Augen zu

Ernst Ludwig Kirchner – vom Leben gezeichnet


Listen Later

Ernst Ludwig Kirchner war kein jugendliches Genie, wie so viele große Figuren der Kunstgeschichte. Nein, Ernst Ludwig Kirchner begann sogar zunächst Architektur zu studieren, bevor er dann 1905 in Dresden mit anderen Studenten die Künstlergruppe Die Brücke gründete. Und damit jene heißblütige, grellfarbige Form des Expressionismus in Deutschland begründete, die das Ungestüme betonte – ganz anders als die Maler des Blauen Reiter um Wassily Kandinsky, August Macke und Franz Marc, deren elegische Erdverbundenheit gleichzeitig eine ganz andere expressionistische Spielart etablierte. Doch was macht Ernst Ludwig Kirchner zum wichtigsten deutschen Expressionisten? Diese Frage diskutieren Florian Illies und Giovanni di Lorenzo in der neuesten Folge von Augen zu, dem Kunstpodcast von ZEIT und ZEIT ONLINE.

Wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit war Kirchner durchlässig, saugte die Eindrücke seiner Umgebung in sich auf und setzte sie direkt in seinen Zeichnungen und Aquarellen um. Solange er in Dresden wirkte, in den Jahren von 1905 bis 1911, ist sein Stil weich, farbenfroh, geprägt von der barocken Sinnlichkeit der Stadt an der Elbe. Mit seinem Umzug nach Berlin wird Kirchner dann zu einem besessenen Erfasser der Beschleunigung in der explodierenden Metropole – seine Figuren werden kantiger, zackiger, sein Stil wirkt so hektisch wie der Verkehr auf dem Potsdamer Platz. Und genau wegen dieser Kongenialität sind seine Zeichnungen und Gemälde der Straßenszenen vom Potsdamer Platz, die in den Jahren 1913 und 1914 erscheinen, wohl die gültigsten Darstellungen der Moderne, die es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland je gegeben hat. Anders als die italienischen Maler des Futurismus, die die rasende Zeit bejubelten, legt Kirchner in seinen Werken die Sollbruchstellen im Verhältnis der Menschen zur Stadt und innerhalb der Geschlechter offen. Die Künstlergruppe Brücke überlebt den Umzug nach Berlin nicht.

Der Erste Weltkrieg dann ist für den hypersensiblen Künstler ein traumatischer Schock – obwohl er nicht kämpfen muss. Allein die Ausbildungszeit im Militär stürzt ihn in tiefe Depressionen und Angstzustände, sein "Selbstbildnis als Soldat" von 1915 gibt davon Auskunft: Seine rechte Hand, mit der er malt und zeichnet, hat er verstümmelt dargestellt, bildhafter Ausdruck einer gefürchteten künstlerischen Impotenz durch die Schrecken des Krieges. Kirchner fällt in die Abhängigkeit von Drogen und Morphium, und es folgt eine lange Zeit in Sanatorien, die dann zu seinem finalen Umzug nach Davos führt. Hier, ganz oben in den Alpen, fühlt er sich den menschlichen Zumutungen so weit als möglich enthoben, nur Erna Schilling, seine Gefährtin seit Berliner Tagen, begleitet ihn.

In den Zwanziger- und Dreißigerjahren versucht Kirchner hier, sich zu beruhigen und einen neuen Stil zu finden – die Bilder wirken, als wolle er immer aufs Neue die Puzzlesteine, in die sein Leben zerfallen ist, zusammenzufügen. Weil er unzufrieden ist mit den Reaktionen auf sein Werk, erfindet er mit Louis de Marsalle einen fiktiven Kunstkritiker, unter dessen Pseudonym er überall Lobpreisungen auf seine eigene Kunst veröffentlicht – nur so hatte er das Gefühl, die Kontrolle über sein Werk zu behalten. 1938 dann, nach dem Anschluss Österreichs, angesichts der herannahenden deutschen Truppen, der völligen Vergessenheit seines Namens und der gerade erfolgten Aktion "Entartete Kunst" in den deutschen Museen, die zahllose seiner Werke abhängte, nahm er sich verzweifelt das Leben. Hätte er nur gewusst, dass wir heute in ihm genau jene singuläre Künstlerfigur des deutschen Expressionismus sehen, als die er sich selbst empfunden hat.

Lob, Kritik, Anmerkungen? Schreiben Sie uns gern an [email protected].

Ab sofort sind Teile des Archivs von "Augen zu" nur noch exklusiv mit einem Digitalabo der ZEIT zu hören – auf ZEIT ONLINE, auf Apple Podcasts und auf Spotify. Ein kostenloses Probeabo können Sie hier abschließen. Zu unserem vergünstigen Podcastabo geht es hier. Wie Sie Ihr bestehendes Abo mit Spotify oder Apple Podcasts verbinden, lesen Sie hier.

[ANZEIGE] Mehr über die Angebote unserer Werbepartnerinnen und -partner finden Sie HIER.

[ANZEIGE] Mehr hören? Dann testen Sie unser Podcast-Abo mit Zugriff auf alle Dokupodcasts und unser Podcast-Archiv. Jetzt 4 Wochen kostenlos testen. Und falls Sie uns nicht nur hören, sondern auch lesen möchten, testen Sie jetzt 4 Wochen kostenlos DIE ZEIT. Hier geht's zum Angebot

...more
View all episodesView all episodes
Download on the App Store

Augen zuBy ZEIT ONLINE

  • 4.9
  • 4.9
  • 4.9
  • 4.9
  • 4.9

4.9

12 ratings


More shows like Augen zu

View all
ZEIT WISSEN. Woher weißt Du das? by ZEIT ONLINE

ZEIT WISSEN. Woher weißt Du das?

50 Listeners

Was jetzt? by ZEIT ONLINE

Was jetzt?

132 Listeners

Servus. Grüezi. Hallo. by ZEIT ONLINE

Servus. Grüezi. Hallo.

59 Listeners

Rice and Shine by ZEIT ONLINE

Rice and Shine

14 Listeners

Alles gesagt? by ZEIT ONLINE

Alles gesagt?

115 Listeners

Verbrechen by ZEIT ONLINE

Verbrechen

307 Listeners

Wird das was? by ZEIT ONLINE

Wird das was?

1 Listeners

Unter Pfarrerstöchtern by ZEIT ONLINE

Unter Pfarrerstöchtern

67 Listeners

OK, America? by ZEIT ONLINE

OK, America?

91 Listeners

Das Politikteil by ZEIT ONLINE

Das Politikteil

79 Listeners

Die sogenannte Gegenwart by ZEIT ONLINE

Die sogenannte Gegenwart

28 Listeners

Sternstunde Philosophie by Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)

Sternstunde Philosophie

26 Listeners

Und was machst du am Wochenende? by ZEIT ONLINE

Und was machst du am Wochenende?

17 Listeners

30 Minuten Kunst by Jens Trocha

30 Minuten Kunst

0 Listeners

ZEIT Geschichte. Wie war das noch mal? by ZEIT ONLINE

ZEIT Geschichte. Wie war das noch mal?

35 Listeners

Geht da noch was? by ZEIT ONLINE

Geht da noch was?

8 Listeners

Ist das eine Blase? by ZEIT ONLINE

Ist das eine Blase?

2 Listeners

Auch das noch? by ZEIT ONLINE

Auch das noch?

6 Listeners

ZEIT Campus: Und was macht die Uni? by ZEIT ONLINE

ZEIT Campus: Und was macht die Uni?

0 Listeners

Der Spion in unseren Handys by ZEIT ONLINE

Der Spion in unseren Handys

0 Listeners

Wochenmarkt by ZEIT ONLINE

Wochenmarkt

2 Listeners

Tatort Kunst by Deutschlandfunk

Tatort Kunst

14 Listeners

Was liest du gerade? by ZEIT ONLINE

Was liest du gerade?

4 Listeners

Elbvertiefung by ZEIT ONLINE

Elbvertiefung

3 Listeners

ZEIT Sprachen – English, please! by ZEIT ONLINE

ZEIT Sprachen – English, please!

1 Listeners

WHITE – Geständnis eines Neonazis by ZEIT ONLINE

WHITE – Geständnis eines Neonazis

16 Listeners

Deutsche Geister by ZEIT ONLINE

Deutsche Geister

8 Listeners

48 Monate Trump by ZEIT ONLINE

48 Monate Trump

0 Listeners

Anruf an alle by ZEIT ONLINE

Anruf an alle

0 Listeners

War da was? – Geschichte einer Pandemie by ZEIT ONLINE

War da was? – Geschichte einer Pandemie

0 Listeners