SWR Kultur lesenswert - Literatur

Barbara Kingsolver – Die Unbehausten


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Ein marodes Haus – eine zerbrechende Welt
Unter jedem Dach ein Ach. Ja, im Haus der Familie von Willa Knox stapeln sich die Sorgen. Sie hat ihren Job als Journalistin verloren, ihr Mann Ianos hangelt sich als Dozent von Uni zu Uni, Opa Nick ist todkrank und ohne Krankenversicherung, Tochter Tig steht mit einem gebrochenen Herzen wieder vor der Tür und Sohn Zeke ist völlig verzweifelt.
Seine Frau hat sich gerade, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes, das Leben genommen. – Ein schlecht bezahlter Brötchenverdiener und fünf, die von ihm abhängig sind, und das auch noch in einem maroden Haus, das über ihnen einzustürzen droht.
Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? […] ‚Wir haben verloren, wofür wir gearbeitet haben, und ich fühle mich betrogen. Manchmal bin ich so wütend, dass ich aus der Haut fahren könnte. Ist es nicht einfach menschlich, immer etwas zu wollen?’

Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten

150 Jahre zuvor, 1874, stürzt im gleichen Haus der Naturkundelehrer Thatcher Greenwood ins Bodenlose. Hier in Vineland, New Jersey, gerät er mit dem Gründer des Örtchens, Charles Landis, aneinander, einer christlichen Freidenker-Kolonie, weil er der neuen Evolutionstheorie von Charles Darwin anhängt. Thatcher soll zum Schweigen gebracht werden.
Zwei Zeiten, ein Schicksal – und ein literarisches Wagnis
Zwei Zeitebenen: Ein Mensch sagt die Wahrheit und wird dafür geschmäht, auf der einen Seite und zwei Menschen, die ihr Leben lang arbeiten und trotzdem in eine existenzielle Krise geraten auf der anderen.
Eine Frage: Was passiert, wenn sich alle Gewissheiten auflösen, alles, woran man immer geglaubt hat, auf einmal anders ist? Davon erzählt Barbara Kingsolver in ihrem Roman „Die Unbehausten“.
Kingsolver erzählt: „Ich habe mich für den Paradigmenwechsel interessiert, wenn die alten Regeln, mit denen wir unsere Lebensprobleme gelöst haben, ausgehebelt werden. Wenn sich die Welt so drastisch zu verändern scheint, dass die Menschen ihre gesamte Denkweise ändern müssen, um die Probleme zu begreifen.“
Und um begreifbar zu machen, dass die Welt immer wieder in existenzielle Umbrüche gerät, verwebt Kingsolver die zwei Zeitebenen miteinander. Die Verbindung ist das baufällige Haus, in dem ihre Protagonisten leben. Ein Scharnier und eindrückliche Metapher für eine Welt, die über ihren Köpfen zusammenzubrechen droht.
Mit dieser Konstruktion geht Kingsolver ein erzählerisches Risiko ein, immerhin liegen die Ebenen 150 Jahre auseinander. Doch sie beweist sich als geniale literarische Architektin. Der letzte Satz eines Kapitels ist die Überschrift des nächsten.
Es entsteht eine Spiegelung, die einen Reflexionsraum eröffnet: Unser Körper, das soziale Gefüge, die Erde selbst, im Grunde wie wir die Welt wahrnehmen, verändert sich ständig. „Ich denke, dass sich die Menschen unter bestimmten Umständen immer auf bestimmte Weise verhalten, egal wo wir uns in der Geschichte befinden,“ meint die Autorin.
„Und da ich als Biologin ausgebildet wurde, schien es mir angemessen, auf Darwin zurückzukommen. Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie verwirrend es für Menschen gewesen sein muss, die immer geglaubt haben, dass Gott die Welt so geschaffen hat, wie sie ist und dass er den Menschen an die Spitze der Schöpfung gestellt hat, dass wir der Boss sind.“
Evolution, Erschütterung und Erkenntnis
Darwin hat die Welt mit seiner Evolutionstheorie auf den Kopf gestellt. Heute ist diese Erkenntnis selbstverständlich.
Seit Anbeginn der Geschichte hatte sich wohl jeder Mensch ans Kopfende der Tafel gesetzt. Wenn nun die Tafel umgeworfen wurde, wenn Geschirr und Besteck klirrend zu Boden fielen und der Mensch seinen Platz verlor, war das, als würde der Himmel einstürzen. Thatcher hatte Darwin und seine Lehre noch nie in diesem bedrohlichen Licht betrachtet. […] ‚Lehren Sie sie, die Beweise selbst zu sehen und sich nicht davor zu fürchten. Im hellen Licht des Tages zu stehen, wie Sie mal gesagt haben. Unbehaust.’

Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten

Heute muss der Mensch durch den Klimawandel und die Einsicht, dass die Ressourcen der Erde endlich sind, die Welt anders begreifen lernen. Was bedeutet: massive Einschränkungen im Konsumverhalten und folglich Raum für Demagogen, die einem versprechen, die alte Ordnung wiederherzustellen.
So lässt Kingsolver auf der Gegenwartsebene einen Präsidentschaftskandidaten auftreten, der Donald Trump zum Verwechseln ähnlich sieht. „Die Unbehausten“ ist eine Reaktion auf Trumps erste Wahl.
Nun, nach der Corona-Pandemie, nachdem Russland seinen Angriffskrieg gestartet und Trump seine zweite Amtszeit angetreten hat, ist das Buch immer noch hochaktuell. Hat Barbara Kingsolver nicht das Gefühl: Es wird alles immer schlimmer?
„Ich glaube, dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird, das denke ich immer wieder über mein Land. Denn wenn die Menschen in Bedrängnis sind, und das thematisiert der Roman, wollen sie sich nicht wirklich verändern, sie machen sich keine Gedanken über die Zukunft.
Dabei ist es doch so, dass die Menschen, gerade wenn sie in einer Krise stecken, wenn sie ihren Schutz verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes oder psychologisch, dass sie dann lernen, kreativer zu denken und beginnen Gemeinschaften zu bilden.“
Unbehaust - unsheltered – ohne Schutz: so fühlen sich die Figuren dieses Romans. Und jede findet einen Weg mit der Unsicherheit umzugehen. Das macht dieses Buch auch so spannend zu lesen. Für den Lehrer Thatcher bedeutet unbehaust zu sein auch Aufbruch, in dem er es wagt, Darwins Theorien zu folgen.
Ursprünglich sollte Darwin auch als Figur vorkommen, erzählt Kingsolver. Doch weil der Roman nur in Amerika spielen sollte, sucht sie nach einer anderen Figur – und findet Darwins reale Kollegin Mary Treat, die mit ihm korrespondierte. Im Buch Thatchers Nachbarin. Sie forscht in ihrem Haus an Spinnen und Venusfliegenfallen. Thatcher ist fasziniert.
„Sie war eine goldene Entdeckung. Ich war so glücklich," erzählt Kingsolver. „Ich stieß auf ein Dokument, in dem sie erwähnt wird und fand dieses Archiv mit all ihren Unterlagen in einem kleinen historischen Museum in Vineland, New Jersey. Als ich dort anrief, sagte die Kuratorin: Ich habe auf Ihren Anruf gewartet.“
Hoffnung in Zeiten der Unsicherheit
Auf der Gegenwartsebene gräbt Familienoberhaupt Willa Thatchers Geschichte aus, der in ihrem maroden Haus gelebt haben soll. Vielleicht wäre es zu retten, wenn es als historisch bedeutsames Nationaldenkmal eingestuft werden könnte? Und so stoßen die Geschichten im Laufe aneinander.
Barbara Kingsolver verhandelt in ihrem großen, abwechslungsreichen und durch viele Dialoge ungemein lebendigen Roman die universalen Fragen im menschlichen Zusammenleben. Daran erinnert sie an den sozialkritischen Literaturnobelpreisträger John Steinbeck.
Und auch wenn sie keine Antworten liefert und ihre Protagonisten kämpfen müssen, steckt in „Die Unbehausten“ ein hoffnungsvoller, teilweise sogar humorvoller Ton. Das macht dieses Buch zu einer der erhellendsten und unterhaltsamsten Lektüren dieser Saison.
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