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Wertvolle Fasern - Die Geschichte des Textilrecyclings


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Stoff war seit der Frühzeit ein wertvolles Gut, in das lange mehr Arbeitszeit floss, als etwa in die Produktion von Nahrung. Die teuren Textilien wurden deshalb auf kreative Weise weiterverwendet - getauscht, verkauft, umgearbeitet. Von Vanessa Schneider.

Credits
Autorin dieser Folge: Vanessa Schneider
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Ditte Ferrigan, Peter Veit
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Katharina Hübel

Im Interview: 
Prof. Dr. Franziska Neumann, Historikerin an der Technischen Universität Braunschweig, forscht zu Abfall- und Umweltgeschichte und hat den Stoffkreislauf von Textilien in der frühen Neuzeit nachverfolgt. 
Prof. Dr. Stephan Schlichter, Initiator des Innovationsprojekts Circular Textiles von der Technischen Hochschule Augsburg – u.a. mit der weltweit ersten Modellfabrik für textiles Recycling.
Beatrix Nutz, freie Textilarchäologin, die sich mit der Wiederverwendung von Textilien aus kulturgeschichtlicher Sicht beschäftigt.

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Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Literatur:

Roman Köster: Müll – Eine schmutzige Geschichte der Menschheit, 2024. Ein tiefer Einblick in die wechselvolle Geschichte unseres Mülls und unsere Beziehung zum Abfall. Unbedingt lesenswert!

Annette Kehnel: Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, 2021. Argumente für eine Recyclingmentalität bringt Kehnel in ihrer Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit. 

Lothar Müller: Papier, 2014. Die Geschichte des Papiers – sehr schön erzählt.

Dieter Veit: Geschichte der Textilherstellung. Technologien, Erfindungen, Handel, Mode – von der Steinzeit bis heute, 2024. Veit zeichnet auf fast 900 Seiten die gesamte Geschichte der Textilproduktion nach. Umfassende Grundlagenlektüre

Linktipps:

Über die Textilfunde aus der Hallstätter Salzmine können Sie sich hier weiter informieren

Hier sehen Sie die Patchwork-Tunika des Mannes von Bernuthsfeld

Das Recycling Atelier des Intituts für Textiltechnik Augsburg (ITA) und der Technischen Hochschule Augsburg HIER

Die Abfallstatistik des Statistischen Bundesamtes zu Textilabfällen HIER

Der NABU hat das Potenzial von Textilrecycling in Deutschland analysiert HIER

Wie der Gebrauchtwarenhandel in der Antike ausgesehen haben könnte, zeigt Titus Petronius in seiner satirischen Fiktion “Satyricon”. Hier in der Übersetzung von Egon und Gisela Gottwein.

Die komplette Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I. aus dem Jahre 1518 lesen Sie hier

Allessandro Piccolominis: “La Raffaella – Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” finden Sie hier

Bernhard Ramazzini's ehemaligen Professor primarius der Arzneywissenschaft zu Padua Abhandlung von den Krankheiten der Künstler und Handwerker von 1700 HIER

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].

Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLERIN

Kleidung und Stoffe waren über viele Jahrhunderte teures Gut, zum Teil unerschwinglicher Luxus. Viel zu wertvoll, um einfach weggeworfen zu werden. Auf kreative Art und Weise haben Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten Textilien weiter- und wiederverwertet, getauscht, verkauft, umgearbeitet – bis sie Lumpen waren – und selbst dann erfüllten sie noch einen Zweck: von der Steinzeit, über die Antike – bis ins Zeitalter der Industrialisierung und darüber hinaus. Und heute? Allein 2023 haben deutsche Haushalte 175.000 Tonnen Textilien in den Altkleidercontainer entsorgt laut Statistischem Bundesamt, Tendenz steigend. 

00 OTON SCHLICHTER Recycle

Fasern, die aus dem Gebrauch herausgenommen werden, also Altextilien, werden nur zu 1% wieder zu Fasern.

ERZÄHLERIN

Glas und Papier können aufbereitet werden und erhalten ein zweites Leben. Für Textilien gilt das aber nicht. Ein Teil wird zwar immerhin noch zu Lappen, Vlies oder Dämmstoffen verarbeitet, minderwertige Stoffe, so genanntem Downcycling. Meistens aber werden sie verbrannt – und dann ist die Ressource einfach weg. Doch es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das ändern wollen – wie Stefan Schlichter:

MUSIK ENDE

01 OTON SCHLICHTER Ballen

Hier stehen überall Ballen mit Material, die hier angekommen sind....

ERZÄHLERIN

Schlichter ist Professor für Textiltechnik an der Technischen Hochschule Augsburg.

02 OTON SCHLICHTER Labor 1 

Das ist unser Labor. In dem Labor wollen wir spezielle Sachen feststellen, wie unser Material zusammengesetzt ist. Ist da Baumwolle drin, ist da Polyester drin? Aber wir wollen auch wissen, wie lang sind die Fasern?

ERZÄHLERIN

Schlichter hat die weltweit erste zirkuläre Modellfabrik für Textilabfälle initiiert – das Recycling Atelier in Augsburg. Gemeinsam mit der RWTH Aachen und einigen Maschinenherstellern erforscht er seit 2022, wie aus Altkleidern und Produktionsabfällen neue Produkte entstehen könnten.

ATMO Modellfabrik

03 OTON SCHLICHTER Labor 2

Wenn ich ein hochwertiges Hemd habe, also da könnte ich auch immerhin noch ein gutes Polohemd draus machen oder so. Und das versuchen wir hier festzustellen, wenn wir die Materialien aufreißen, wie viel Schädigung haben wir denn, weil das Material wird nicht automatisch besser, sondern es wird eher ein bisschen schlechter.

ERZÄHLERIN

Im Recycling Atelier beschäftigt sich Stefan Schlichter unter anderem mit dem so genannten mechanischen Recycling. Das Problem, das es dabei nämlich bislang gibt, ist, dass die maschinelle Verarbeitung die Fasern der Alttextilien beschädigt. Dann sind sie oft so kurz, dass sie nicht mehr zu neuem Garn weiterverarbeitet werden können. Eine weitere Herausforderung: Anders als Glas oder Papier bestehen die meisten Textilien nicht nur aus einem Material. Früher wurden Textilien hauptsächlich aus natürlichen Stoffen gefertigt – heute kommt ein hoher Anteil an Chemiefasern dazu.

04 OTON SCHLICHTER Probleme

Und die machen natürlich das Recycling und die Verwertung schwieriger, ganz ohne Frage. Wir haben Reißverschlüsse, gab es vor 100 Jahren noch gar nicht so richtig. Wir haben Embleme draufgedruckt. Deswegen setzen wir in der Sortierung KI ein, die uns sagen kann, da ist ein zusätzliches Produkt, das sollten wir lieber rausschneiden und separat behandeln, das können wir dann automatisieren.

ATMO Schneideeinrichtung Textilfabrik

ERZÄHLERIN

Eine Schneideeinrichtung hackt die Textilien in kleine Stücke und Streifen. Die Reißmaschine zerreißt sie dann mit scharfen Metallzähnen in kleine Faserstücke. Die werden von zwei Walzen mit scharfen Haken gegeneinander gebürstet bis nur noch flauschige Fasern übrig sind – sie werden „kardiert“, heißt es in der Fachsprache. Und dann zu Bändern aufgewickelt.

ATMO Spinnerei

Am Ende spinnt daraus eine Maschine neues Garn für einen Pullover.

05 OTON SCHLICHTER Garn

Das ist Baumwolle, eine Mischung aus Rohbaumwolle und recycelt. Um die Qualität hinzukriegen, kann man noch nicht alles 100% recyceln. Diese sind reine Recycle-Garne, diese grauen hier...

MUSIK privat Take 004 „In Your Head Now”; Album: Multi Faith Prayer Room; Label: Because Music – BEC561138; Interpret: Brandt Brauer Frick; Komponist: Brandt Brauer Frick; ZEIT: 01:10

ERZÄHLERIN

Die Menge an Textilabfällen steigt weiter – Fast Fashion ist nach wie vor beliebt: 2030 werden voraussichtlich sechzig Prozent mehr Alttextilien anfallen als noch 15 Jahre zuvor, das schätzt die gemeinnützige Organisation Global Fashion Agenda, die sich für Nachhaltigkeit in der Modeindustrie einsetzt. Gleichzeitig werden Rohstoffe wie Baumwolle immer knapper.

06 OTON SCHLICHTER Zukunft

Wir müssen irgendwann aus dieser Schleife raus. Und vielleicht können wir mit guten Produkten aus Recycling das tun.

ERZÄHLERIN

Noch sind die meisten Recyclinganlagen nicht für Textilrecycling ausgerüstet. Und es ist teuer: Da die automatisierte Sortiertechnologie noch nicht marktreif ist, müssen Textilien nach wie vor von Hand vorsortiert werden. Das könnte sich ändern, wenn 2030 die ersten Prototypen aus dem Recycling Atelier industriell zum Einsatz kommen. Eine Vision, die greifbar scheint. Und alles andere als abwegig. Denn über viele Jahrhunderte war genau das schonmal Normalität: Textilien zu recyceln. 

MUSIK ENDE

MUSIK „Lyra and cithara“; ZEIT: 00:45

ERZÄHLERIN

Bis zur Industrialisierung wurden Textilien in aufwendiger Handarbeit hergestellt. Die meisten Menschen trugen selbstverständlich alte, gebrauchte und ausgebesserte Kleidung und hätten sich oft mehr gar nicht leisten können. Und das schon beispielsweise in der Antike. Die Toga eines Römers etwa bestand aus bis zu zwanzig Quadratmetern Stoff. Das bedeutete: 40 Kilometer Garn. Das zu weben dauerte einen Monat. Vier Monate, um das Wollgarn dafür zu gewinnen – bei acht Stunden Arbeit am Tag. In der Regel machten das die römischen Frauen selbst zu Hause.

MUSIK ENDE

07 OTON NUTZ Stunden

Wenn man heute diese Arbeitsstunden bezahlen müsste, wären diese Textilien absolut unerschwinglich bei diesen heutigen Löhnen. Und natürlich, wenn man so viel Arbeitsstunden in etwas investiert, dann schmeißt man es nicht einfach weg, sondern man nutzt es bis zum Geht-nicht-mehr.

ERZÄHLERIN

Beatrix Nutz ist Textilarchäologin und beschäftigt sich mit historischen Recyclingpraktiken. Selbst in Fetzen hatte alte, ausgediente Kleidung in frühen Gesellschaften noch einen Nutzen. Das legen auch einige der seltenen urgeschichtlichen Textilfunde nahe: In Prilep, Nordmazedonien haben Archäologinnen der Universität Skopje Tonscherben aus dem 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gefunden, auf denen Abdrücke von ausgefransten und abgenutzten Textilgeweben zu sehen waren. In der Steinzeit recycelten Menschen ihre Textilreste offenbar zum Töpfern – um darin Gefäße zu trocken, als Unterlage und Modellierhilfe. Stoffe konnten so am Ende ihres Lebenszyklus noch als Werkzeuge nützlich werden. Auch in einer Salzmine im Österreichischen Hallstatt zur Eisenzeit: Lumpen und Fetzen von wollenen Gewändern, Decken und Säcken wurden wohl in der Siedlung gesammelt und im Berg weiterverwendet oder zu Handledern verarbeitet. Beatrix Nutz:

08 OTON NUTZ Hallstatt

In den Bergwerken, da hat man dann die alten Sachen in Streifen gerissen und diese Textilstreifen dann verwendet, um zum Beispiel Kienspanbündel zusammenzubinden. Und die findet man heute noch, diese Textilstreifen mit den Knoten drinnen zum Zuknoten dieser Bündel.

MUSIK privat Take oo6 „Vindavla”; Album: Skald; Label: By Norse Music – BNM014CD; Interpret: Wardruna; Komponist: Traditional; ZEIT: 01:02

ERZÄHLERIN

Das sind nicht die einzigen archäologische Funde, die darauf hinweisen, dass durch die Jahrtausende Textilien kreativ wiederverwendet wurden. Im Bernuthsfelder Moor in Ostfriesland zum Beispiel, zeigt der Fund einer Moorleiche aus dem frühen Mittelalter, dass auch schon vor rund 1.200 Jahren upgecycelt wurde: Die Moorleiche trug eine Patchwork-Tunika aus zwanzig unterschiedlichen Geweben und 45 einzelnen Stoffresten. Getragen, immer wieder ausgebessert und geflickt begleiteten Textilien in dieser Zeit den Menschen oft ein Leben lang. Und am Ende dieses Menschenlebens rüsteten Textilien ihn für die letzte Reise – als Bekleidung, aber auch als Verpackungsmaterial anderer Grabbeigaben. Spuren von Läusen, Flicken und abgewetzte Stellen deuten darauf hin, dass diese vor dem Begräbnis als Kleidung getragen und als Totentracht wiederverwendet wurden.

MUSIK ENDE

ERZÄHLERIN

Auch Funde aus dem Mittelalter zeigen: Mit der Christianisierung wurden die meisten Verstorbenen in einem Totentuch, oft aus recyceltem Leinenstoff, beigesetzt. Die von ihnen hinterlassenen Leinen- und Wollgewänder spendeten die Angehörigen seit dem Mittelalter oft an Klöster und Kirchen - als Akt der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Diese gaben die Kleiderspenden als Almosen an Bedürftige weiter, verkauften sie, oder stellten Alltagstextilien und Kleidung für die Geistlichen daraus her. Häufig wurden zum Beispiel die oftmals prächtigen Frauenkleider zu liturgischen Gewändern männlicher Priester recycelt. Davon berichten zum Beispiel Quellen aus dem Spätmittelalter: In seiner Familienchronik schreibt der Florentiner Textilkaufmann Niccoló di Buono di Bese Busini über ein Kleid seiner verstorbenen Frau Raffaella:

MUSIK C5036550 W04 „Notum fecit“; ZEIT: 00:24

Zitator 

„Ich erinnere mich, dass ich, Niccolò, am 24. Dezember der Kirche San Iacopo tra le Fosse in Florenz ein Messgewand schickte, das aus einem Kleid Raffaellas gefertigt war. Ich ließ dies im Inventar der genannten Kirche verzeichnen, zum Seelenheil Raffaellas.“

MUSIK ENDE

(((selbst übersetzt vom Englischen ins Deutsche, via Isabelle Chabot: “Renaissance female luxury garments on the move”, S. 23; zitiert aus: Archivio di Stato di Firenze, from now ASFi, Carte strozziane, XIV serie, 564, fol. 30r, 63v)))))

ERZÄHLERIN

Bei dem Kleid, das zum Messgewand umgeschneidert wurde, handelte es sich um das samtene Hochzeitskleid seiner verstorbenen Gattin. Und das war noch nicht alles: Der Kaufmann schenkte seiner neuen Frau ein rosa Kleid mit Hermelinbesatz aus Raffaellas Besitz. Die Schwägerin erhielt ein altes, schwarzes Kleid, das sie ändern und färben ließ. Raffaellas Lieblingskleider wurden zu Bettwäsche und Bekleidung für die Kinder verarbeitet. Durch das Recyceln und die Weitergabe der gebrauchten Gewänder bewahrte man gleichzeitig das Andenken an die Verstorbene und stärkte das soziale Gewebe innerhalb der Familie – aber auch zwischen Adel und Kirche sowie den niedrigeren Ständen. Diese erhielten von Adel und Kirche gebrauchte Textilien als Almosen, aber auch als Arbeitslohn, erklärt Franziska Neumann, Professorin für frühneuzeitliche Geschichte an der TU Braunschweig.

09 OTON NEUMANN Gebraucht 

Das gehört so zum vormodernen Gabentausch letztendlich auch dazu. Das heißt erstmal bloß, weil es nicht mehr getragen wird von der einen Person, heißt das nicht, dass da schon das Ende als Kleidungsstück erreicht ist. Es gibt einen ganz regen Gebrauchtwarenhandel, auch mit Textilien, was auch eine Möglichkeit ist, für viele an Mode zu partizipieren, indem es immer weiter sozusagen gegeben wird.

ERZÄHLERIN

Trotz strenger Kleiderordnungen, die den Gesellschaftsständen genau vorschrieben, wer was tragen durfte. Beatrix Nutz:

10 OTON Nutz Unverboten

Da gibt es dann sogar von 1518 eine Kleiderordnung von Kaiser Maximilian I.,

Zitator 

„…und was ihnen ihre Herren von Kleidung schenken, soll ihnen zu tragen unverbothen seyn.“

10 OTON NUTZ Unverboten weiter

der also explizit sagt, die Landsknechte, wenn die von ihrem Herrn was geschenkt bekommen an Kleidung, das ja dann über ihrem Stand wäre, weil es ja herrschaftliche Kleidung ist, dürfen sie es, weil sie es geschenkt bekommen haben, trotzdem tragen, auch wenn es über ihrem Stand ist. 

ERZÄHLERIN

So blieben Kleidungsstücke in der Vormoderne über lange Zeit erhalten und zirkulierten durch mehrere Hände und Gesellschaftsschichten. Franziska Neumann:

12 OTON NEUMANN Stewardship

Es gibt den Begriff der Stewardship of Objects, also dass es eine Kultur gab, pflegsam mit Dingen umzugehen. Und das galt auch für Textilien. Es gibt ganz viele Handbücher, die beschreiben, wie müssen Textilien gelagert werden? Was kann man machen, um zu verhindern, dass sie sich abnutzen, ausbleichen oder Ähnliches. Und ich glaube, das ist schon ein ziemlich großer Unterschied zwischen der Vormoderne und der Moderne.

ERZÄHLERIN

Diese Fürsorgepflicht für den Besitz wurde über Jahrhunderte praktiziert. Das ständige Nähen, Ausbessern, Flicken, Umschneidern und Färben alter Kleidung zog aber auch Spott auf sich. So schreibt der Gelehrte Alessandro Piccolomini 1539 in seiner Satire “La Raffaella - Gespräch über die feine Erziehung der Frauen” über eine Frau aus Siena, die sich auch nach Jahren nicht von ihrem Hochzeitskleid aus gemustertem Damast trennen wollte:

MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:13

ZITATOR 

Als es schon recht schmutzig geworden war, ließ sie es wenden, so dass das Innere nach außen kam, und so trug sie es Sonntag für Sonntag noch fünf Jahre.

MUSIK ENDE

13 OTON NUTZ ausbessern

Man hat es gewendet. Dazu hat man den Altschneider aufgesucht. Manchmal nennt man das auch Wendeschneider. Der hat es tatsächlich dann alle Nähte sorgfältig aufgetrennt, die Außenseite nach innen gekehrt. Weil die Innenseite war ja nicht ausgebleicht und nicht abgewetzt. Und das Kleid war dann wieder faktisch wie neu. 

MUSIK CD234470 007 „Saltarello“; ZEIT: 00:25

ZITATOR 

Als es nun schon ganz abgewetzt war, ließ sie es brustbeerenfarbig färben, damit es aussähe, als hätte sie ein neues Kleid. Einige Jahre darauf aber riss der Stoff überall und nun zertrennte sie das Kleid und machte aus einem Stück des Stoffes Fransen für einen violetten Rock, aus einem andern Ärmelaufschläge. 

MUSIK ENDE

ERZÄHLERIN

Doch was passierte mit dem, was nach Jahren und Jahrzehnten der Nutzung und Wiederverwendung von einem Kleidungsstück am Ende noch übrig war? 

14 OTON NEUMANN Lumpen

Irgendwann sozusagen wird es tatsächlich zu einem Fetzen, der dann erstmal als Putzlappen vielleicht noch gebraucht wird. In den Haushaltsratgebern steht immer, ja, man soll so ein kleines Kästchen haben, wo man das aufbewahrt, kann man für unterschiedliche Sachen nutzen. Und dann irgendwann ist es vorbei. 

MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:50

ERZÄHLERIN

Hier schließt sich der textile Stoffkreislauf. Ab dem 14. Jahrhundert sorgte auch in Europa langsam eine bahnbrechende technologische Erfindung aus China dafür, dass auch Lumpen sinnvoll weiterverwendet werden konnten. Denn für die Papierherstellung wurden textile Reste nun mechanisch zu einem ganz neuen Produkt recycled. Und mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert stieg auch der Papierbedarf. Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation boomte die Papierproduktion. 1450 produzierten nur etwa zehn Mühlen Papier, zwei Jahrhunderte später waren es geschätzte 200. Doch Lumpen und Hadern – aus Leinen und Hanf waren tatsächlich rar, sagt Franziska Neumann:

MUSIK ENDE

15 OTON NEUMANN Lumpenmangel

Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass man halt eher sorgfältig und pflegsam mit seinen Textilien umgegangen ist. Das heißt, dass man eigentlich versucht hat zu verhindern, dass überhaupt Lumpen angefallen sind. Aber das ist ein Riesenproblem.

MUSIK privat Take 001 „Pestilence“, Album: Black Death; Label: MovieScore Media – MMS-10011; Interpret: Nick Ingman; Komponist: Christian Henson; ZEIT: 01:31

ERZÄHLERIN

Lumpenedikte versuchten dem Mangel entgegenzuwirken. Doch der gefragte Rohstoff wurde weiter außer Landes geschmuggelt – zu Mühlen nach Holland oder England, die viel Geld dafür bezahlten. Gesetze und Erlässe im gesamten Reich regelten, wer wo sammeln durfte und für welche Papiermühle. Ab 1763 mussten sich Lumpensammler in Preußen mit einem Lizenzzettel ausweisen und mindestens zweimal die Woche in der Stadt von Haus zu Haus gehen. Das Lumpengewerbe war hart und die Tätigkeit von Lumpensammlern begann häufig schon mitten in der Nacht. Ausgerüstet mit einem Haken, durchstocherten sie die Fäkalien und Hausabfälle auf der Straße nach Textilien. An der Haustür tauschten sie Perlen, Flöten und Nadeln gegen Lumpen, die die Haushalte in Lumpenkästchen oder Beuteln aufbewahrten. Witwen, Handwerkerfrauen und ausgediente Soldaten besserten so ihre Haushaltskasse auf. Doch die Arbeit mit unreinen, infektiösen Abfällen wurde für viele zum gesundheitlichen Problem: Lumpen, gerade aus hellen Leinen kamen in ihrem vorherigen Leben als Unterhemden und Bettwäsche, aber auch Verbandszeug und Windeln regelmäßig mit körperlichen Ausscheidungen in Kontakt. Nicht nur, dass sich die Sammler bei der Arbeit mit Tuberkulose, Milzbrand, Pocken und Cholera anstecken und diese Krankheiten verbreiten konnten. Sie wurden auch sozial ausgegrenzt. Und das über Jahrhunderte. 

MUSIK ENDE

16 OTON NEUMANN Metapher

Diese semantische Kopplung von „du Lump“ als Schimpfwort, das kommt dann vor allem im 19. Jahrhundert und wird da ganz groß. Und das hat auch was zu tun mit sozialer Verelendung, das hat auch was damit zu tun, dass immer mehr Leute durch das Recyclen von Abfallstoffen Geld machen, das hat auch was mit anti-jüdischen Stereotypen zu tun. Und das muss man sich immer wieder auch vergegenwärtigen, dass es sozusagen keine fröhliche, freundliche Welt des harmonischen, nachhaltigen Recyclings ist, sondern dass die soziale Dimension und auch Abwertung von Abfallarbeitern, von Drecksarbeit ein ganz wichtiger Bestandteil auch der Geschichte von Recycling ist.

ERZÄHLERIN

Die Lumpensammlerinnen verkauften ihre Lumpen meist an Händler, die wiederum die Papiermühlen belieferten. Dort wurden die Lumpen nach Stoffart und Farbe sortiert, von Dreck, Knöpfen und Nähten befreit und zerschnitten. Die Textilschnitzel gärten anschließend 4-8 Wochen in einem Wasserbad, wurden zerkleinert und 2 Tage lang in einem Wasserbad zu Faserbrei zermahlen. Der Brei wurde mehrfach abgeschöpft, zu einer Papierseite gepresst, getrocknet, geglättet und geleimt. 

MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:47

ERZÄHLERIN

Papier blieb nicht das einzige Recyclingprodukt, das durch die Verwertung von Textilresten angefertigt wurde. Im nordenglischen Batley wurde Anfang des 19. Jahrhunderts die erste Recyclingfaser erfunden: Shoddy, zu deutsch: Reißwolle. Gewonnen aus neuaufbereiteten, alten Wollfasern. Die Herkunft des Begriffs “Shoddy” ist unklar, heute beschreibt er eine schäbige Qualität. Die grauen Anzüge, Militärdecken und Mäntel aus Reißwolle gingen nämlich schnell kaputt. Trotzdem: Die Erfindung von Shoddy war wegweisend. Eine Vorläufertechnologie des heutigen Faser-zu-Faser Recyclings. Im Augsburger Recycling Atelier wird die Reißmaschine nun wieder optimiert, sagt Stefan Schlichter.

MUSIK ENDE

18 OTON SCHLICHTER Reißmaschine 2

Sie ist auch schrittweise weiterentwickelt worden, nur ab dem 60er, 70er Jahren nicht mehr, weil der Markt zu klein war. Mit Recycling konnte man kein Geld verdienen, weil ja neue Ware herzustellen viel einfacher war. Und dann ist diese Technologie nicht gepflegt worden.

MUSIK C1509860 105 „The disposition of the linen”; ZEIT: 00:44

ERZÄHLERIN

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden neue Waren immer günstiger. Die Müllentsorgung fiel in die öffentliche Hand und Holz löste Lumpen als Rohstoff für Papier ab. Bis dahin hatte das Wiederverwerten von Textilien jahrhundertelang zum Alltag dazugehört – aus Tradition oder aus der Not heraus. Eine Recycling-Mentalität will Abfall-Historikerin Franziska Neumann unseren Vorfahren trotzdem nicht uneingeschränkt attestieren. Denn diejenigen, die recycelten und diejenigen, die wegwarfen, seien nicht dieselben gewesen:

MUSIK ENDE

19 OTON NEUMANN Mentalität

ein primäres Interesse am Recycling haben Papiermühlen. Das sind diejenigen, die das als Rohstoff haben wollen und die das weiterverkaufen. Lumpensammler haben ein Interesse an Recycling, weil sie tatsächlich davon profitieren. Das gilt aber nicht für das Gros der Haushalte. Und deswegen finde ich es wichtig, hier nochmal zu unterscheiden, wer profitiert, wie verbreitet ist das eigentlich und gibt es auch nicht Bereiche, wo wesentlich häufiger einfach entsorgt wurde. 

ERZÄHLERIN

Dennoch: Ein Bewusstsein für den Wert von Textilien war über Tausende von Jahren selbstverständlich. Heute ist der Trend eher gegenläufig:

ATMO Recycling Atelier 

20 OTON SCHLICHTER Wert

Textilien werden immer weniger wert. Eine Hose hat einen Wert, der kann nicht bei 8,67 Euro liegen. Das Allerwichtigste ist, dass wir Textilien wieder Wert zugestehen. 

MUSIK privat Take 006 “On Powdered Ground (Mixed Lines)”, Album: Mr. Machine; Label: !K7 Records – !K7286CD; Interpret: The Brandt Brauer Frick Ensemble; Komponist: Daniel Brandt; ZEIT: 00:31

ERZÄHLERIN 

Stefan Schlichter vom Textilrecycling Atelier in Augsburg:

2 OTON SCHLICHTER Ausblick

Und wenn wir es lernen, Alttextil als Rohstoffquelle zu sehen, wir sitzen auf einem Berg, nicht genutzter Baumwolle zum Beispiel, der größer ist als das, was Indien an Baumwolle produziert im Jahr. Wir wären der viert- bis fünftgrößte Hersteller von Baumwolle, obwohl hier keine einzige Baumwollpflanze wächst.


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