Mary Leakey flog aus dem Internat, als sie das Chemielabor fast in die Luft gejagt hätte. Ohne Abschluss machte sich die Autodidaktin auf den Weg nach Afrika. Dort stößt sie auf Funde, mit denen sie beweisen kann: Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika. Von Florian Kummert (BR 2013)
Credits
Autor: Florian Kummert
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Margrit Carls, Friedrich Schloffer
Technik: Susanne Herzig, Josuel Theegarten
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview: Prof. Friedemann Schrenk
Besonderer Linktipp der Redaktion:
BR (2025): Ein Zimmer für uns allein – Der Frauengeschichte-Podcast
Im Podcast "Ein Zimmer für uns allein" mit Host Paula Lochte treffen zwei Frauen aus verschiedenen Generationen aufeinander und sprechen über ein Thema, das sie verbindet. Zum Beispiel über Schönheitsideale, sexuelle Aufklärung, Finanzen, Care-Arbeit. Was waren ihre Struggles damals und heute? Was hat sich verändert, oder vielleicht sogar verbessert? ZUM PODCAST
Linktipps:
Deutschlandfunk Nova (2015): Paläoanthropologie – Stumme Zeugen
Die Wiege des Homo sapiens ist Afrika. Eine Erkenntnis, die noch gar nicht so alt ist, denn lange war man sicher, dass er aus Europa kommen müsse. Wie politisch die Frühmenschforschung ist, zeigt sich in Friedemann Schrenks Abriss der sechs Millionen Jahre Menschheitsgeschichte. JETZT ANHÖREN
SWR (2024): Frauen in der Wissenschaft
Qualifizierten Nachwuchs gibt es genug. Aber allen Gleichstellungsmaßnahmen zum Trotz machen Frauen immer noch seltener Karriere in der Wissenschaft als Männer. Woran liegt das, was ist zu tun? Julia Nestlen im Science Talk mit Dagmar Höppel, Leiterin der Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten an den wissenschaftlichen Hochschulen Baden-Württemberg. JETZT ANSEHEN
Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:
Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an [email protected].
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO Vulkanausbruch & matschigen Schritten
SPRECHERIN:
Der Vulkanausbruch war gewaltig. Auf vielen Quadratkilometern fiel feiner Ascheregen auf die Erde. Die Flocken schwebten überall, drangen beim Atmen in Mund und Nase ein. Zwei Personen - mindestens - waren auf der Flucht vor dem Vulkan und seiner tödlichen Glut. Schnell konnten sie nicht vorankommen, ihre Füße sanken beim Gehen in die graue Masse ein, die der Regen matschig-weich gemacht hatte. Schritt für Schritt brachten sie mehr und mehr Abstand zwischen sich und dem Berg. Andere Lebewesen huschten an ihnen vorbei, ebenfalls auf der Flucht. Ein dreizehiges Huftier etwa, eine Stute mit ihrem Fohlen.
SPRECHERIN:
Weiter, immer weiter. Bald war niemand mehr zu sehen. Nur die Fußabdrücke blieben zurück. Noch mehr Asche fiel, deckte die Abdrücke zu und konservierte sie für die Ewigkeit.
Erst 3,6 Millionen Jahre später kommen sie wieder ans Tageslicht, und werden zur Sensation.
MUSIK & ATMO Soundcollage Pinseln, Schaben, Steingeröll, Ausgrabungsstelle
SPRECHER:
Zuerst sind es nur seltsame Abdrücke im Geröll, ehe daraus eindeutige Fußspuren werden. Die Grabungsleiterin reinigt sie viele Stunden lang, immer wieder, begutachtet die Stelle, bis es keinen Zweifel mehr gibt. Das sind keine Affen-Spuren, bei denen sich der große Zeh abspreizt. Hier liegt der große Zeh in einer Linie zum Fuß. Vormenschen also. Und vor allem: Vormenschen mit aufrechtem, bipedalem Gang. Handabdrücke sind nirgends zu sehen. Dies sind die Spuren von Zweibeinern. Mary Leakey richtet sich auf und blickt auf die rund 70 fossilen Fußabdrücke. Dann zündet sie sich - wie so oft - eine Zigarillo an, bläst genussvoll den Rauch in den Himmel und sagt zu ihren Assistenten an der Grabungsstelle:
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Na, das ist doch mal eine Trophäe für den Kaminsims!“
SPRECHER:
Typisch Mary Leakey. Trockenes britisches Understatement für einen Jahrhundertfund. In Ostafrika, auf dem Laetoli-Plateau an der Grenze zwischen Tansania und Kenia, findet sie 1978 die bis dahin ältesten bekannten Fußspuren der Menschheit. Fußspuren einer Kleinfamilie von Vormenschen, die nach einem Vulkanausbruch durch die Savanne geflüchtet waren. Damit gelang Mary Leakey der Nachweis, dass der aufrechte Gang bereits vor mehreren Millionen Jahren entwickelt war.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 1
„Als diese Fußabdrücke kamen, muss man sagen, war das das erste Mal, das der aufrechte Gang überhaupt aus dieser Zeitphase direkt nachgewiesen werden konnte.“
SPRECHERIN:
Sagt Friedemann Schrenk, einer der führenden Paläoanthropologen aus Deutschland. Zudem ist Friedemann Schrenk einer der wenigen deutschen Wissenschaftler, die selber eine Grabungslizenz in Afrika haben.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 2
„Man kann sich ja lange streiten über Langknochen, über Oberschenkelknochen, was das jetzt bedeutet, wie der Gang war. Bei den Fußabdrücken ist das völlig eindeutig, und das Alter ist eindeutig, weil das in vulkanischen Aschen ist, die 3,6 Millionen Jahre alt sind, das heißt: der entscheidende Punkt an diesen Fußabdrücken war, dass man den aufrechten Gang sozusagen bis 3,6 Millionen Jahre zurückdatieren konnte.“
SPRECHER:
Woher stammen wir ab? Wie und warum haben sich unsere frühen Vorfahren weiter entwickelt zum Homo sapiens sapiens? Welche Gattungen sind durch den Flaschenhals der Evolution gekommen und welche mussten aussterben?
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts liefert die Wissenschaft immer fundiertere Ergebnisse über den Stammbaum der Menschheit. Die Paläontologie, die Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Zeitalter, gräbt dazu tief in der Erde, bringt zahllose Knochen und Fossilien ans Tageslicht und mit ihnen immer mehr Informationen über die Frühzeit der menschlichen Spezies. Informationen für die sich ein Teilgebiet der Paläontologie besonders interessiert: die so genannte Paläoanthropologie. Sie befasst sich mit der Stammesgeschichte des Menschen und mit dem Entstehen der spezifischen menschlichen Merkmale. Die Fakten dazu liefern die Fossilien. Doch die muss man erst mal finden.
SPRECHERIN:
Über Jahrzehnte hinweg zeigte eine Großfamilie hierbei besonderes Talent: die Leakeys. Denn nicht nur Mary, sondern auch ihr Mann, Louis Leakey, später dann ihr Sohn Richard und dessen Frau Maeve, und schließlich auch Marys Enkeltochter Louise haben das Bild der modernen Paläontologie geprägt wie keine andere Familie zuvor. Der Name Leakey wurde zum Synonym für die Suche nach den Ursprüngen der Menschheit. Als Mary Leakey im Dezember 1996 im Alter von 83 Jahren starb, betitelte die New York Times ihren Nachruf „Die Grande Dame der Archäologie“.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 3
„Sie ist natürlich eine der ersten Frauen, die in diesem Gebiet international Grabungen gemacht hat und weltweit berühmt wurde. Ich denke so viel Vergleichsmöglichkeiten gibt‘s da gar net.“
SPRECHERIN:
Friedemann Schrenk hat mittlerweile den Großteil der Leakey-Familie kennengelernt. Als junger Wissenschaftler traf er 1993 in Tansania auch noch die Grande Dame höchstpersönlich.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 4
„Mary Leakey hab ich selbstverständlich kennen gelernt, hab auch mit ihr auch schon in Olduvai, da haben wir ihren 80. Geburtstag gefeiert, da haben wir in Olduvai-Schlucht übernachtet, in einem Camp, im Camp Leakey, ja, wie das so schön heißt. Mary Leakey war ne tolle Frau, sehr überzeugt, dass sie immer alles richtig gemacht hat, und das hat sie wahrscheinlich auch.“
SPRECHER:
Man geht davon aus, dass der Stammbaum der menschlichen Vorfahren sich vor etwa sechs bis sieben Millionen Jahren von dem der Affen getrennt hat. Doch wo liegt die Wiege der Menschheit? Als Marys Mann, Louis Leakey, in den 1920er Jahren begann, in Ostafrika nach Fossilien zu graben, war der Rassismus in den Köpfen vieler Wissenschaftler noch fest verankert. Afrika, so der Glaube, dieser wilde, dunkle, primitive Kontinent konnte nie und nimmer die Wiege der Menschheit sein. Einige glaubten, in Asien sei der Ursprung zu vermuten, doch für die meisten kam einzig und allein Europa in Frage.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 5
Sie finden das bis heute, jetzt wo langsam klar wird, dass der biologische Ursprung der Menschheit in Afrika ist, gibt‘s immer noch Kollegen die nun wenigstens den „kulturellen Ursprung“ irgendwo der modernen Menschen, wenigstens den noch in Europa suchen wollen, aber das ist auch dabei zu zerbröseln, und letztendlich war das die Überzeugung der Leakeys schon immer gewesen dass es eben nur einen Ursprung gibt, und das ist Afrika.“
SPRECHER:
Eine der ergiebigsten Regionen für die Paläoanthropologie ist das ostafrikanische Grabensystem. Die exzellenten Ablagerungsbedingungen der Region führten hier zu einer Vielzahl an Fossilienfunden. Besondere Bedeutung fällt dabei der Olduvai-Schlucht zu, im Norden Tansanias, an der Grenze zu Kenia. Hier, in dieser Schlucht, haben Mary Leakey und ihre Familie den Großteil ihres Lebens verbracht, und mit spektakulären Funden wesentlich dazu beigetragen, die Paläoanthropologie regelmäßig ins Rampenlicht zu holen. ((Dass die Leakeys selber auch immer wieder für handfeste Skandale sorgten, hat ihrer Bekanntheit nicht geschadet. Im Gegenteil.
SPRECHERIN:
Für Mary verlässt Louis Leakey seine erste Ehefrau und die zwei kleinen Kinder. Für sie setzt er seine Karriere und sein Ansehen aufs Spiel. Mary Leakey aber kann sich behaupten und wird zu den angesehensten Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit gehören: die erste Frau, die von der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaft die Linné-Medaille in Gold erhält, die die Ehrendoktorwürde nicht nur von Yale, sondern auch von Cambridge und Oxford verliehen bekommt.
SPRECHER:
Dabei hat sie nie einen regulären Schulabschluss gemacht. Mary Leakey liebt es zwar ihr Leben lang zu lernen. Aber sie hasst auch ihr Leben lang pädagogische Regeln und jede Art von formeller Schulbildung. Mary ist ein Freigeist wie ihr Vater, der Landschaftsmaler Erskine Nicol, ein Weltenbummler, der in Ägypten seine Frau Cecilia kennen und lieben lernt.
SPRECHER:
Am 6. Februar 1913 kommt in London Erskines Tochter zur Welt, sein erstes und einziges Kind: Mary Douglas Nicol. Die Familie ist ständig auf Reisen. London wird die Sommerresidenz der Nicols, hier verkauft Erskine seine Gemälde und sammelt ausreichend Geld an für die Reisen während der Winter- und Frühlingsmonate. Er malt Landschaften in der Schweiz, in Italien und immer wieder in Frankreich. In der Dordogne sieht das Mädchen zum ersten Mal Höhlenmalereien aus der Steinzeit, und zeichnet die Motive detailgetreu nach.
SPRECHERIN:
Im Frühjahr 1926 endet Marys unbeschwerte Kindheit. Erskine Nicol erkrankt unheilbar an Krebs und stirbt. Ein traumatisches Erlebnis für die Familie. Mary, gerade erst 13 geworden, sucht ihren Ausweg in Rebellion. Zurück in England, torpediert sie jegliche Art von Erziehung und macht ihrer Mutter und ihren Lehrern das Leben zur Hölle. Sie entschließt sich nur das zu lernen, was sie wirklich interessiert. Ihre Mutter aber hat andere Pläne: Mary soll eine gediegene Schulausbildung erhalten und sesshaft werden.
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Meine Mutter dachte: gute katholische Kinder gehen in ein gutes katholisches Nonnenkloster, um eine gute katholische Erziehung zu genießen. Unglücklicherweise befand sich gleich bei uns ums Eck solch ein Kloster. Fast ein Jahr musste ich mich dort durch den Unterricht quälen. Meine Taktik, mich vor dem Poesieunterricht im Heizkeller zu verstecken, erzürnte die Nonnen. In der Klasse hätte ich ein Gedicht laut aufsagen sollen. Nun sollte ich zur Strafe vor der gesamten versammelten Schule das Gedicht vortragen. Doch ich weigerte mich auch nur ein Wort zu sagen. Damit verwies mich die Mutter Oberin von der Schule. Wir zogen nach Wimbledon, wo es leider ein Ursulinen-Kloster gab, das ich besuchen musste. Auch dort lernte ich nichts was von Nutzen gewesen wäre und auch dort wurde ich nach einem Jahr unehrenhaft entlassen. Zum einen täuschte ich einen Tobsuchtsanfall vor und benutzte Seife, um Schaum vorm Mund zu simulieren. Zum anderen kam es zu einem Zwischenfall im Chemielabor.“
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Die Explosion, an der ich zugegeben ganz eindeutig schuld war, hörte man im ganzen Kloster. Viele Nonnen kamen angelaufen, was den meisten von ihnen ganz gut tat. Meine Karriere als Schülerin fand damit allerdings ein abruptes Ende.“
SPRECHER:
Dass sie ohne Schulabschluss nicht studieren kann, findet Mary zwar ärgerlich, es hält sie aber auch nicht davon ab, ihrem Traumberuf nachzugehen.
Systematisch arbeitet sie daran, Archäologin zu werden und assistiert bei Grabungen. Bald fällt Mary zum einen durch eine rigorose Präzision auf, die ihr Markenzeichen werden soll, zum anderen durch ihr Talent, detaillierte Zeichnungen von den Fundstücken anzufertigen. So wird Mary Nicol, gerade 20-jährig, weiterempfohlen. Ein aufstrebender Afrikaforscher namens Louis Leakey sucht eine begabte Zeichnerin, die sein Buch, Adams Vorfahren, illustrieren könnte. Louis ist begeistert von der brünetten Wissenschaftlerin mit den stechend blauen Augen. Aus dem Arbeitsverhältnis wird bald eine Affäre. Zwei Seelenverwandte seien sie gewesen, haben Mary und Louis immer wieder gesagt.
SPRECHERIN:
Leakey zählt zur Speerspitze der Forschung, als er Mary 1933 kennenlernt. Die Affäre wird aber alles ins Wanken bringen. Der Grund: Louis Leakey ist verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Zudem ist seine Frau Frida mit dem zweiten Kind schwanger. Louis, der schon vor Mary etliche Affären hatte, wartet noch, bis das Kind geboren ist, dann beichtet er Frida alles. Mary, die mit anwesend ist, erinnert sich in ihrer Autobiografie:
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Frida bebte vor Wut, und als betrogene Ehefrau hatte sie auch allen Grund dazu. Mit bewundernswerter Offenheit sagte sie, was sie von uns beiden hielt. Genau erinnere ich mich nicht mehr an ihre Worte, aber im Groben und Ganzen hielt sie Louis für einen gemeinen Schuft und für einen Verräter, der sie und ihre Kinder hintergangen habe. Mich betitelte sie als wertloses Luder, das Louis verführt habe, ohne einen Funken Anstand und Moral. Dann ging sie, und untersagte Louis fortan jeglichen Kontakt zu seinen Kindern.“
SPRECHERIN:
In Cambridge ernten Louis und Mary nichts als Verachtung, Freunde und Kollegen ziehen sich zurück, an Forschungsgelder und Sponsoren ist in der Situation kaum zu denken. Schließlich kehren beide England den Rücken, heiraten, und beginnen ein neues Leben, in Afrika. Ihr Ziel: die Olduvai-Schlucht, die bislang nur rudimentär erforscht wurde.
SPRECHERIN:
Am Rande der Serengeti schlagen die beiden ihr Lager auf, inmitten der Jagdgründe von Löwen, Hyänen und Schakalen. Es wird ein Abenteuerleben, in das sich Mary Leakey intensiv stürzt. Aus Liebe zu Louis, aber auch aus eigenem Ehrgeiz. Sie bekommt drei Söhne, Jonathan, Richard und Philip. Mary genießt es, wenn die Kinder während der Grabungsarbeit in Sichtweite sind, aber nur, wenn die Kleinen sich selbst beschäftigen. Die Leidenschaft für die Arbeit bleibt immer größer als die Mutterliebe:
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Ich war nicht gewillt, der Mutterschaft zu erlauben, meine Arbeit zu stören.“
SPRECHER:
Ein halbes Jahrhundert lang wird Mary Leakey unter der sengenden Sonne Ostafrikas arbeiten, auf Knien mit einfachen Werkzeugen im Staub und Geröll graben, und Millionen Jahre alten Schotter nach Fossilien durchforsten, immer auf der Suche nach Fundstücken, die Licht ins Dunkel der menschlichen Evolution bringen können.
SPRECHER:
In Kenia macht Mary Leakey ihren ersten bedeutenden Fund. Im Oktober 1948 entdeckt sie auf der Insel Rusinga im Victoriasee einen 18 Millionen Jahre alten Schädel. Ein „Proconsul africanus“, aus der Frühphase der Entwicklung der Menschenaffen. Elf Jahre später gelingt ihr ein weiterer Sensationsfund, diesmal in Olduvai. Nach fast drei Jahrzehnten erfolgloser Grabungsaktivitäten in der Schlucht zahlt sich die Beharrlichkeit der Leakeys aus. Es ist der 17. Juli 1959. Louis liegt mit Fieber im Camp, Mary aber entschließt sich mit dem Range Rover und zweien ihrer geliebten Dalmatiner-Hunde zu einer Grabungsstelle in der Schlucht zu fahren. Stundenlang sucht sie die Erdoberfläche ab, und will, als die Mittagshitze sie müde macht, wieder zurückkehren. Da fällt ihr Blick auf einen hervorstehenden Knochen.
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„Das Stück schien zu einem Schädel zu gehören, sah hominid aus, aber die Knochen wirkten viel zu dick und kräftig. Ich nahm einen Pinsel und legte mehr von diesem Kieferknochen frei. Ein mächtiges Gebiss wurde sichtbar.“
SPRECHER:
Mary rast zum Camp zurück, weckt Louis und führt ihn zur Fundstelle. Zum Schädel, der als „Nussknacker-Mensch“ in die Geschichte eingehen wird. Louis nennt die Gattung Zinjanthropus, nach dem alten arabischen Wort „Zinj“ für Ostafrika. Heute wird der Fund oft auch der Gattung „Paranthropus“ zugeordnet, wortwörtlich heißt das „neben dem Menschen“. Auf dem Stammbaum unserer Vorfahren findet sich der Nussknacker-Mensch auf einer ausgestorbenen Seitenlinie. Sein Gebiss bleibt aber auch heute noch beeindruckend, erklärt Friedemann Schrenk.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 8
„Der Unterkiefer ist sehr mächtig, die Zähne sind ungefähr drei Mal so groß wie bei uns heute und die Kaumuskulatur die an der Seite sitzt außen, die bei uns auf halber Höhe aufhört am Schädel, die geht bei denen bis auf den Kopf, und stößt dann in der Mitte von beiden Seiten zusammen, so dass sich dann ein Knochenkamm bildet, deswegen hat dieser Zinjanthropus wie er genannt wurde, so einen Knochenkamm auf dem Schädel, also ist ne Kombination von Kiefer, Zähne und Muskulatur, und alles zusammengenommen ist - wenn man so will - eine Nussknacker-Konstruktion.“
SPRECHER:
Dieser Nussknacker-Mensch schiebt die Leakeys mit einem Schlag ins weltweite Rampenlicht. Sie landen auf den Titelseiten der New York Times, der London Times und beginnen eine langjährige Zusammenarbeit mit der National Geographic Society. Filmteams, Reporter und natürlich auch viele Wissenschaftler besuchen Camp Leakey in regelmäßigen Abständen.
Zahlreicher werden die Funde, diffiziler die Kategorisierung in Gattungen und Arten. In der Ehe der Leakeys beginnt jedoch zu kriseln. Louis hat etliche Affären, bis es Mary schließlich reicht. Ihre Wege trennen sich. Sie leitet nun in alleiniger Verantwortung die Grabungsarbeiten in der Olduvai-Schlucht. Nach Louis Tod 1972 muss sie auch noch die Öffentlichkeitsarbeit übernehmen, Vorträge halten und Spendengelder eintreiben. Im Gegensatz zu Louis ist ihr all der Trubel unangenehm, der 1978 seinen Höhepunkt findet, als Mary ihren wichtigsten Fund, die Fußabdrücke von Laetoli, öffentlich macht.
SPRECHERIN:
Die Ruhe. Die Einsamkeit der Savanne. Die ausgedehnten Spaziergänge mit ihren Dalmatinern. Ungestörte Grabungen. Das ist es, was Mary Leakey fasziniert. Und die einzigartige Landschaft von Olduvai.
ZITATORIN MARY LEAKEY:
„An diesem Anblick kann ich mich nie satt sehen. Vor über einem halben Jahrhundert kam ich mit Louis zum ersten Mal nach Olduvai. Und noch immer bin ich verzaubert, egal ob es Regenzeit ist oder extrem trocken, ob die Sonne mittags vom Himmel brennt, oder die Abenddämmerung anbricht. Olduvai fühlt sich immer gleich an, und immer anders. Dies ist mein Zuhause geworden.“
SPRECHERIN:
Als Mary Leakey im Dezember 1996 im Alter von 83 Jahren stirbt, erfüllen ihr ihre Söhne den letzten Wunsch und verstreuen ihre Asche in der Olduvai-Schlucht.
SPRECHERIN:
Mittlerweile ist die Straße nach Olduvai geteert und es gibt vor Ort ein Museum zu Ehren von Mary Leakey und ihrer Entdeckungen. Auf ihre umfangreiche Forschungsarbeit stützen sich Paläoanthropologen wie Friedemann Schrenk bis heute.
OTON FRIEDEMANN SCHRENK 9
„Für mich bleibt von Mary Leakey die Faszination für diese Wissenschaft. Etwas zu entdecken, was noch nie vorher jemand gesehen hat, ihre Liebe zu Afrika und die ungeheure Energie, die sie da reingesteckt hat und diese Wissenschaft geprägt hat, die moderne Paläoanthropologie. Ohne Mary Leakey wäre unsere Wissenschaft nicht so wie sie ist.“