SWR Kultur lesenswert - Literatur

Vom Leben in einem Erdloch


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Auch Rumänien hatte seinen Gulag. Fast fünf Jahre verbrachte András Visky mit seiner Mutter Julia und den sechs Geschwistern in Lagern in der am südöstlichen Rand des Landes gelegenen Bărăgan-Steppe.
Er war als jüngstes der Kinder gerade einmal zwei Jahre alt, als die zur ungarischen Minderheit gehörende Familie 1959 deportiert wurde. Zuvor hatte die Securitate den Vater, einen dissidentischen Pfarrer, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt.
22 Jahre lautete das Urteil für den aufmüpfigen Mann, zu dessen Predigten die Leute strömten, anstatt dem Werben der kommunistischen Partei nachzugeben. Jetzt hat András Visky – mit 68 Jahren – einen Roman über die Geschehnisse aus kindlicher Ich-Perspektive geschrieben, die in einen Dialog mit anderen Stimmen tritt.
Im Zentrum steht die Zeit in verschiedenen Lagern, gerahmt von der Verhaftung und schließlich der Wiederbegegnung mit dem vorzeitig entlassenen Vater.
„Ich wusste immer, dass dies das Buch ist, das ich schreiben muss. Ich bin wegen dieses Buches Schriftsteller geworden. Aber ich hatte große Schwierigkeiten mit der Form und der Art und Weise, mich als siebtes Kind meiner Familie auszudrücken.“
Als Julia mit ihren Kindern im Arbeitslager ankommt, gibt es keine freie Baracke. Die Familie solle sich stattdessen ein Erdloch suchen, erklärt der Lagerkommandant.
Als ein anderer Grubenbewohner, der passenderweise Grüber heißt, Julia vorschlägt, sie könne mit ihren Kindern in seine Erdhöhle ziehen, es sei die geräumigste im ganzen Lager, lehnt sie ab, denn sie liebe ihren Mann. Doch das ist für Grüber kein Hinderungsgrund, schließlich liebe auch er seine Frau.
Kälte und Hunger
Genau das, ihre ungebrochene Liebe zu ihren Ehepartnern, sei der Beweis, dass sie füreinander bestimmt seien, ja, auch seine Kinder liebe er unsterblich, genauso wie unsere Mutter, er könne sie ihr zeigen, falls sie sie sehen möchte, ihre Knochen seien alle in der Grube, die seiner Frau und die seiner Kinder, und dort würden sie auch bleiben, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts, zusammen mit den anderen Skeletten.

Quelle: András Visky – Die Aussiedlung

Knochen kommen immer wieder zum Vorschein. Die Deportierten sterben an Kälte und Hunger. Wer es nicht mehr aushält, der geht in die Donau. Die anderen versuchen sich irgendwie einzurichten.
Julia solle ihren Ehemann vergessen, denn den werde sie ohnehin nicht wiedersehen, wird ihr geraten. Aber sie ist nicht bereit, ihren Mann aufzugeben.  
Nein, sagte Mutter in ihrem Herzen, ich werde nicht auf ihn verzichten und werde ihn nicht freilassen, ich soll ihn im Gefängnis freilassen, der Satz allein klingt wie ein Scherz, das werde ich weder auf Aufforderung eines Menschen noch auf Gottes Aufforderung tun, ich werde um ihn kämpfen, und auch um meine Kinder werde ich kämpfen, solange mich die Seele trägt.

Quelle: András Visky – Die Aussiedlung

Realität und Fiktion
In einer Vorbemerkung hat András Visky „Die Aussiedlung“ als „eine Fiktion“ charakterisiert. Das Buch sei „der Phantasie eines irgendwie erwachsen gewordenen Kindes entsprungen, das seine mehrjährige Gulag-Erfahrung einfach nicht von seinen Phantasmen zu trennen vermag“.
Das ist eine deutliche Warnung davor, den Roman als Tatsachenbericht zu lesen. Der Hinweis ist schon deshalb angebracht, da Visky zur Lagerzeit noch im Vorschulalter war.
Andererseits hat der Autor ausgiebige Recherchen betrieben, wie in den Text eingefügte Dokumente zeigen. Und er kann sich nicht zuletzt auch auf andere Erfahrungen stützen.
„Die Erinnerung des siebten und jüngsten Kindes ist eine Mischung aus den Erinnerungen der Familienmitglieder. Für mich ist die Realität grundsätzlich nicht von der Fiktion zu trennen. Es ist eine natürliche Art, die Realität zu verstehen, die uns umgibt.
In 822 durchnummerierten Prosaminiaturen, die oft nicht länger als eine halbe Seite sind, entsteht ein komplexes Mosaik des Lagerlebens. Manche Sequenzen sind schärfer herausgearbeitet, andere bleiben dunkler – ganz so, wie die Erinnerung manches klarer und anderes verschwommener hervortreten lässt.
Als Spiegel eines Rückbesinnungsprozesses ist das schlüssig. Aber Visky hat mit der losen Aneinanderreihung unterschiedlicher Erinnerungssplitter, die von einem eigentümlichen Gleichmut und einem beinah unerschütterlichen Weltvertrauen geprägt sind, noch mehr im Sinn.
„Ich wollte meinen Lesern die Freiheit geben, kein dickes Buch in den Händen zu halten, sondern eines, das sie selbst kreieren können. Wenn man das Buch aufschlägt, liest man zunächst einen kleinen Ausschnitt, und wenn ich als Autor Glück habe, lädt dieser Ausschnitt dazu ein, die große Geschichte, die ganze Geschichte, zu entwickeln.“
Vater – der Erlöser
Die Struktur der Bibel habe ihn inspiriert, sagt der Autor. Gott ist in der tiefgläubigen Familie Visky immer präsent. Der Ich-Erzähler sieht in den biblischen Geschichten das eigene Schicksal gespiegelt. Als Erlöser werde der Vater kommen und die Familie retten, ist sich das Kind gewiss.
Aber wo ist Gott? Wo ist er, als die Mutter vergewaltigt wird? Wo ist er, als das älteste Kind erblindet? Je länger die Lagerhaft dauert und je verzweifelter die Lage der Insassen ist, umso herausfordernder und respektloser werden die Zwiegespräche mit dem himmlischen Vater.
Nun ja, sie müsste sich jetzt auf Gott stützen, denkt Mutter am Grabenrand, doch dazu müsste Gott existieren, das wäre die Lösung, wenn er hier im Lager wäre und sie sich auf ihn stützen könnte, eine wirklich ernstzunehmende Ausrede ist es wohl nicht, dass er deshalb nicht da ist, weil er überall ist, überall ist nicht identisch mit nirgends.

Quelle: András Visky – Die Aussiedlung

Es gibt neben der Bibel noch andere wichtige literarische Bezugspunkte. An einer Stelle seines Romans, der die Tradition großer Lagerliteratur fortschreibt, spricht András Visky von der Schicksalslosigkeit der Deportierten. Es ist eine Hommage an den ehemaligen KZ-Häftling Imre Kertész.
Dass die Mitglieder der Familie Visky das Lager als den für sie richtigen Ort in einem diktatorischen System akzeptieren, ist irritierend, aber auch einleuchtend. Nur hier können sie ihre Identität und ihre innere Freiheit wahren. Davon, vom Widerstehen, erzählt dieser erschütternde und erstaunliche Roman.
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