger ist es für uns, die paar Informationsquellen zu nutzen, die uns eine direkte Erforschung ermöglichen und genau deswegen, sind die "Sample Return Missionen" der Raumfahrt auch von so großer Bedeutung für die Astronomie.
"Sample Return" heißt so viel wie: Proben-Rückführung. Und das sagt auch schon sehr gut, worum es geht: Wir holen uns eine Probe von irgendwo aus dem Weltraum auf die Erde, damit wir sie hier in alle Ruhe und mit allen wissenschaftlichen Möglichkeiten untersuchen können. Wobei "irgendwo aus dem Weltraum" natürlich übertrieben ist. Wir können nicht zu einem anderen Stern fliegen, dort ein Stück abknapsen und zur Erde bringen. Das können wir nicht mal bei der Sonne, weil ein Stern ein Objekt ist, von dem man keine Probe im eigentlich Sinn nehmen kann. Dazu müssten wir auf der Erde auch noch die Bedingungen nachstellen, die in einem Stern herrschen und das schaffen wir nicht. Aber wir könnten durchaus überlegen, ein Stück vom Mond zur Erde zu bringen. Genau das war auch eines der vorrangigen Ziele, als man in den 1960er Jahren die ersten Missionen zu unserem Nachbarn im All geplant hat. Der erste Versuch einer solchen Sample Return Mission hat am 14. Juni 1969 stattgefunden. Die sowjetische Raumsonde Luna E-8-5 No.402 (zugegeben ein etwas sperriger Name) stand am Raketenstartplatz in Baikonur bereit, um zu Mond zu fliegen, dort zu landen, Bodenproben zu sammeln und sie zurück zur Erde zu bringen. Wenn das funktioniert hätte, dann wären diese Proben vielleicht auf der Erde angekommen, bevor die Astronauten von Apollo 11 erfolgreich wären, die sich in den USA gerade bereit gemacht haben, auf ihren historischen Flug zum Mond zu starten. Aber ich habe nicht umsonst den Konjunktiv verwendet: Die Rakete hat nicht richtig funktioniert und die Sonde hat ihre Umlaufbahn nicht erreicht.
In einem letzten Versuch, die USA vielleicht doch noch irgendwie zu schlagen, wurde ein paar Wochen später, am 13. Juli 1969 die Raumsonde Luna 15 gestartet. Auch ihr Ziel war es, Proben vom Mond zur Erde zu bringen. Diesmal hat der Start geklappt und am 17. Juli 1969 war Luna 15 in einer Mondumlaufbahn. Dort blieb man zwei Tage lang, um alle Systeme zu checken. Wer die historischen Daten im Kopf hat, wird wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die drei Astronauten von Apollo 11 schon im Weltall waren. Ihre Rakete startete am 16. Juli 1969 und am 19. Juli waren Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Michael Collins schon in einer Bahn um den Mond herum. Am 21. Juli 1969 fand der historische Moment statt: Armstrong und Aldrin haben als erste Menschen die Mondoberfläche betreten. Und am 21. Juli 1969 versuchte auch die Sowjetunion, Luna 15 zu landen. Leider ohne Erfolg: Statt einer sanften Landung gab es einen Einschlag und die Sonde wurde auf der Mondoberfläche zerstört. Übrigens über 500 Kilometer weit von der Landestelle von Apollo 11 entfernt.
Wenn alles geklappt hätte, wäre Luna 15 nur kurz nach Apollo 11 zur Erde zurückgekehrt und vielleicht hätte man die ersten Proben eines anderen Himmelskörpers noch vor den USA der Welt präsentieren können. So waren es dann aber doch die drei amerikanischen Astronauten, die das erste Mal Gestein von einem anderen Ort im Weltraum auf die Erde gebracht haben. Insgesamt 22 Kilogram Mondgestein haben so am 24. Juli 1969 unsere Erde erreicht und geforscht wird daran noch heute. Ebenso wie an den gut 360 Kilogram Mondgestein, die bei den folgenden Mondlandungen mitgebracht wurden. Zwischenzeitlich war dann die Sowjetunion auch noch erfolgreich. Nach ein paar weiteren Fehlschlägen hat dann schließlich die Sonde Luna 16 das geschafft, was man von Anfang an wollte: Am 20. September 1970 fand eine sanfte Landung auf dem Mond statt; damals war das auch gleichzeitig die erste Landung, die in der Mondnacht stattgefunden hat. Ein automatischer Bohrer hat angefangen zu bohren, 35 Zentimeter tief. 100 Gramm Material aus dem Mondboden wurden in eine Kapsel verfrachtet und die Raumsonde hob wieder ab um die Kapsel am 24. September 1970 über Kasachstan abzuwerfen, wo sie dann auch sicher geborgen werden konnte. Das ist der Sowjetunion danach noch zwei weitere Male gelungen, mit den Sonden Luna 20 im Jahr 1972 und mit Luna 24 im Jahr 1976. Weitere 55 beziehungsweise 170 Gramm Mondmaterial haben so die Erde erreicht.
Nach diesen Erfolgen am Mond hat man sich aber auch Gedanken gemacht, wie man an Proben von anderen Himmelskörpern gelangen könnte. Am 7. Februar 1999 flog die amerikanische Sonde Stardust ins All. Ihr Ziel: Der Komet Wild 2, aus dessen Staubhülle man Proben einsammeln wollte. Hier konnte man sich natürlich nicht so einfach irgendwo hinein bohren. Dazu hätte man dort landen müssen, was technisch aber noch außer Reichweite war. Aber ein Komet ist ja von einer Koma umgeben, einer Hülle aus Staub, der freigesetzt wird, wenn das Eis aus dem so ein Komet zu einem großen Teil besteht, bei Annäherung an die Sonne auftaut und gasförmig wird. Stardust hatte ein spezielles Sammelsystem aus Blöcken von Aerogel mit dabei. Vereinfacht gesagt, lauter kleine Kästchen, gefüllt mit einem sehr porösen Gel, das die Staubteilchen, die sich ja sehr schnell bewegen, abbremsen und einsammeln kann. Dieser Behälter wurde dann über der Erde abgeworfen und konnte am 15. Januar 2006 geborgen werden. Insgesamt hatte man kapp ein Gramm Material eingesammlt, was nach wenig klingt, aber dann doch sehr viel ist, wenn man bedenkt, dass man nur einzelne Staubteilchen gesammelt hat.
Nach dem Kometen wollte man auch Material von Asteroiden haben. Das sind ja immerhin die Objekte, aus denen die Planeten entstanden sind; das ist das ursprüngliche Material des Sonnensystems und wenn wir verstehen wollen, wie alles angefangen hat, brauchen wir dieses Material in möglichst unverfälschter Form. Der erste Versuch, Proben von einem Asteroiden zu nehmen, fand im Rahmen der Hayabusa-Mission der japanischen Weltraumagentur statt, mit nur teilweisem Erfolg. Die Annäherung an den Asteroid Itokawa hat noch probemlos funktioniert, dann gab es aber diverse technische Probleme. Der Versuch einer Landung wurde abgebrochen, nur um nachher feststellen zu müssen, dass die Sonde dennoch gelandet ist. Ein zweiter Landeversuch schien erfolgreich verlaufen zu sein. Aber man war sich nicht sicher, ob man tatsächlich Proben genommen hatte. Als die Probenkapsel am 13. Juni 2010 wieder zurück auf der Erde war, enthielt sie weniger als ein Gramm Material. Deutlich weniger als erwartet, aber immerhin die ersten Proben von einem Asteroiden. Mit Hayabusa-2 konnte man die Probenentnahme dann aber erfolgreich durchführen: Im Dezember 2020 haben uns damit mehr als 5 Gramm Material des Asteroiden Ryugu erreicht. Noch mehr, nämlich 121 Gramm, hat die NASA Mission OSIRIS-REx im September 2023 vom Asteroid Bennu auf die Erde gebracht.
Wir hätten eigentlich auch schon Material von anderen Objekten in unseren Labors haben sollen. Russland wollte im November 2011 zu Phobos starten, einem der beiden Monde des Mars. Aber die Mission Fobos-Grunt schlug fehl und erreichte keine Flugbahn die sie zum Mars gebracht hätte. Dafür ist China mittlerweile erfolgreich auf dem Mond gelandet und hat uns noch ein paar Kilogram Mondgestein mitgebracht.
Natürlich wäre es auch super, eine Probe von einem anderen Planeten zu bekommen. In Frage kommt dafür vorerst eigentlich nur der Mars, die anderen Himmelskörper sind zu weit weg, haben keine feste Oberfläche oder, wie bei der Venus, zu feindliche Umweltbedingungen für eine Landung. Pläne für eine Sample Return Mission zum Mars hat es schon in den 1970er Jahren gegeben. Die Sowjetunion wollte das so machen, wie sie es auch beim Mond geplant hatten, nur mit entsprechend größeren Raketen. Die haben aber alle nie funktioniert und deswegen hat man das irgendwann bleiben lassen. Auch die NASA und die europäische Raumfahrtagentur ESA wollten ein Stück Mars zur Erde bringen. Und der Marsrover Perseverance der NASA hat im Februar 2021 auch tatsächlich Proben gesammelt und sicher in einem entsprechenden Behälter verpackt. Nur liegt der leider immer noch am Mars, der Teil der Mission, bei der eine weitere Sonde dort landen, die Proben aufnehmen und zurück zur Erde bringen hätte sollen, ist dann nicht mehr finanziert worden.
Früher oder später wird es aber klappen. Wir werden Proben vom Mars haben; wir werden noch andere Asteroiden besuchen, und Teile von Kometen auf die Erde bringen. Die Daten, die wir aus diesen außerirdischen Materialien gewinnen können, sind einfach zu wichtig für die Forschung, als dass wir den Versuch aufgeben könnten.
Sternengeschichten Folge 622: Gisela Weiss - Österreichs erste Astronomin
Es ist immer spannend, wenn man sich die ersten Menschen ansieht, die etwas geschafft haben, was vor ihnen keine andere Person geschafft hat. Sehr oft lernt man dabei eine faszinierende Persönlichkeit kennen. Und man erfährt auch immer etwas über die Zeit, in der die Geschichte stattgefunden hat, denn es hat ja meistens Gründe, warum etwas früher nicht möglich war und dann auf einmal schon. Aber leider gibt es viele dieser ersten Male, über die wir nichts wissen und viele, über die viel zu wenig wissen. Die Geschichte von Gisela Weiss ist so ein Fall.
Was wir wissen ist: Gisela Weiss ist die erste Frau, die in Österreich eine Promotion im Fach Astronomie abgeschlossen hat. Sie hat also eine Doktorarbeit verfasst und dafür auch eigenständige wissenschaftliche Forschungsarbeit geleistet. Man kann sie also durchaus als die erste österreichische Astronomin bezeichnen. Aber natürlich muss man in diesem Fall auch berücksichtigen, dass es auch davor auch schon Frauen gegeben hat, die sich mit der Astronomie beschäftigt haben und die Geschichte der Astronomie deutlich älter ist, als ein Land wie Österreich. Über diese Probleme der historischen Einordnung habe ich ja schon in Folge 463 erzählt, als es um Waltraut Seitter ging, die erste Professorin für Astronomie in Deutschland.
Aber lassen wir das mal beiseite und beschäftigen uns mit Gisela Weiss. Sie wurde am 14. Juli 1891 in Wien geboren. Ihr Vater war Leo Weiß, der ursprünglich aus Galizien stammte, also der Gegend, die heute den Süden von Polen und den Westen der Ukraine ausmacht und damals Teil des Kaisertums Österreich war. Leo Weiß hat westlich von Wien, in Klosterneuburg, mehrere Firmen gegründet, die Holz und Metall verarbeitet haben. Über die Kindheit seiner Tochter Gisela ist wenig bekannt. Sie hat ein Mädchenobergymnasium in Wien besucht, über das sich aber heute nichts mehr herausfinden lässt; vielleicht, weil es keine öffentliche Schule war. Eine allgemeine Schulpflicht auch für Mädchen bis zum 12. Lebensjahr hat es in Österreich schon gegeben, seit sie 1774 unter Kaiserin Maria Theresia eingeführt worden ist, eine höhere Bildung zu erlangen war aber immer noch nicht selbstverständlich. Immerhin: Ab dem Jahr 1878 durften auch Frauen die Matura ablegen, also das, was in Deutschland "Abitur" genannt wird und im Prinzip die Berechtigung für ein Studium an einer Universität darstellt. Und ich sage deswegen "im Prinzip" weil Frauen in Österreich zwar die Matura ablegen konnten, sie dann aber trotzdem nicht studieren durften. Das fanden aber immer mehr Menschen ungerecht und nicht nur die Frauen selbst. Ein Mitglied des damaligen Abgeordnetenhauses hat im Jahr 1895 festgestellt: "Von allen Staaten der Erde stehen heute nur noch Österreich und Deutschland auf dem Standpunkte, daß sie der weiblichen Jugend das Universitätsstudium verwehren wollen … Dort, wo es sich um einen humanitären und wissenschaftlichen Fortschritt handelt, kommen wir immer zuletzt." Trotzdem war der Kampf um Gleichberechtigung zäh. Ab 1896 wurde es zum Beispiel zwar erlaubt, dass Frauen, die im Ausland ein Doktorat in Medizin hatten, das auch in Österreich anerkennen lassen konnten. Aber sie mussten dafür trotzdem ihre Abschlussprüfung ein weiteres Mal ablegen und dazu nachweisen, dass sie ein "moralisch einwandfreies Vorleben" hatten - was Männer übrigens alles nicht tun mussten. 1897 durften dann aber endlich auch Österreicherinnen mit ihrer Matura ein Studium beginnen. Natürlich war damit noch immer nicht alles geschafft; manche Professoren haben sich geweigert, vor einem Publikum aus Männern und Frauen zu unterrichten; Frauen durften nicht alle Vorlesungen besuchen oder alle Disziplinen studieren. Aber obwohl dieses Thema sehr interessant und wichtig ist, schauen wir jetzt wieder zurück zu Gisela Weiss.
Sie legte ihre Matura im Jahr 1912 am Gymnasium Rahlgasse in Wien ab; darüber gibt es noch Aufzeichnungen. Danach begann sie ein Studium an der Universität Wien in den Fächern Mathematik, Physik und Astronomie. Es wäre schön zu wissen, warum sie sich dafür entschieden hat. Aber diese Information existiert leider nicht. Wir wissen nur, dass sie dabei nicht unerfolgreich gewesen sein kann. Denn im Jahr 1917 konnte sie ihre Doktorarbeit in Astronomie abschließen. Wer sich ein bisschen mit der Geschichte der Wiener Universitätssternwarte beschäftigt hat, wird leicht erraten können, wovon sie handelt. Damaliger Direktor der Sternwarte war Josef von Hepperger, Vizedirektor war Johann Palisa und Palisa war einer der wichtigsten damaligen Forscher auf dem Gebiet der Kleinplaneten, also den Himmelskörpern, die wir heute "Asteroiden" nennen. Palisa hat 121 davon entdeckt; er hat sich mit der Bestimmung ihrer Bahnen beschäftigt und Kataloge erstellt, mit denen man Asteroiden leichter finden kann. Die Geschichte der Universitätssternwarte Wien wäre ebenfalls ein spannendes Thema für mehr als nur eine Podcastfolge. Aber für heute reicht es zu sagen, dass die Erforschung der Kleinplaneten das wichtigsten Arbeitsgebiet der damaligen Sternwarte in Wien war und fast das einzige Arbeitsgebiet. Es ist also absolut nicht überraschend, wenn die Doktorarbeit von Gisela Weiss sich ebenfalls mit Kleinplaneten beschäftigt. Sie hatte sich den Asteroid Ambrosia ausgesucht. Oder besser gesagt: Vermutlich hat Josef von Hepperger dieses Thema ausgewählt, der die Arbeit auch beurteilt hat, aber dazu später mehr.
Der Asteroid Ambrosia wurde am 28. Februar 1879 entdeckt und zwar von Frankreich aus und dem französischen Astronom Jérôme-Eugène Coggia. Dann hat man es aber 35 Jahre lang nicht mehr beobachtet und erst 1915 konnte ihn der deutsche Astronom Max Wolf von Heidelberg aus wieder finden und ihn auch fotografieren. Johann Palisa, ein enger Kollege von Wolf, machte von Wien aus jede Menge Beobachtungen von Ambrosia, insgesamt 23 Stück. Damit war er im April 1916 fertig. Aber Beobachtungen sind noch keine Bahnbestimmung. Dazu braucht es jede Menge Mathematik und - ohne Computer oder gar Taschenrechner - sehr viel händisches Rechnen. Es liegt nahe, dass man diese Arbeit an eine Studentin ausgelagert hat, die ein Thema für ihre Dissertation gebraucht hat. Auf jeden Fall war die Bahnbestimmung von Ambrosia das Thema von Gisela Weiss' Doktorarbeit, die am 21. April 1917 beurteilt wurde; und am 28. Juni 1917 wurde ihr offiziell der Doktorgrad verliehen.
Recht freundlich war die Beurteilung allerdings nicht: „Die vorliegende Abhandlung kann mit Rücksicht auf die bedeutende hierauf angewendete Arbeit und deren gute Durchführung noch als den gesetzlichen Anforderungen entsprechend bezeichnet werden“. Ob das wirklich stimmt beziehungsweise was tatsächlich in der Arbeit von Weiss' stand, wissen wir nicht. Ihre Dissertation ist in keiner Bibliothek mehr auffindbar und ihre Forschungsergebnisse sind auch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht worden. Letzteres ist aber nicht ungewöhnlich, damals hat man Doktorarbeiten nur sehr selten publiziert. Dass sie aber auch weder in der Uni- noch in der Nationalbibliothek zu finden ist, ist schade. Auf jeden Fall wissen wir, dass die Arbeit von Gisela Weiss gut genug für eine Promotion war. Dass sie kein genialer Geistesblitz war, der die Astronomie revolutioniert hat, ist auch nicht überraschend. Erstens ist das bei Dissertationen selten der Fall, die meisten davon sind zwar eigenständige Forschungsarbeiten, die sich aber dann doch eher mit Themen beschäftigen, wo man im voraus schon halbwegs abschätzen kann, was herauskommen wird und das man das Thema auch in der nötigen Zeit abschließen kann. Das gilt heute wie damals und so wie heute hat man auch damals wahrscheinlich nur bedingt selbst auswählen können, was für ein Thema man bearbeitet. So etwas wird üblicherweise von den Betreuern vorgeschlagen und wer weiß, ob Gisela wirklich Lust auf die Bahnbestimmung gehabt hat oder eigentlich lieber etwas anderes machen wollte? Wir wissen auch nicht, ob sie enttäuscht war, dass ihre Arbeit zwar für eine Promotion gereicht, den Betreuern aber anscheinend nicht so gut gefallen hat. Wir wissen nicht, ob es irgendwelche Unstimmigkeiten zwischen Gisela Weiss und den restlichen Mitarbeitern an der Uni-Sternwarte gab. Wir wissen nur, dass sie nach ihrer Promotion die Universität verlassen hat, um im Betrieb ihres Vaters zu arbeiten. Sie hat 1920 geheiratet, sich aber später wieder scheiden lassen. Leo Weiss ist 1930 gestorben, seine Firma ist aber im Besitz der Familie geblieben und man kann davon ausgehen, dass Gisela Weiss weiterhin dort gearbeitet hat. Zumindest bis 1938, als der Betrieb - so wie viele andere Firmen im Besitz jüdischer Familien - von den Nationalsozialisten enteignet worden ist. Was Gisela Weiss in dieser Zeit gemacht hat, ist ebenfalls unbekannt. Sie muss es allerdings geschafft haben, Österreich zu verlassen, denn im Jahr 1950 wurde sie Staatsbürgerin von Israel und lebte in Tel Aviv. Sie ist aber immer wieder nach Wien zurück gekehrt, dürfte ausreichend viel Geld gehabt haben um auch dort entsprechend gut zu wohnen. Das Ende ihres Lebens hat sie in einem Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde verbracht wo sie am 12. Juni 1975 gestorben ist. Ihr Grab befindet sich am jüdischen Friedhof von Klosterneuburg.
Das ist mehr oder weniger alles, was wir über Gisela Weiss wissen. Es gibt keine Nachfahren, die mehr über sie erzählen könnten und keine weiteren bekannten Dokumente, die mehr Informationen über ihr Leben verraten. Und das bisschen, das wir wissen, verdanken wir auch nur der Recherche von Anneliese Schnell, ebenfalls eine Astronomin aus Wien, die seit 1966 bis zu ihrem Tod im Jahr 2015 an der Universitätssternwarte Wien gearbeitet hat. Schnell war übrigens selbst auch eine "Erste", nämlich die erste Frau, die 1974 in den Vorstand der Astronomischen Gesellschaft gewählt wurde, eine der ältesten astronomischen Vereine Europas und heute immer noch der Fachverband der deutschen Astronomie. Schnell hat ihre Dissertation übrigens 1967 abgeschlossen: Genau 50 Jahre nach Gisela Weiss.
Sternengeschichten Folge 621: Blaneten, die um schwarze Löcher kreisen
Keine Sorge, da ist kein Tippfehler im Titel dieser Folge und nochmal keine Sorge, ich habe auch keine Probleme damit, das Wort "Planet" richtig auszusprechen. Denn in dieser Folge geht es nicht Planeten, sondern um "Blaneten", mit einem weichen B wie "Brauner Zwerg" oder "Balkenspiralgalaxie" am Anfang. Ich werde mich sehr bemühen, in dieser Folge deutlich zu sprechen, damit klar ist, ob ich gerade von einem Planeten oder Blaneten spreche. Aber, und das ist eine durchaus relevante Frage, was soll das eigentlich?
Was soll ein "Blanet" sein und warum denkt man sich dafür ein Wort aus, das fast so wie ein anderes Wort klingt? Das ist doch verwirrend… Ja, ist es und die Astronomie ist leider gerne mal verwirrend, wenn es um ihre Begriffe geht. Wir haben planetarische Nebel, die nix mit Planeten zu tun haben, wir messen die Helligkeit von Sternen mit Magnituden, aber je mehr Magnituden ein Stern hat, desto schwächer leuchtet er, der Morgenstern ist kein Stern, und so weiter. Ein "Blanet" hat aber durchaus etwas mit "Planeten" zu tun und bevor es noch weiter verwirrend bleibt, lese ich vielleicht den Titel der Facharbeit vor, in der dieser Begriff das erste Mal auftaucht. Das war im Jahr 2021, als die japanischen Astronomen Keiichi Wada, Yusuke Tsukamoto, und Eiichiro Kokubo einen Aufsatz geschrieben haben, der folgenden Titel trägt: "Formation of 'Blanets' from Dust Grains around the Supermassive Black Holes in Galaxies". Auf deutsch heißt das soviel wie "Entstehung von 'Blaneten' aus Staubkörnern rund um supermassereiche schwarze Löcher in Galaxien". Ein "Blanet" ist also ein Planet eines schwarzen Lochs, ein "black hole planet" oder eben kurz "Blanet".
Es ist eine komische Idee. Planetenähnliche Himmelskörper, die bei einem schwarzen Loch entstehen? Die Idee ist aber nur so lange komisch, wie man nicht weiter darüber nachdenkt. Und ich fange gleich mal damit an, das erste Missverständnis aus dem Weg zu räumen. Ich habe das in früheren Folgen schon gesagt, aber sage es jetzt nochmal: Ein schwarzes Loch ist kein Staubsauger. Die Dinger saugen nicht gnadenlos alles ein; es ist absolut möglich, dass ein anderer Himmelskörper ein schwarzes Loch auf einer stabilen Umlaufbahn umkreist. Schwarze Löcher sind ja auch nur Ansammlungen von Masse im Universum, die eine Gravitationskraft ausüben und die man, so wie alle anderen Ansammlungen von Masse, auch umkreisen kann. Das einzige außergewöhnliche an ihnen ist ihre Kompaktheit; man kann ihnen so nahe kommen, dass die Anziehungskraft so enorm stark wird, dass man schneller als das Licht sein müsste, um sich wieder zu entfernen. Wenn man ihnen aber nicht sooo nahe kommt und quasi einen Sicherheitsabstand einhält, wird man auch nicht angesaugt.
Aber das ist es nicht, worum es bei den "Blaneten" geht. Die drei japanischen Forscher haben sich damals folgendes überlegt: Wir wissen, wie Planeten entstehen. Nämlich in sogenannten protoplanetaren Scheiben um junge Sterne. Nachdem ein Stern entstanden ist, ist er noch von jeder Menge Staub und Gas umgeben und das Zeug in dieser Staub- und Gasscheibe kann sich im Laufe der Zeit zusammenballen, so dass größere Objekte wie eben Planeten entstehen. In Wahrheit ist der Vorgang natürlich sehr, sehr viel komplizierter und die Astronomie ist immer noch dabei, die Details der Planetenentstehung zu verstehen. Aber das Grundprinzip ist klar und wir haben nicht nur die Planeten unseres eigenen Sonnensystems als Beispiel, sondern auch schon tausende Planeten bei anderen Sternen gefunden und können bei anderen, jüngeren Sternen sogar die protoplanetaren Scheiben und in seltenen Fällen auch die in Entstehung begriffenen Planeten sehen.
Aber, so haben sich die japanischen Astronomen überlegt, die protoplanetaren Scheiben sind nicht die einzigen Orte im Universum, wo diese Bedingungen für die Entstehung von Planeten existieren. Es gibt auch die "zirkumnuklearen Scheiben". Die findet man im Zentrum von großen Galaxien, rund um deren supermassereichen schwarzen Löcher. Ich habe in den vergangen Folgen der Sternengeschichten ja schon öfter darüber geredet: Wir wissen, dass alle großen Galaxien in ihrem Zentrum ein schwarzes Loch haben, das ein paar Millionen bis ein paar Milliarden mal so viel Masse wie die Sonne hat. Wir wissen zwar immer noch nicht genau, wie diese Objekte entstehen, haben sie aber einwandfrei nachgewiesen und in einigen Fällen sogar fotografiert. Beziehungsweise: Wir haben nicht das schwarze Loch selbst fotografiert; das geht ja per Definition nicht. Aber in der Umgebung der schwarzen Löcher gibt es jede Menge Gas und Staub, das da rund herum wirbelt und dadurch aufgeheizt wird. Das Zeug leuchtet dadurch hell und ist sichtbar, bis auf den zentralen Bereich, wo das schwarze Loch ist. Fotografiert haben wir diesen dunklen Schatten vor der hell leuchtenden Scheibe aus Gas und Staub und genau die ist es, die uns interessiert, wenn es um die "Blaneten" geht.
Oder genauer gesagt: Es sind die äußeren Bereiche der Scheibe. In unmittelbarer Umgebung des Lochs ist es unangenehm. Das ganze Material wird zu stark aufgeheizt; erzeugt zu viel helle und harte Strahlung und dort fällt das Material auch irgendwann in das schwarze Loch. Aber weiter außen, eben in der zirkumnuklearen Scheibe, geht es ein wenig ruhiger zu. Dort könnten ähnliche Bedingungen wie in der prototplanetaren Scheibe eines jungen Sterns herrschen, wo sich Material im Laufe der Zeit zusammenballt um planetengroße Himmelskörper zu bilden.
Ob das wirklich so funktioniert und unter welchen Bedingungen haben die drei Japaner erforscht und das Ergebnis lautet: Ja, das kann klappen. Es geht nur weit genug entfernt vom schwarzen Loch und "weit" heißt hier ungefähr ein paar Lichtjahre. Das bedeutet, dass man auch ausreichend große schwarze Löcher braucht, um so große Scheiben aus Material zu kriegen. Mindestens eine Million Sonnenmassen sollte es schon haben, aber das haben die meisten supermassereichen schwarzen Löcher - das im Zentrum unserer Milchstraße hat zum Beispiel gut 4 Millionen Sonnenmassen. Die Masse ist aber nicht das einzige; es kommt auch auf das Alter an. In einer jungen Galaxie ist noch viel Gas und Staub vorhanden um eine ordentliche zirkumnukleare Scheibe zu bilden; in alten, wie unserer Milchstraße, ist das ganze Material schon verschwunden. Hier können als keine neuen Blaneten mehr entstehen - aber vielleicht ist das ja schon früher passiert.
Die Blaneten, die entstehen, haben typischerweise mehr Masse als die Erde, teilweise sogar viel mehr. Sie sind auch viel weiter voneinander entfernt als die Planeten in unserem Sonnensystem. Aber, so das Fazit der Arbeit, rein prinzipiell spricht nichts dagegen, dass sich rund um ein supermassereiches schwarzes Loch ein System aus Blaneten unterschiedlicher Größe bildet, die sich dort auf stabilen Umlaufbahnen bewegen.
Bleiben zwei Fragen. Erstens: Kann man diese Dinger nachweisen, wenn sie da draußen sein sollten? Und zweitens: Kann man dort leben? Fangen wir mit Frage 1 an und die Antwort darauf lautet: Eher nicht. Die Methoden, mit denen wir bisher die Planeten anderer Sterne entdeckt haben, funktionieren alle nicht bei schwarzen Löchern. Sie werden nicht von ihrem Stern angeleuchtet, weil sie keinen haben. Wir können nicht messen, wie das schwarze Loch dunkler wird, wenn der Blanet von uns aus gesehen daran vorüber zieht, weil ein schwarzes Loch schon so dunkel ist, wie es nur geht, und so weiter. Man könnte probieren, die Röntgenstrahlung zu beobachten, die aus der Umgebung des schwarzen Lochs kommt und schauen, ob die in periodischen Abständen schwächer wird. Aber auch das ist eher hoffnungslos, den selbst das schwarze Loch in unserer eigenen Milchstraße ist gut 26.000 Lichtjahre entfernt und bei anderen Galaxien sind die Abstände unvorstellbar viel größer. Mit der absehbaren Beobachtungstechnik werden wir die Blaneten wahrscheinlich nicht finden, wenn sie denn da sind.
Aber wir können uns trotzdem noch fragen: Könnte man - oder eher: etwas - dort leben? Vielleicht! Es ist durchaus möglich, dass sich diese Blaneten auch eine Atmosphäre zulegen; Gas gibt es in der zirkumnuklearen Scheibe ja genug. Problematisch wird es, was die Energiequelle angeht. Mit Licht und Wärme ist bei einem schwarzen Loch nicht zu rechnen. Und die ganze Strahlung die aus der Umgebung des schwarzen Lochs kommt, hätte die Atmosphäre der Blaneten vermutlich auch schnell zerstört. Wenn es sich nicht um eine Art von Leben handelt, die sich völlig von dem unterscheidet was wir bis jetzt kennen und was wir uns sinnvollerweise anhand dessen vorstellen können, was wir über die Entstehung von Leben gelernt haben, dann werden Blaneten eher lebensfeindliche Orte sein. Trotzdem: Die Vorstellung, man könnte auf einem Himmelskörper stehen und am Himmel ein gigantisches schwarzes Loch mit leuchtender Scheibe drumherum sehen ist verlockend. Selbst wenn man diesen Himmelskörper dann als "Blanet" bezeichnen müsste…
Sternengeschichten Folge 620: Die Zone of Avoidance
In der heutigen Folge der Sternengeschichten geht es um die Zone of Avoidance. Auf deutsch heißt das "Die Zone der Vermeidung" und das klingt ein klein wenig beunruhigend und auch ein bisschen wie Science Fiction. So wie die "Neutrale Zone" in Star Trek, wo man mit dem Raumschiff nicht reinfliegen darf oder die "Zone" in den Büchern von Arkadi und Boris Strugazki. Wir bekommen es aber heute nicht mit Science Fiction zu tun, sondern mit reiner Astronomie und beunruhigend ist die Zone der Vermeidung auch nur dann, wenn man den Himmel beobachten möchte.
Um was es dabei geht, hat das erste Mal der englische Astronom Richard Proctor in seinem Buch "The Universe of Stars" aus dem Jahr 1878 aufgeschrieben. Darin findet man eine großformatige Abbildung, die die Verteilung der "Nebel" zeigt. Im späten 19. Jahrhundert wusste man ja immer noch nicht, worum es sich bei diesen Gebilden handelt, die man mit einem starken Teleskop sehen konnte. Manche hielte sie für große, nebelartige Wolken, die sich zwischen den Sternen befanden. Andere waren der Meinung, dass es sich um riesige, unvorstellbar weit entfernte Ansammlungen von Sternen handelt, und unsere Milchstraße auch so ein Gebilde, eine Galaxie, ist. Aber eben nur eine von vielen. Die Frage wurde erst in den 1920er Jahren endgültig geklärt und ich habe davon schon in anderen Folgen der Sternengeschichten gesprochen. Damals jedenfalls konnte man nicht viel mehr machen, als möglichst viele dieser Nebel zu beobachten und zu kartografieren. Genau das hat unter anderem der Astronom John Herschel gemacht und dessen Daten hat Richard Proctor verwendet, um das entsprechende Bild in seinem populärwissenschaftlichen Buch über das Universum zu erstellen. Dabei ist ihm aufgefallen, dass es da einen Bereich am Himmel zu geben scheint, in dem weniger dieser Nebel zu finden sind als anderswo und deswegen trägt die Abbildung auch den Titel "The zone of few nebulae". Diese "Zone der wenigen Nebel" wurde in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer ausgeprägter; je mehr Nebel man beobachtete, desto klarer wurde es, dass es einen Bereich gibt, in dem sie nicht zu sehen sind.
1961 hat der amerikanische Astronom Harlow Shapley probiert, diese Zone auch klar zu definieren. Shapley war übrigens früher einer der prominentesten Vertreter derjenigen, die davon ausgegangen sind, dass es im Universum nur unsere Milchstraße gibt und die Nebel alle nur kleinere Wolken innerhalb der Milchstraße sind. Aber egal, das war früher und jetzt hat Shapley die aktuellsten Daten der damaligen Zeit untersucht und festgestellt, dass man demnach am Himmel typischerweise 54 Galaxien pro Quadratgrad finden kann. "Quadratgrad" ist eine etwas komische Einheit, aber in der Astronomie sehr gebräuchlich und entspricht einer Fläche am Himmel, die ungefähr so groß ist wie fünf Vollmonde. Also: 54 Galaxien pro Quadratgrad, im Durchschnitt. Aber es gibt einen Bereich, bei dem es deutlich weniger sind, nämlich weniger als 5 Galaxien pro Quadratgrad. Genau das ist die "Zone of Avoidance" und sie heißt deswegen so, weil es eben eine Zone ist, die von der Astronomie bei ihrer Arbeit vermieden wird, denn da gibt es zu wenig zu sehen, um sinnvolle Forschung zu treiben.
Und nachdem wir das jetzt geklärt habe, sollten wir vielleicht mal nachsehen, wo diese Zone denn eigentlich ist. Wer sich schon ein bisschen mit Astronomie beschäftigt hat, wird vermutlich schon eine bestimmte Idee haben. Und wenn diese Idee mit der Milchstraße zu tun hat, dann ist sie richtig! Die Zone of Avoidance findet man um den galaktischen Äquator der Milchstraße herum. Wenn wir uns die Milchstraße als große Scheibe voller Sterne vorstellen - was sie in erster Näherung ja auch ist - dann ist der galaktische Äquator die Linie, die um die Scheibe herum läuft. Vom Sonnensystem aus, das sich ja in den äußeren Bereichen der galaktischen Scheibe befindet, können wir entweder in den galaktischen Norden oder Süden, also quasi nach oben und unten aus der Scheibe raus schauen. Oder nach "hinten", dorthin, wo die Scheibe der Milchstraße bald aus ist und deutlich weniger Sterne zu finden sind als wenn wir in die andere Richtung blicken, mitten ins Herz der galaktischen Scheibe hinein. Da ist alles voll mit Sternen und das ist auch genau das, was wir am Nachthimmel als wolkig-weißes Band der Milchstraße sehen können (sofern es dunkel genug ist). Und genau da dort befindet sich die "Zone of Avoidance" und damit ist auch klar, warum sie überhaupt existiert.
In der Milchstraße gibt es ja nicht nur Sterne, sondern auch jede Menge Gas und Staub, in kosmischen Wolken, die sich im interstellaren Raum befinden. Wenn wir in Richtung der galaktischen Scheibe schauen, dann sehen wir dort nicht nur sehr viel mehr Sterne als anderswo, sondern blicken auch auf und durch sehr viel mehr Gas und Staub. All das absorbiert einen Teil des Lichts und deswegen ist es sehr viel schwerer, in dieser Richtung irgendwelche fernen Galaxien zu entdecken. Die Milchstraße wirkt quasi wie ein Vorhang, der uns den Blick auf das dahinter liegende Universum verstellt. Ungefähr 20 Prozent dieses extragalaktischen Himmels werden durch die "Zone of Avoidance" verschleiert. Das gilt für den optischen Bereich, also die Wellenlänge des Lichts, die wir auch mit unseren Augen oder normalen Teleskopen wahrnehmen können. Und das waren ja auch die einzigen Teleskope, die man damals im 19. Jahrhundert und noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zur Verfügung hatte.
Warum ist es jetzt ein Problem, dass das dieser Bereich am Himmel ist, den man schlecht sehen kann? Es ist natürlich ein prinzipielles Problem für die Astronomie: Wir wollen alles sehen, was da draußen ist und wir wollen uns nicht mit einem Himmel zufriedengeben, auf dem wir 20 Prozent nicht sehen können. Es ist aber auch ein spezielles Problem, denn viele Dinge können wir nur dann verstehen, wenn wir einen vollständigen Blick haben.
Zum Beispiel wenn es darum geht, das Universum als ganzes zu erforschen. Die Kosmologie gibt sich ja große Mühe, die großen Strukturen des Universums zu kartografieren. Wir wollen wissen, wo die ganzen Galaxienhaufen sind, die Superhaufen, die aus einzelnen Galaxienhaufen bestehen und die noch größeren Strukturen, die aus langen Aneinanderreihungen der galaktischen Superhaufen gebildet werden. Je besser wir verstehen, wie der Kosmos auf diesen allergrößten Skalen aussieht, desto besser können wir auch verstehen, wie das Universum entstanden ist und wie es sich entwickelt hat. Die Modelle, mit denen wir den Urknall beschreiben und verstehen, sagen zum Beispiel voraus, dass die allergrößten Strukturen nicht beliebig groß werden können. Sollten wir galaktische Superhaufen finden, die noch größer sind, dann wäre das ein Hinweis darauf, dass wir irgendwelche grundlegenden Eigenschaften des Universums falsch oder noch nicht verstanden haben. Dass wir vielleicht nochmal über Phänomene wie die dunkle Energie nachdenken müssen oder es da irgendein ganz neues Phänomen gibt, das wir noch nicht entdeckt haben. Das sind alles enorm spannende Themen, aber wenn wir nicht den kompletten Himmel beobachten können, haben wir keine Chance, verlässliche Antworten zu kriegen.
Die Zone of Avoidance macht aber auch auf kleineren Maßstäben Problemen. Wir würden zum Beispiel gerne wissen, wie viele andere Galaxien mit uns gemeinsam in unserer eigenen Galaxiengruppe sind, der Lokalen Gruppe, von der ich in Folge 371 erzählt habe. Wir wissen, dass die Milchstraße und die Andromedagalaxie die größten Mitglieder sind und es jede Menge kleinere Galaxien gibt, die auch noch dazu gehören. Aber was, wenn sich da vielleicht eine weitere größere Galaxie hinter der Zone of Avoidance am Himmel versteckt? OK, das ist unwahrscheinlich, wie ich gleich noch erzählen werde. Aber auch hier gilt: Wir brauchen einen vollständigen Überblick, wenn wir zum Beispiel verstehen wollen, wie sich die Lokale Gruppe in der Vergangenheit entwickelt hat und wie sie sich in Zukunft entwickeln wird.
Und so weiter: Es gibt diverse große und kleine astronomische Fragen, deren Beantwortung durch die Zone of Avoidance erschwert wird. Aber zum Glück sind wir in der Astronomie wirklich gut darin, Dinge zu sehen, die sehr schwer zu sehen sind. Und haben im Laufe der Zeit Methoden entwickelt, auch die Zone of Avoidance in den Griff zu kriegen. Das normale Licht ist ja nur ein kleiner Teil der gesamten elektromagnetischen Strahlung. Aber es gibt ja noch mehr: Infrarotlicht zum Beispiel hat den Vorteil, dass es vom interstellaren Staub kaum aufgehalten wird; die Zone of Avoidance wird dadurch zum Teil quasi durchsichtig. Im Infrarotlicht hat der italienische Astronom Paolo Maffei 1968 auch zwei Galaxien entdeckt, die zuvor durch die Zone of Avoidance verdeckt wurde. Maffei 1 und Maffei 2, wie sie mittlerweile genannt wurden, sind ziemlich große Brocken und eigentlich auch ziemlich hell. Maffei 1 wäre eine der 10 hellsten Galaxien am Nordhimmel, wenn sie nicht blöderweise hinter der Zone of Avoidance liegen würde. Die beiden Maffei-Galaxien gehören übrigens nicht zur Lokalen Gruppe, sie sind noch weiter weg und Zentrum ihres eigenen Galaxienhaufens. Aber all das hätten wir nie herausgefunden, wenn wir nicht dank Infrarotastronomie durch den Schleier der Milchstraße blicken hätten können.
2016 konnten Forscherinnen und Forscher einen potentiellen Superhaufen aus Galaxien hinter der Zone of Avoidance ausmachen, der aus gut zwei Dutzend Galaxienhaufen besteht und eine der größten bekannten Strukturen des Universums darstellt. Eine weitere große Struktur fand man 2022 und es ist mit Sicherheit nicht die letzte Entdeckung, die bei dem Versuch gemacht wird, die Zone of Avoidance zu durchblicken. Mittlerweile wird dazu nicht nur Infrarotlicht verwendet, sondern auch Radioteleskope und andere Methoden der nicht-optischen Astronomie. Wie gesagt: Wir lassen uns nicht aufhalten, wenn es da draußen was zu sehen gibt. Die Zone of Avoidance ist in den letzten Jahren immer weiter geschrumpft und irgendwann werden wir es hoffentlich geschafft haben, auch diesen weißen Fleck auf unseren kosmischen Karten zu füllen.
Sternengeschichten Folge 619: Neith, der nicht-existierende Venusmond
Die Venus ist unser Nachbarplanet im Sonnensystem. Sie ist ungefähr so groß wie die Erde und nach Sonne und Mond ist sie das hellste Objekt am Himmel. Sie ist so hell, dass man sie kaum übersehen kann und als strahlenden Morgen- oder Abendstern in der Dämmerung leuchtet. Wir haben die Venus immer schon betrachtet, zuerst nur mit unseren Augen und später natürlich auch mit dem Teleskop. Der erste, der die Venus im Fernrohr beobachtet hat, war Galileo Galilei zu Beginn des 17. Jahrhunderts und bei dieser Beobachtung hat er gesehen, dass die Venus Phasen zeigt; es also analog zu "Vollmond" oder "Halbmond" auch "Vollvenus" oder "Halbvenus" gibt. Das war eine revolutionäre Entdeckung, weil sie belegt hat, dass sich die Venus um die Sonne bewegt, die damit das Zentrum des Sonnensystems ist und nicht die Erde, wie man damals immer noch weitestgehend geglaubt hat.
Ein bisschen weniger revolutionär war das, was der italienische Astronom Francesco Fontana, ein Zeitgenosse von Galilei am 11. November 1645 gesehen hat. Nämlich zwei kleine leuchtende Punkte, die neben der Venus herlaufen. Ein paar Wochen später konnte er nur noch einen davon sehen, der aber blieb aber auch später noch sichtbar. Fontana kam zu dem Schluss, dass er einen Mond der Venus entdeckt hatte; so wie ja Galileo ein paar Jahrzehnte vorher schon vier Monde des Jupiters. Seine Zeitgenosse waren eher skeptisch was das angeht, vor allem auch deswegen, weil sie selbst diesen Mond nicht sehen konnten, was aber auch an ihren schlechteren Teleskopen gelegen haben könnte.
Sehr viel mehr Aufmerksamkeit als die Entdeckung von Fontana bekam die Beobachtung von Giovanni Domenico Cassini. Er wurde 1669 Direktor der Sternwarte in Paris mit einem der besten Teleskope der damaligen Zeit. Bei seiner Arbeit fand er 1671 einen Mond des Saturns - Iapetus - und 1672 einen zweiten, Rhea. Er war außerdem der erste, der feststellte, dass es Lücken in den Ringen des Saturn gibt, die heute deswegen als "Cassini-Teilung" bezeichnet werden. Und 1672 sah auch er in seinem Teleskop einen Mond der Venus. Vermutlich war ihm diese Entdeckung selbst nicht ganz geheuer, denn er hielt sie geheim. Erst als er 1686 den Venusmond ein zweites Mal sah, hat er die Beobachtung öffentlich gemacht, blieb aber immer noch zurückhaltend. "Es ist mir nie gelungen, ihn zu sehen, sieht man von diesen beiden Fällen ab und deswegen erlaube ich mir hier kein Urteil", schrieb er ein seinen Memoiren.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten war der Mond der Venus ein Thema, dass die Astronomie weiter beschäftigt hat, aber der Mond war nie richtig greifbar. Manche Astronomen wie der schottische Teleskopbauer James Short oder der Deutsche Andreas Mayer bestätigten, dass sie ihn ebenfalls gesehen hatten. Andere, wie der schottische Astronom und Mathematiker David Gregory blieben skeptisch. Und alle warteten gespannt auf den 6. Juni 1761. An diesem Tag würde ein seltenes Ereignis stattfinden, ein Venustransit. Von der Erde aus gesehen würde man die Venus direkt vor der Sonnenscheibe vorüberziehen sehen können und warum das so ein wichtiges Ereignis für die Wissenschaft ist, habe ich ja schon ausführlich in Folge 539 der Sternengeschichten erzählt. Insbesondere aber sollte man auch einen Mond der Venus sehen können, als zweiten, kleinen dunklen Fleck der gemeinsam mit dem Planeten an der Sonne vorüber zieht. Der Venustransit von 1761 wurde überall auf der Welt beobachtet, von Forschenden genau so wie von Enthusiasten ohne wissenschaftliche Ausbildung. Und es gab tatsächlich 2 Meldungen über die Beobachtung eines Venusmonds. Die stammten aber beide von Amateuren, deren Methoden und Instrumente vergleichsweise schlecht waren, weswegen man diese "Entdeckung" auch vorerst nicht weiter ernst genommen hat.
Vor und nach dem Transit wurden ebenfalls Venusmondbeobachtungen gemeldet. Man hat die Venus zu der Zeit natürlich genau im Blick gehabt, die Instrumente für den großen Tag getestet beziehungsweise auch danach noch zur Venusbeobachtung genutzt. Der berühmte Astronom Louis Lagrange, nach dem die Lagrangepunkte benannt sind, über die ich hier schon oft gesprochen habe, hat den Venusmond im Februar 1761 gesehen, aber danach gemeint, dass er sich vermutlich doch geirrt hat. Und in Kopenhagen gab es eine sehr interessante Beobachtungsreihe, die Christian Horrebrow und Peder Roedkiær durchgeführt haben. Sie sahen den Venusmond gleich mehrmals im Laufe des Jahres und konnten auch sehen, dass er Phasen hat, wie die Venus selbst. Horrebrow hat den Mond auch in den Jahren nach dem Transit gesehen, das letzte Mal im Januar 1768 .
Aus heutiger Sicht klingt das alles ein wenig komisch. Was war da los mit den Leuten? Entweder da ist ein Mond oder da ist keiner. Und wenn da einer ist, dann sieht man den entweder oder man sieht ihn nicht. Aber es ist halt nicht so einfach wie heute. Heute kann man ein Bild machen und das in Ruhe analysieren. Man kann eindeutig festellen, ob da jetzt ein Lichtpunkt neben der Venus ist oder nicht. Damals war das nicht möglich; man hat nur die Augen gehabt um durch das Teleskop zu schauen und konnte keine dauerhaften Aufzeichnungen machen bzw. wenn, dann nur Zeichnungen. Und nur weil man einen Punkt neben der Venus sieht, muss das ja noch lange kein Mond sein. Dazu muss man lange genug beobachten und den Punkt immer und immer wieder neben der Venus sehen um sicher sein zu können, dass der potentielle Mond der Venus folgt und beispielsweise kein Hintergrundstern ist.
Es war damals also viel leichter, sich zu täuschen und genau darauf hat der österreichische Astronom Maximilian Hell im Jahr 1766 hingewiesen. Er veröffentlichte eine Arbeit, in der er zeigen konnte, dass ein helles Objekt wie die Venus eine Art von "Geisterbild" erzeugt. Wenn man auf die richtige - oder in dem Fall eher die falsche - Weise und in einem bestimmten Abstand durch ein Teleskop schaut, dann kann das helle Licht des Planeten eine Reflexion erzeugen, die auf das Auge fällt und so aussieht wie ein Mond, mit den selben Phasen die die Venus gerade hat.
Der Venusmond war also nur eine Illusion und damit könnte die Geschichte schon zu Ende sein. Ist sie aber nicht. Im 19. Jahrhundert konnte er - kurzfristig - ein Comeback feiern. Der belgische Astronom Jean-Charles Houzeau hat sich in den 1880er Jahren alle Daten nochmal genau angesehen und eine neue Idee gehabt. Was, wenn es gar kein Mond der Venus ist, den man da gesehen hat. Sondern ein noch unbekannter Planet, mit fast derselben Umlaufbahn wie die Venus? Wenn er eine Umlaufperiode von 283 Tagen hat, dann befindet er sich nur ein Stück außerhalb der Venusbahn und die beiden Planeten würden immer wieder scheinbar nahe am Himmel beieinander stehen, so das es von der aussieht, als wäre da ein Mond neben der Venus. Houzeau hat diesem neuen Planeten auch gleich einen Namen gegeben, nämlich Neith, nach einer ägyptischen Kriegsgöttin und dieser Name wurde dann nachträglich auch ganz allgemein für einen potentiellen Venusmond verwendet. "Die Schreckliche", wie man diesen Namen übersetzen kann, hatte aber kein langes Leben vor sich. Die Hypothese passt zwar zu den Daten, aber nur, wenn man sich - wie Houzeau es gemacht hat - die passenden Daten raussucht und die nicht passenden einfach ignoriert. Die belgische Akademie der Wissenschaften hat sich die Sache dann nochmal ganz genau angesehen und festgestellt, dass insbesondere die Beobachtungen, die damals in Kopenhagen gemacht worden sind, ganz einfach erklärt werden können. Die Venus stand zu den fraglichen Zeitpunkten in der Nähe unterschiedlicher Sterne, die Horrebrow und Roedkiær nicht also solche erkannt haben.
Optische Täuschungen, schlechte Teleskope und Fehler bei der Beobachtung: Am Ende geht die Geschichte des hypothetischen Venusmonds recht unspektakulär zu Ende. Heute können wir mit Sicherheit sagen, dass unser Nachbarplanet ohne Mond ist. Spannend bleibt die Angelegenheit dennoch. Unsere Erde hat einen Mond, der Mars hat gleich zwei und die äußeren Planeten des Sonnensystems zum Teil mehr als hundert. Warum hat gerade die Venus, die doch der Erde ansonsten in Größe und Masse so ähnlich ist, keinen Mond? Die Antwort darauf lautet: Das wissen wir nicht. Es gibt natürlich diverse Spekulationen: Vielleicht hatte die Venus einen Mond, aber die Gezeitenkräfte zwischen den beiden haben dazu geführt, dass der Mond schon vor langer Zeit mit der Venus kollidiert ist? Vielleicht gab es in der Frühzeit des Sonnensystems eine große Kollision, die den Mond zerstört hat? Vielleicht waren die Bedingungen in der Umgebung der Venus nie so beschaffen, dass sich da ein Mond bilden hätte können? Es gibt sogar die Hypothese, dass Merkur, der sonnennächste und kleinste Planet und so wie die Venus ebenfalls ohne Mond in Wahrheit früher der Mond der Venus war. Und irgendein katastrophales Ereignis in der Frühzeit des Sonnensystems dazu geführt hat, dass er aus seiner Umlaufbahn geschleudert wurde.
Das Rätsel des Venusmondes ist mittlerweile gelöst. Den gibt es nicht. Aber das viel größere Rätsel der Nicht-Existenz des Venusmondes bleibt vorerst weiterhin ohne Antwort.
Sternengeschichten Folge 618: Hypatia von Alexandria
Hypatia von Alexandria ist eine Frau, über die wir mehr wissen, als man erwarten kann. Aber auch eine Frau, von der wir sehr viel weniger wissen, als wir wissen wollen und viel weniger wissen, als angesichts ihrer Arbeit angebracht wäre. Sie ist eine Frau, über die viele Dinge erzählt werden, bei denen wir gerne wüssten, ob sie stimmen und viele Dinge erzählt werden, von denen wir wissen, dass sie falsch sind. Hypatia wird oft als die "erste Astronomin" bezeichnet, was sie vielleicht gewesen sein könnte aber vermutlich nicht war. Am besten Bescheid wissen wir über ihren Tod, und das ist doppelt tragisch, denn dieser Tod war ein gewaltsames Ende und eigentlich war es ihr Leben, das Aufmerksamkeit verdient.
Fangen wir mal mit dem an, was wir tatsächlich wissen. Hypatia von Alexandria wird so genannt, weil sie in der ägyptischen Stadt Alexandria geboren wurde, dort gelebt und dort gearbeitet hat. Sie wurde um das Jahr 360 geboren, als diese Stadt an der Küste des Mittelmeers ihren Höhepunkt erlebt hat. Dort stand der Leuchtturm von Pharos, damals das höchste Bauwerk der Welt und eines der sieben Weltwunder der Antike. Dort stand das Museion, eines der wichtigsten Forschungszentren der Antike, mit der Bibliothek von Alexandria. Von Alexander dem Großen gegründet, wurde Alexandria über 300 Jahre lang von den hellenistischen Königen der Ptolemäer beherrscht, bevor die Stadt im Jahr 30 vor Christus von den Römern erobert wurde.
Hypatias Vater war Theon von Alexandria, ein Astronom und Mathematiker. Er lehrte und forschte, wahrscheinlich im Museion, das damals vermutlich noch existiert hat, aber da fangen die historischen Unsicherheiten schon an. Theon beschäftigte sich mit den Elementen des Euklid, eines der wichtigen mathematischen Texte der Antike (und weit darüber hinaus) und mit dem "Almagest", dem Hauptwerk der antiken Astronomie, verfasst von Claudius Ptolemäus, nach dem auch das geozentrische oder eben ptolemäische Weltbild benannt ist. Beide Bücher wurden von Theon ausgiebig erläutert, übersetzt, überarbeitet und bildeten die Grundlage seiner Lehr- und Forschungstätigkeit. Über Hypatias Mutter ist nichts bekannt, sicher ist aber, dass Hypatia von ihrem Vater entsprechend mathematisch und astronomisch ausgebildet worden ist.
Sie lernte auch Philosophie, allerdings wissen wir nicht, von wem - aber sie begann dann selbst, Unterricht in Mathematik und Philosophie zu geben. Wie das abgelaufen ist, ist allerdings wieder unklar. Vermutlich nicht im Rahmen einer offiziellen Einrichtung. Wenn ihr Vater tatsächlich im Museion gelehrt hat, dann hat Hypatia das mit Sicherheit nicht getan. Aber sie hatte Schüler, unter anderem Synesios von Kyrene, der unter anderem deswegen heute noch bekannt ist, weil er versucht hat, die Lehren des Christentum mit der damals vorherrschenden Philosophie des Platonismus zu vereinen. Denn, und das wird später auch wichtig werden: Die Zeit in der Hypatia gelebt hat, war aus religiöser Sicht ganz anders als heute. Insbesondere in Alexandria: Dort lebten viele Christen, aber auch Juden und viele, die den römischen und griechischen Glaubenslehren anhingen. Hypatia war so eine "Heidin", aber vorerst war das alles kein Problem. Hypatia hatte viele Christen unter ihren Schülern; der vorhin erwähnte Synesios von Kyrene war einer davon. Von ihm stammen auch eine der wenigen echten Quellen, die wir über Hypatia haben. Einige Briefe, die er an sie geschrieben hat, haben bis heute überdauert. In einem davon informiert er sie zum Beispiel über zwei Bücher, die er gerade verfasst hat und dass er Hypatias Meinung wirklich enorm schätzt, erkennt man an der Frage, die er ihr über die mögliche Veröffentlichung stellt. "Wenn du sagst, dass ich mein Buch veröffentlichen soll, dann werde ich es den Rednern und Philosophen gleichermaßen widmen. Den ersten wird es schmeicheln und für die zweiten wird es nützlich sein, vorausgesetzt, es wird nicht von dir abgelehnt, die du als einzige fähig bist, es zu beurteilen. Wenn du das Buch aber als unwürdig für griechische Ohren befindest, wenn du, wie Aristoteles, Wahrheit mehr als Freundschaft schätzt, dann wird es von Dunkelheit eingehüllt werden und die Menschheit wird davon nie wieder hören."
Sowas schreibt man nur, wenn einem die Meinung einer Person wirklich wichtig ist… Synesios war einer der wenigen Zeitzeugen, dessen Aussagen über Hypatia heute noch existieren. Er schrieb zum Beispiel auch, dass sie im Philosophenmantel durch die Stadt gezogen ist. Dort sprach sie "für alle, die zuhören wollten, öffentlich über die Lehren des Platon oder Aristoteles“. Es gibt aber noch eine zweite zeitgenössische Quelle, den Kirchengeschichtsschreiber Sokrates Scholastikos. Auch er war Christ und auch er fand in seiner Kirchengeschichte lobende Worte für Hypatia: „Es gab in Alexandria eine Frau mit Namen Hypatia, Tochter des Philosophen Theon, die in Literatur und Wissenschaft so erfolgreich war, dass sie alle Philosophen ihrer Zeit übertraf. Viele Hörer kamen von weither, um von ihr unterrichtet zu werden. Dank ihres souveränen Auftretens und ihrer eleganten Erscheinung erscheint sie häufig in der Öffentlichkeit in Gegenwart hoher Staatsbeamter. Sie scheut sich auch nicht, in öffentliche Versammlungen von Männern zu gehen. Alle Männer bewunderten sie dafür auf Grund ihrer außerordentlichen Würde und Tugend umso mehr.“
Nun, das mit der Bewunderung mag für Synesios und Sokrates Scholastikos gelten, aber für die anderen eher nicht, wie wir noch sehen werden. Ok, wir wissen jetzt also, dass Hypatia in Alexandria gelebt und dort offensichtlich erfolgreich Philosophie und Astronomie unterrichtet hat. Was sie da aber genau gelehrt oder selbst geforscht hat, wissen wir nicht. Es war damals auch eher unüblich, selbst neue philosophisch-wissenschaftliche Richtungen zu entwickeln; stattdessen ging es darum, die Lehrern von Platon, Aristoteles und den anderen griechischen Gelehrten zu interpretieren, kommentieren und zu vermitteln. Es ist auf jeden Fall kein Text überliefert, bei dem wir sagen könnten, dass er von Hypatia verfasst wird. Man geht aber davon aus, dass sie mit ihrem Vater Theon gemeinsam am Kommentar des Almagest von Claudius Ptolemäus gearbeitet hat. Das entsprechende Werk trägt immerhin den Titel "Kommentar von Theon von Alexandria zum dritten Buch von Ptolemäus' Almagest, überarbeitet von meiner Tochter Hypatia, der Philosophin". Genaue Analysen der Texte legen aber nahe, dass es Hypatia selbst war, die den Hauptteil des Textes verfasst hat. Von ihr stammt möglicherweise auch der Abschnitt, in dem verbesserte Rechenmethoden für die astronomischen Berechnungen des Ptolemäus vorgeschlagen werden. Sie hat vermutlich auch selbst Werke geschrieben, zum Beispiel über das Buch "Kegelschnitte", das Apollonios von Perge verfasst hat. Also die Ellipsen, Parabeln, Hyperbeln usw die man erhält, wenn man einen Kegel auf die richtige Weise durchschneidet. Dieser Apollonius hat auch die Grundlage der Planetenbewegung ausgearbeitet, die später von Ptolemäus in seinem Almagest zum geozentrischen Weltbild zusammengetragen wurde.
Eine berühmte Philosophin und Astronomin, die sich einerseits sehr gut in Mathematik auskennt, andererseits auch Werke über Kegelschnitte und Planetenbewegung verfasst hat. Da könnte man ja auf die Idee kommen, dass Hyptia vielleicht wusste, dass sich die Planeten in Wahrheit auf elliptischen Bahnen bewegen und nicht auf Kreisen… Und auf diese Idee sind auch Leute gekommen, allerdings in Romanen und Kinofilmen, wo Hyptia als unerkannte Vorläuferin von Kopernikus und Kepler dargestellt wird. Wofür es absolut keinen Beleg gibt; es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass Hypatia das geozentrische Weltbild in Frage gestellt oder eine eigenständige Planetentheorie entwickelt hat. Ebenso wenig stimmt es, dass Hypatia das Astrolabium oder die Armillarsphäre erfunden hat. Über diese frühen astronomischen Instrumente habe ich ja schon in Folge 181 mehr erzählt. Es waren keine Teleskope, aber damals sehr wichtige Geräte, um Positionen von Himmelskörpern zu bestimmen. Hypatia kannte sich natürlich damit aus und sie war in der Lage, solche Geräte selbst zu konstruieren, was sie vermutlich auch getan hat.
Also: Hypatia war eine gelehrte Frau in einer Welt, in der Frauen eigentlich keine Wissenschaftlerinnen sein konnten oder sollten. Aber sie konnte sich durchsetzen und es ist schade, dass wir nicht mehr von ihr und ihrer Arbeit wissen. Wir wissen, dass sie wahrscheinlich nie geheiratet und ihr ganzes Leben in Alexandria verbracht hat. Und wir wissen definitiv, dass sie dort gestorben ist. Die ganze Geschichte ist ziemlich komplex, aber es läuft darauf hinaus, dass Hypatia Opfer eines außer Kontrolle geratenen Religionstreit geworden ist. Kyrill von Alexandria war damals der christliche Bischof der Stadt. In dieser Position hat er Stimmung gegen die Juden gemacht, die in Alexandria gelebt haben. Es kam zu Streit, zu Kämpfen, zu Plünderungen, zu Mord. Dem römischen Statthalter, Orestes, hat das gar nicht gefallen, und er hat sich in diesen Streit eingemischt. Hypatia war als Freundin oder zumindest enge Bekannte von Orestes bekannt und darüber hinaus eine Heidin: Also ein ideales Feindbild für die Christen. Um seine Position durchzusetzen, holte Kyrill einen Haufen gewaltbereiter fanatischer Mönche aus umliegenden Wüstenklöstern in die Stadt und hetzte diesen Mob auf Hypatia um dadurch Orestes zu treffen. Hypatia wurde öffentlich und sehr gewaltsam umgebracht, in Stücke gerissen und verbrannt.
Das Wissen über Hypatia hat sich seitdem im Laufe der Jahrhunderte mit Legenden vermischt. Aber wenn wir all das weglassen und nur auf das schauen, was wir tatsächlich wissen, dann können wir trotzdem festhalten: Hypatia von Alexandria war eine bemerkenswerte Frau. Und es ist schade, dass wir nicht mehr über ihr bemerkenswertes Leben wissen.
Sternengeschichten Folge 617: Metriken der Raumzeit
In dieser Folge der Sternengeschichten wird es ein wenig mathematisch. Ich werde vielleicht Begriffe verwenden wie "Differentialgeometrie", "Metrischer Tensor" oder "Minkowski-Raum". Oder nicht, mal schauen. Aber keine Sorge: Ich werde mein Bestes geben, damit am Ende alle verstehen worum es geht und es lohnt sich, zu verstehen, worum es geht, denn es geht um nichts weniger als die Form des Universums.
Aber dafür müssen wir trotzdem mit der Metrik anfangen. Dieses Wort kann verschiedene Bedeutungen haben; in der Literatur beschreibt es das Versmaß von Gedichten, in der Musik die Art und Weise wie Noten betont werden und das ist zwar alles sehr spannend - wir bleiben aber trotzdem bei der mathematischen Bedeutung. Und da ist eine Metrik eine Funktion, die zwei Punkten im Raum eine Zahl zuordnet, die man als Abstand dieser beiden Punkte definieren kann.
Warum so kompliziert, mag sich jetzt der eine oder die andere denken. Wenn ich den Abstand zwischen zwei Punkten messen will, dann mess ich den halt einfach! Warum braucht es da eine Funktion, die eine Zahl "zuordnet", die als Abstand "definiert" werden kann? Weil es halt erstens nicht so einfach ist und wir zweitens genau sein wollen, immerhin geht es um das Universum.
Ja, ich kann ein Blatt Papier nehmen, zwei Punkte draufmalen und dann mit einem Lineal den Abstand messen. Aber wenn ich das tue, dann wende ich - aus mathematischer Sicht - die sogenannte "euklidische Metrik" an, benannt nach dem griechischen Gelehrten Euklid, der vor langer Zeit die Grundlagen der Geometrie erforscht hat. Wenn wir mit dem Lineal den Abstand zwischen den Punkten messen, dann messen wir ja eigentlich die Länge einer Linie, die die beiden Punkte verbindet. Ich kann jetzt aber sehr einfach mit dieser Linie ein rechtwinkeliges Dreieck konstruieren. Das erklärt sich in einem Podcast viel schwieriger als es in der Praxis ist. Aber wenn ich ausgehend von dem einem Punkt eine Linie ziehe, die parallel zur einen Seite des Blattes verläuft und ausgehend vom anderen Punkt eine Parallele zur anderen Blattseite, dann schneiden die sich in einem rechten Winkel. Und mit der Verbindungslinie zwischen den beiden Punkten kriege ich ein rechtwinkeliges Dreieck. Und was gilt bei einem rechtwinkeligen Dreieck? Genau, der Satz von Pythagoras, den wir alle aus der Schule kennen. a²+b²=c². Oder anders gesagt: Ich kann die Länge der Verbindungslinie berechnen, wenn ich die Länge der beiden anderen Seiten kenne und die kenne ich, weil ich ja weiß, wo die Punkte sind. Oder nochmal anders und mathematisch genauer gesagt: Aus den zweidimensionalen Koordinaten meiner beiden Punkte kann ich - mit dem Satz von Pythagoras - sehr leicht eine Funktion definieren, die mir als Ergebnis den direkten Abstand der Punkte liefert. Wer es genau wissen will: Wenn die Koordinaten der beiden Punkte x1/y1 und x2/y2 sind, dann beträgt der Abstand zwischen ihnen genau (x2-x1)² + (y2-y1)² und daraus noch die Wurzel.
Ich weiß, das waren jetzt schon viele Zahlen und Formeln. Aber wenn man ein bisschen drüber nachdenkt, war es auch nicht schlimm. Und notwendig, weil wir dieses Konzept der Metrik wirklich brauchen, wenn wir die Form des Universums verstehen wollen. Beziehungsweise nicht dieses spezielle Konzept der euklidischen Metrik, aber die allgemeine Idee. Denn es gibt jede Menge Metriken! Das mag überraschend klingen - wieso braucht man mehr als eine Art, einen Abstand zu definieren? Entweder zwei Punkte sind 10 Meter voneinander entfernt oder nicht? Aber wie gesagt: So einfach ist es nicht. Stellt euch mal vor, ihr seid in New York, in Manhattan, wo die Straßen ein Gitter bilden. Wenn ich jetzt wissen will, wie weit es von einer Ecke in Manhattan zu einer anderen ist, dann hilft mir die euklidische Metrik wenig. Die gibt mir ja den direkten Abstand, also quasi die Luftlinie. Und wenn ich nicht mit dem Flugzeug unterwegs bin, dann hilft mir das nichts. Ich kann ja nicht schnurgerade durch die Stadt gehen, Hochhäuser raufklettern und wieder runter. Ich muss den Straßen und den rechten Winkeln folgen. Und brauche deswegen eine andere Funktion, mit der ich den Abstand berechnen kann beziehungsweise eine andere Metrik. Die heißt übrigens auch "Manhattan-Metrik" und hat tatsächlich Anwendungen abseits der Navigation durch amerikanische Großstädte, aber das würde jetzt zu weit führen.
Wir wollen uns ja um das Universum kümmern. Und auch da kommen wir mit der euklidischen Metrik nicht weit. Zuerst mal, weil das Universum kein zweidimensionales Blatt Papier ist. Wir haben drei Raumdimensionen, was aber noch kein Problem wäre. Das mit den Dreiecken und der euklidischen Metrik lässt sich problemlos auf drei Dimensionen erweitern. Aber der Raum ist ja nicht nur dreidimensional, sondern auch gekrümmt. Das wissen wir dank Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und das macht die Sache schwierig. Jede Masse krümmt den Raum und wir müssen trotzdem einen Weg finden, um die Abstände zu bestimmen.
Stellen wir uns nochmal das Blatt Papier vor. Nur legen wir es jetzt nicht flach auf den Boden, sondern streuen vorher noch nen Haufen unterschiedlich große Murmeln aus und legen das Blatt darauf. Jetzt wird es jede Menge Buckel im Papier geben und wir kommen mit den Dreiecken und dem Satz von Pythagoras nicht mehr weiter, wenn wir den kürzesten Abstand zwischen zwei Punkten messen wollen. Die Linien, die wir zwischen den Punkten ziehen, werden gebogen sein; wir können sie um die Buckel herum ziehen oder oben drüber - aber es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, welche davon länger oder kürzer sind.
Dasselbe Problem haben wir auch beim Universum. Der Raum ist gekrümmt und im Prinzip an jedem Punkt unterschiedlich stark. In der Nähe von Sternen stärker als im leeren Weltraum; in der Umgebung von schwarzen Löchern so stark, dass wir uns schwer tun zu verstehen, was da abgeht. Und so weiter. Aber trotzdem wollen wir das irgendwie untersuchen können, zumindest mathematisch. Genau das war das Problem, vor dem Albert Einstein gestanden ist, als er seine Allgemeine Relativitätstheorie formuliert hat. Zu sagen: "Massen krümmen die Raumzeit" und "Objekte folgen bei ihrer Bewegung der Krümmung" ist das eine. Das auch mathematisch exakt aufzuschreiben, das andere. Aber am Ende hat Einstein es geschafft und das Ergebnis waren seine berühmten Feldgleichungen. Ich erspare es mir (und euch), die jetzt im Detail zu erklären. Aber im Wesentlichen ist ein Satz von mathematischen Gleichungen, bei denen auf der einen Seite ein Krümmungstensor steht und auf der anderen der Energie-Impuls-Tensor.
Und vor dem Wort "Tensor" muss man auch keine Angst haben, das ist eigentlich nur ein aufgemotzter Vektor. Und was ein Vektor ist, ist simpel. Ein Vektor ist eine Zahl mit einer Richtung. Ok, das ist vielleicht ein bisschen zu vereinfacht. Aber nehmen wir zum Beispiel die Geschwindigkeit. Wenn ich sage, dass ich mit 25km/h die Straße entlang fahre, dann meine ich normalerweise auch genau das: Gemessen an der Distanz die ich auf der Straße zurücklege, bewege ich mich mit 25km/h. Ich kann aber genau so gut sagen, dass ich mich gerade mit 17,7 km/h Richtung Norden und gleichzeitig mit 17,7 km/h in Richtung Westen bewege, nämlich dann, wenn die Straße exakt in Richtung Nordwesten verläuft. Auf der Straße interessiert mich das normalerweise nicht, aber ganz allgemein ist es durchaus sinnvoll, bei einer Geschwindigkeit nicht den absoluten Wert anzugeben, sondern den Anteil, mit dem man sich jeweils in eine der drei Raumrichtungen bewegt. Statt einer Zahl hat man also jetzt drei Zahlen, die man braucht, um zu sagen, wie schnell etwas ist und diese drei Zahlen zusammen sind ein Vektor.
Man kann das Konzept von Vektoren auch ohne physikalische Anwendung und ganz abstrakt definieren; man kann mit Vektoren rechnen wie mit normalen Zahlen; zumindest dann, wenn man die entsprechenden Rechenregeln kennt. Und so weiter. Und man kann das Konzept des Vektors noch erweitern. Einen Vektor kann man sich als eine Liste von Zahlen vorstellen, im Beispiel der Geschwindigkeit eben als Liste von drei Zahlen. Einen Tensor kriege ich, wenn ich aus der Liste eine Tabelle mache. Klingt kompliziert, aber stellen wir es uns so vor: Angenommen wir haben irgendein Material, das sich verformen lässt. Ich kann in der einen Richtung dran ziehen, in der anderen Richtung, ich kann es zusammendrücken, verdrehen, und so weiter. Es ist klar, dass auch hier die Richtung eine Rolle spielt. Vielleicht ist das Material sehr leicht zu dehnen, wenn ich in die eine Richtung ziehen, aber sehr schwer, wenn man an den anderen Seiten zieht? Will man das mathematisch beschreiben, dann muss man das Verhalten für jede Richtung definieren. Und um dieses Verhalten zu beschreiben, brauche ich im Allgemeinen ebenfalls mehr als nur eine Zahl, weil es zum Beispiel davon abhängt, wie schnell die Verformung abläuft und die Geschwindigkeit, wie wir ja schon wissen, ein Vektor mit drei Zahlen ist.
Um das Verzerrverhalten zu beschreiben kriege ich am Ende also einen Vektor, bei der jeder Eintrag selbst wieder ein Vektor ist. Oder, wenn ich das ganze ein wenig anders aufschreibe, eine Tabelle aus Zahlen, die in der Mathematik eine "Matrix" genannt wird. Oder, noch genauer, als "Tensor zweiter Stufe". Ein Vektor ist dann ein Tensor erster Stufe, weil die Zahlen hier - vereinfacht gesagt - nur eine Spalte bilden, während sie bei einer Matrix in Spalten und Reihen, also zweidimensional, organisiert sind. Eine simple Zahl, ohne irgendwas, wäre dann logischerweise ein Tensor nullter Stufe und nach oben kann man das auch beliebig erweitern. Ich kann meine Zahlen auch in einem dreidimensionalen Gitter anordnen, wenn das nötig ist und kriege einen Tensor dritter Stufe, und so weiter. Irgendwann kann man sich das nicht mehr vorstellen, aber mathematisch aufschreiben und damit rechnen ist kein Problem.
Aber jetzt wieder zurück zu Einstein und seinen Gleichungen. Mit simplen Zahlen kommt man da nicht weit, mit Vektoren auch nicht. Wir haben ja nicht nur einen dreidimensionalen Raum sondern genaugenommen eine vierdimensionale Raumzeit. Und wenn ich beschreiben will, wie die gekrümmt werden kann, dann muss man das so ähnlich anstellen, wie ich es gerade im Beispiel des verzerrten Materials erklärt habe. Nur dass es sehr viel komplizierter ist, natürlich. Am Ende kriegt man aber eben etwas, dass sich - nach einem italienischen Mathematiker - der "Ricci-Krümmungstensor" nennt. Und auf der anderen Seite der Gleichung steht der Energie-Impuls-Tensor, der beschreibt, wie viel Energie und Masse sich in einem bestimmten Punkt der Raumzeit befindet, beziehungsweise wie viel Energie und Masse durch diesen Punkt hindurch fließt. Das ganze Zeug im Universum ist ja dynamisch und das muss man berücksichtigen. Das ist jetzt alles enorm vereinfacht, aber im wesentlichen ist das das Herzstück von Einsteins Theorie: Eine Gleichung mit zwei Tensoren, einer beschreibt wie sich der Raum krümmt und der andere, wie viel Energie und Masse sich irgendwo befinden.
Eine Gleichung zu haben ist das eine. Sie zu lösen, das andere. Bei den Einsteinschen Feldgleichungen ist das alles andere als einfach. Aber wenn man sie löst, dann ist das Ergebnis eine Metrik. Also eine Funktion, die mir sagt, wie die Abstände in der Raumzeit berechnet werden. Und erinnern wir uns an den Anfang der Folge, als ich von der euklidischen Metrik und der Manhattan-Metrik erzählt habe. Je nachdem wie der Raum beschaffen ist - eine zweidimensionale Fläche oder ein Gitter aus Straßen - haben wir eine andere Metrik gebraucht. Im Umkehrschluss heißt das: Wenn ich die Metrik kenne, kann ich daraus ableiten, wie die Geometrie des Raumes aussieht, die sie beschreibt. Wenn ich also die Einsteinschen Feldgleichungen löse und eine Metrik finden kann, dann kann ich daraus die Geometrie der Raumzeit ableiten oder anders gesagt: Die Form des Universums.
Das war jetzt sehr viel, aber auch sehr notwendige Mathematik um die Frage zu beantworten: Welche Form hat das Universum denn jetzt? Die Antwort lautet: Kommt drauf an. Es kommt darauf an, welche Annahmen man über den Energie-Impuls-Tensor trifft. Wüssten wir exakt, wie viele Masse und Energie an welchen Punkten des Universums existiert, dann - ok, könnten wir die Gleichungen immer noch nicht lösen, weil das absurd komplex wäre. Aber das wissen wir ja sowieso nicht. Alle bisherigen Lösungen der Einsteinschen Gleichungen gehen von stark vereinfachten Annahmen aus. Man kann zum Beispiel voraussetzen, dass die gesamte Materie und Energie komplett gleichmäßig in allen Richtungen im Universum verteilt ist. Das ist etwas, was zumindest in grober Näherung für das Universum das wir beobachten, korrekt ist. Da gibt es keine Ecken, in denen absurd viel mehr Galaxien zu finden sind als anderswo. Und wir können voraussetzen, dass sich die Abstände im Laufe der Zeit ändern können. Auch das basiert auf Beobachtungsdaten, nämlich der Beobachtung der Expansion des Universums. Wenn wir damit probieren, die Einsteinschen Gleichungen zu lösen, kriegen wir etwas, was sich Friedmann–Lemaître–Robertson–Walker-Metrik nennt, nach den vier Wissenschaftlern, die genau das getan haben. Mit dieser Metrik kann man unser reales Universum halbwegs gut beschreiben; wir kriegen einen expandierenden Kosmos, können aber leider immer noch nichts über dessen genaue Form aussagen. Darüber habe ich in Folge 398 der Sternengeschichten genauer gesprochen. Solange wir nicht auch wissen wie VIEL Materie und Energie insgesamt im Universum ist, wissen wir nicht, wie es als ganzes insgesamt gekrümmt ist oder ob es überhaupt gekrümmt ist. Anders gesagt: Wir wissen nicht, ob es das vierdimensionale Äquivalent einer Kugel oder eines Blatt Papiers ist.
Wir könnten auch sagen, dass das Universum gar keine Materie enthält. Das ist zwar offensichtlich falsch, macht aber die Berechnung einfacher und dann kriegen wie eine De-Sitter-Metrik beziehungsweise einen De-Sitter-Kosmos. Das klingt zwar nach einer unnötigen mathematischen Übung, aber solche De-Sitter-Modellen waren in der Anfangszeit der Kosmologie wichtig, um überhaupt irgendwie zu verstehen, wie die Feldgleichungen funktionieren. Und tatsächlich war das Universum ganz zu Beginn ja vielleicht wirklich näherungsweise ein De-Sitter-Raum, es hat ja ein paar Sekundenbruchteile gebraucht, bis die Materie entstanden ist.
Es gibt noch jede Menge andere Metriken, zum Beispiel die Anti-De-Sitter-Metrik, die uns schon mal bei der Folge 538 über das holografische Universum. Oder die Gödel-Metrik aus Folge 354: Da hat der Mathematiker Kurt Gödel vorausgesetzt, dass das Universum als ganzes rotiert und am Ende eine Metrik rausbekommen, nach der Zeitreisen möglich sind. Aber wie gesagt: Nur weil man das ausrechnen kann, folgt daraus nicht, dass es auch so ist. Einsteins Gleichungen sind enorm mächtig. Sie können nicht nur ein Universum beschreiben, sondern jede Menge. Und wir müssen uns noch sehr viel länger mit der Metrik beschäftigen, wenn wir wissen wollen, welches davon unser eigenes ist.
Sternengeschichten Folge 616: Verschwundene Sterne
Zwischen den 1950er und den 2020er Jahren sind ein paar tausend Sterne vom Himmel verschwunden. Das klingt mysteriös. Das ist auch ein wenig mysteriös, wie wir in dieser Folge hören werden. Aber um zu verstehen, was daran mysteriös ist, muss ich zuerst einmal erklären, worum es hier eigentlich geht.
Ein verschwindender Stern ist erstmal kein Rätsel. Wir wissen, dass Sterne nicht ewig existieren können. Wenn der Wasserstoff durch die Kernfusion in ihrem Inneren aufgebraucht ist, können sie nicht mehr so leuchten wie sie das Millionen oder Milliarden Jahre lang getan haben. Was dann passiert, habe ich hier schon oft erzählt. Je nach Masse des Sterns wird daraus entweder ein weißer Zwerg, ein Objekt so groß wie die Erde in dem keine Kernfusion mehr stattfindet. Oder aber es gibt eine Supernova-Explosion und übrig bleibt vom Stern nur noch ein schwarzes Loch oder ein Neutronenstern.
Dann ist der Stern zwar kein Stern mehr in dem Sinne, wie wir "Stern" definieren. Es handelt sich nicht mehr um ein Objekt, in dem für eine relevant lange Zeit durch Kernfusion Wasserstoff in Helium umgewandelt wird. Aber das, was aus dem Stern geworden ist, ist nicht unsichtbar. Weiße Zwerge sind zwar klein, aber sind immer noch enorm heiß und leuchten entsprechend. Wir können sie beobachten und haben sie auch beobachtet. Eine Supernova-Explosion gehört zu den hellsten Ereignissen im Universum, die kann man definitiv beobachten und wenn ein Neutronenstern übrig bleibt, ist der zwar vergleichsweise schwer zu sehen, aber auch das haben wir schon geschafft. Gut, ein schwarzes Loch kann man tatsächlich nicht sehen, zumindest nicht direkt. Aber die Supernova-Explosion die davor stattfindet, hätten wir eben nicht verpasst. Wenn zwischen 1950 und jetzt ein Stern also verschwindet, ohne das wir eine Supernova gesehen haben und auch keinen weißen Zwerg oder ähnliches sehen können, dann ist das durchaus etwas, was man sich genauer ansehen kann.
Im Jahr 2020 hat sich das Projekt VASCO gegründet, unter der Leitung der schwedischen Astronomin Beatriz Villarroel, zusammen mit diversen Forscherinnen und Forschern aus Schweden und Spanien. "VASCO" steht für "Vanishing and Appearing Sources during a Century of Observations", auf deutsch "Verschwundene und aufgetauchte Quellen während eines Jahrhunderts an Beobachtungen". Es geht dabei darum, alte Aufnahmen des Himmels mit neuen zu vergleichen und nach Unterschieden zu suchen. Das klingt einfach, ist aber am Ende doch ziemlich kompliziert.
Beim VASCO-Projekt hat man mit dem Palomar Observatory Sky Survey, kurz "POSS" begonnen. Das ist eine Himmelsdurchmusterung die zwischen 1948 und 1958 an der Palomar-Sternwarte in Kalifornien durchgeführt wurde. Warum man solche Durchmusterungen macht, habe ich ja schon in den Folgen 370 und 441 ausführlich erklärt. Aber es ist ja auch nicht schwer zu verstehen, warum man sich die Mühe macht, und einfach mal alles fotografiert, was man am Himmel sehen kann. Genau so wie wir Landkarten brauchen, brauchen wir auch möglichst gute Himmelskarten, wenn wir irgendwas in der Astronomie erreichen wollen. POSS hat den nördlichen Himmel komplett abgedeckt und dafür insgesamt 936 Fotoplatten belichten müssen. Digitale Aufnahmen gab es damals natürlich noch nicht. Heute aber schon und weil Durchmusterungen des Himmels so enorm wichtig für die Astronomie sind, haben wir sie immer wieder gemacht und mit immer besseren Instrumenten.
2019 wurde die Pan-STARRS DR2 Datenbank veröffentlicht, die immerhin schon 10 Milliarden Einträge enthält. Nicht alles davon sind Sterne und es gibt diverse zusätzliche Informationen. Aber es sind auf jeden Fall mehr und bessere Informationen enthalten als im alten POSS-Katalog. Und im 2022 veröffentlichten Gaia DR3 Katalog, der mit dem Weltraumteleskop GAIA erstellt wurde, finden sich tatsächlich 1,8 Milliarden Sterne, mehr als in jedem anderen Katalog zuvor. Diese drei Kataloge wurden im VASCO-Projekt abgeglichen. Und man kann sich vorstellen, dass das keine einfache Aufgabe ist. Das muss automatisiert werden und man muss natürlich berücksichtigen, dass zwischen den Aufnahmen früher und heute ein paar Jahrzehnte vergangen sind; man muss die Koordinatenangaben entsprechend umrechnen; muss berücksichtigen dass man es im einen Fall mit analogen Fotografien zu tun hat und in den anderen mit digitalen Daten, und so weiter. Man muss auch berücksichtigen, dass sich Sterne bewegen. Nicht so viel, dass es auf den Bildern groß auffällt, aber wenn man genau sein will - und das will man hier - dann muss man das beachten und darf nicht nur an der exakt selben Stelle des Himmels suchen. All das und noch viel mehr haben die Forscherinnen und Forscher entsprechend in automatische Such- und Abgleichprogramme eingebaut. Und nach einer ersten Analyse wurden immerhin 298.165 Objekte entdeckt, die im alten POSS-Katalog vorhanden waren, in den neuen aber nicht. Das sind ziemlich viele, aber nachdem man noch zusätzliche Daten aus weiteren Katalogen verwendet hat, konnte man die Zahl auf 9395 reduzieren. Fast 10.000 Sterne, die in den 1950er Jahren fotografiert wurden, waren in den modernen Katalogen nicht mehr zu finden.
Fast 10.000 verschwundene Sterne sind eine Menge. Im nächsten Schritt wurde also geschaut, ob es sich vielleicht bei manchen nicht um Sterne handelt, sondern um Asteroiden. Bei solchen Durchmusterungen geht es ja vor allem darum, möglichst viele und gute Bilder des Himmels zu machen. Die Zeit, all die Millionen Lichtpunkte auch im Detail zu analysieren hat man da nicht. Es kann also gut sein, dass ein paar der Lichtpunkte aus den alten Katalogen in Wahrheit Asteroiden unseres Sonnensystems waren, die sich dann natürlich weiterbewegt haben und in den neuen Datenbanken nicht mehr zu finden sind. Aber auch das kann man entsprechend prüfen und dieser Prozess hat die Zahl der verschwundenen Objekte auf 9206 reduziert.
Eine weitere Prüfung der Daten hat sich mit der Veränderlichkeit beschäftigt. Wie gut eine Durchmusterung ist, hängt ja auch von der Genauigkeit des Teleskops ab, mit dem sie gemacht wird. Es gibt jede Menge Sterne, die ihre Helligkeit periodisch verändern, wie ich in den Folgen 64 und 65 ausführlich erklärt habe. Wenn ein Stern zum Zeitpunkt der Aufnahme in den 1950er Jahren gerade hell genug war, um fotografiert zu werden und bei den modernen Durchmusterungen aber gerade in einer dunkleren Phase, dann kann es so aussehen, als wäre er verschwunden. Das war nach Abgleich diverser Datenbanken bei 35 der verschwundenen Objekten der Fall, es bleiben aber immer noch 9171 übrig.
Und dann gibt es ja noch die "Artefakte". Damit ist nichts außerirdisches gemeint, sondern schlicht alle möglichen Bildfehler, optischen Fehler, Kratzer auf den alten Fotoplatten, Fehler die beim Digitalisieren der Daten gemacht wurden, und so weiter. Diese Prüfung war sehr effektiv und hat die Zahl der verschwundenen Sterne auf 5579 reduziert.
Wer sich jetzt fragt: Wie ist das mit Satelliten? Die könnten ja auch auf einer alten Aufnahme drauf sein und auf einer neueren nicht. Prinzipiell ja. Aber der erste Satellit - Sputnik - wurde von uns erst 1957 gestartet und da war der überwiegende Teil der Aufnahmen des Palomar Observatory Sky Survey schon fertig.
Eine letzte Prüfung hat dann noch nach Sternen geschaut, die sich deutlich schneller bewegen als üblich und die sich in der Zeit zwischen den alten und neuen Durchmusterung überdurchschnittlich weit bewegt haben und dadurch von den automatischen Programmen nicht als derselbe Stern erkannt worden sind. Am Ende sind noch 5399 verschwundene Sterne übrig geblieben.
Und die sind das tatsächliche Rätsel. Bei diesen 5399 Objekten gab es keine simple Möglichkeit, zu erklären, warum sie auf den alten Bildern zu sehen sind, auf den neuen aber nicht. Aber es gibt natürlich ein paar komplexere Möglichkeiten. Es könnte sich um "Dunkle Supernovae" handeln - davon habe ich in Folge 544 ausführlich gesprochen. Also um Sterne, die so massereich sind, dass sie quasi direkt zu einem schwarzen Loch kollabieren. Sie haben gar keine Chance, bei einer Supernova hell zu explodieren. Wir wissen, dass es sowas theoretisch geben kann, aber auch, das so etwas sehr, sehr selten sein muss. Mehr als 5000 solcher dunklen Supernovae in den letzten Jahrzehnten: Das ist definitiv zu viel.
Es kann auch sein, dass der Gravitationslinseneffekt verantwortlich ist. Masse krümmt den Raum und Licht folgt der Raumkrümmung. Wenn zum Beispiel von uns aus gesehen eine ferne Galaxie und ein näherer Stern genau hintereinander stehen, kann das Licht der Galaxie so gekrümmt werden, dass uns die Galaxie deutlich heller erscheint als sie ist. Wenn sich der Stern - die Gravitationslinse - dann ein kleines Stückcken bewegt hat, ist alles wieder normal und die Galaxie verblasst. So was gibt es, sowas haben wir schon beobachtet - aber so etwas erkennen wir normalerweise auch.
Was ist mit Aliens? Die sind natürlich auch als Erklärung angeführt werden. Ja, theoretisch kann man sowas wie eine Dyson-Sphäre bauen, eine Hülle um einen Stern herum, um dessen gesamte Energie zu nutzen. Und wenn ich "theoretisch" sage, dann meine ich, dass wir uns sowas vorstellen können, nicht, dass wir auch annähernd in der Lage dazu wären. Und abgesehen davon, dass so eine Dyson-Sphäre auch nicht unsichtbar ist, wäre es schon ein wenig überraschend, wenn da gleich ein paar tausend von den Dingern in den letzten Jahrzehnten fertiggestellt worden wären.
Am wahrscheinlichsten ist es, dass es sich bei den "verschwundenen" Sternen um Sterne handelt, die sehr stark veränderlich sind. Also Sterne, die damals gerade extrem hell waren und später extrem dunkel. Es gibt ja wirklich viele Sterne da draußen und wir wissen bei den allermeisten von ihnen kaum Details, weil wir schlicht und einfach nicht alle im Detail erforschen können.
Wir können also davon ausgehen, dass die verschwundenen Sterne in Wahrheit gar nicht verschwunden sind. Sondern ihre Helligkeit stärker verändern oder sich schneller bewegen also wir das mitgekriegt haben. Was nicht bedeuten soll, dass das ganze VASCO-Projekt Zeitverschwendung ist. Ganz im Gegenteil: Gerade wenn wir etwas wirklich neues entdecken wollen, müssen wir solche großangelegten Datenvergleiche durchführen. Irgendwann wird vielleicht einmal ein Stern verschwinden, bei dem wir das WIRKLICH nicht mehr erklären können, und dann wird es spannend werden…
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