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Goethe, Marie-Antoinette, Oskar Wilde: Sie starben, wie sie gelebt haben - wenn man ihren letzten Worten glaubt. Berühmte letzte Sätze, die über Jahrhunderte hinweg gesammelt und verklärt wurden. Doch was davon ist wahr und was nur Legende? Von Lavina Stauber
Credits
Autorin dieser Folge: Lavina Stauber
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Hemma Michel, Thomas Birnstiel
Technik:
Redaktion: Katharina Hübel
Im Interview:
Dr. Cornelius Hartz, Philologe und Sachbuchautor
Dr. Carlotta Posth, Juniorprofessorin für Mediävistische Komparatistik an der Universität Würzburg
Dr. Rupert M. Scheule, Professor für Moraltheologie an der Universität Regensburg
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört.
ZUM PODCAST
Literatur:
Philippe Ariès, „Die Geschichte des Todes“ – Ein Klassiker der Kulturgeschichte, der den Wandel des Todesbildes in der westlichen Welt nachzeichnet. Deutscher Taschenbuch Verlag, 13. Auflage 2015.
Cornelius Hartz, „Sehen Sie, so stirbt man also“ – Ein unterhaltsamer und zugleich nachdenklicher Streifzug durch die letzten Worte historischer Persönlichkeiten. Philipp von Zabern, 2012.
Karl S. Guthke, „Letzte Worte“ – Eine kulturgeschichtliche Untersuchung der letzten Worte im westlichen Raum. C.H. Beck München, 1990.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
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ZITATOR:
Ein alter und kranker Mann liegt in einem Sessel. Das Kaminfeuer wirft flackernde Schatten an die Wand, der Atem in der Stube ist gedämpft. Johann Wolfgang von Goethe, Dichterfürst und Naturforscher, hebt mühsam die Hand. Seine Augen suchen Licht – das fahle Tageslicht, das durch eines der gekippten Fenster fällt, erreicht ihn nicht mehr. Seine Stimme ist schwach, doch deutlich, als er mit letzter Kraft fordert: „Mehr Licht!“ Dann sinkt er zurück. Die Kerzen brennen weiter, das Fenster bleibt halb geschlossen, das Sonnenlicht hinter den schweren Vorhängen verborgen.
... Musik Ende
SPRECHERIN
Goethes letzte Worte sind vermeintlich klar, und vor allem: bedeutungsschwer und vielschichtig – so, wie man sie von einem Denker seines Formats erwarten würde. Eine erstaunliche Leistung auf dem Sterbebett. Doch war es sein letzter Geistesblitz, der ihn selbst, Johann Wolfgang von Goethe, für die Nachwelt in so poetischem Licht dastehen lässt?
01 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Goethe gilt ja bis heute als größter deutscher Dichter und führender Intellektueller seiner Zeit. Und als solchen wollen wir von ihm natürlich ein ganz besonderes letztes Wort und möglichst eines, was vielleicht sogar ein bisschen mehr in sich trägt als nur eine reine Information oder irgendwie was, was besonders Intelligentes oder Geistreiches ist, sondern fast schon mysteriös transzendent.
SPRECHERIN
Goethes Wunsch nach „mehr Licht“ gehört zu den bekanntesten letzten Worten im deutschen Sprachraum. Und seine letzten Worte sind – in ihrer Rezeption – genau das: Ein metaphorischer, diese sinnliche Welt überschreitender Wunsch nach mehr Erkenntnis, Aufklärung oder Wahrheit. Ganz passend zu Goethes lebenslangem Streben nach Wissen. Doch stammen – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen - die letzten Worte des großen Dichters gar nicht aus seiner eigenen Feder. Das hat Cornelius Hartz in seinem Sachbuch über die letzten Worte historischer Persönlichkeiten quellenkritisch erarbeitet:
02 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Überliefert ist das letzte Wort bei Goethes Leibarzt Dr. Carl Vogel. Und in seiner Schrift zieht er dann aber das Fazit, dass ja die Finsternis, die Goethe in jeder Beziehung stets verhasst war, dass er mit seinem letzten Wort daraus hinauswollte. Und das impliziert dann eben auch eine transzendente, jedenfalls eine zweite Ebene als nur diese reine Information: Ja, hier ist es vielleicht ein bisschen dunkel im Zimmer.
SPRECHERIN
Cornelius Hartz hat sich durch hunderte letzte Aussagen von Persönlichkeiten geblättert und auf die Suche begeben, wo und durch wen letzten Worte berühmter Persönlichkeiten dokumentiert wurden. Die Quellenauflistung reicht von Platon bis hin zu Konrad Adenauers Familienkreis – und – wird von ihm auf einer prozentualen Skala nach Wahrscheinlichkeiten eingeordnet. Carl Vogel, der nicht nur Goethes Leibarzt, sondern auch sein Gehilfe war, vertraut er als historischer Quelle nicht. Zu stark lässt dieser nämlich in seiner Niederschrift um Goethes Sterbestunde durchblicken, dass es ihm um den runden Abschluss und nachweltlichen Ruhm Goethes gehe.
03 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Das ist vielleicht teilweise die Faszination mit dem Tod bzw. mit dem Übertritt vom Leben in den Tod. Dass wenn eine Persönlichkeit verstirbt, dass wir so eine Art Sentenz gerne hätten. Vielleicht so etwas, was so ein ganzes berühmtes Leben zusammenfasst im besten Fall.
SPRECHERIN
An den Sterbebetten der Geschichte bilden letzte Worte mehr ab, als nur den letzten Augenblick. Sie scheinen dazu bestimmt zu sein, das ganze Leben zu greifen und so einen Hauch Unsterblichkeit zu erschaffen. Manch einer mag kein einziges Wort aus Goethes Hand gelesen haben, aber kennt die letzten Worte auf seinen Lippen. Andere haben selbst nie eine Lateinstunde besucht, wissen aber, mit welchen Worten Cäsar von dieser Welt schied: „Et tu Brute?“ - Auch du, Brutus? Oder der Geschichtsmuffel erinnert sich vielleicht auch nur deshalb an Rosa Luxemburgs letzte Worte, weil der makabre Widerspruch darin so eindrücklich und politisch ist: „Nicht schießen!“ soll sie gerufen haben – und wurde doch erschossen. Letzte Worte hängen unausweichlich mit dem Ende des Lebens, dem Sterben und dem Tod zusammen. Und diese Endgültigkeit erhebt Anspruch auf Aufmerksamkeit, wie Professor Rupert Scheule von der Universität Regensburg zusammenfasst:
04 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Die Endlichkeit des Lebens ist ein Sinngenerator. Weil wir nicht unendlich viel Zeit haben, müssen wir uns zusammennehmen und jetzt die Dinge tun, die wichtig sind. Also das gilt ganz grundsätzlich, aber jetzt, bei den letzten Worten, ist es ja nicht einfach nur die Endlichkeit des Lebens, die zählt, sondern das, was am Ende des endlichen Lebens kommt. Das halten wir für etwas Entscheidendes.
SPRECHERIN
Professor Rupert Scheule ist Theologe der Moraltheologie, also des Gebiets, das sich mit dem guten und richtigen Handeln aus christlicher Sicht auseinandersetzt. Sein besonderer Forschungsfokus liegt dabei auf den Thematiken Sterben, Trauer und dem Tod. So publiziert er darüber, ob man das „Sterben lernen“ kann oder wie wir noch Lebende dem Tod begegnen. Denn dieser Umgang mit dem Tod hat sich historisch stark verändert und damit auch den Stellenwert der letzten Worte im Leben mitgeprägt. Im religiös geprägten Mittelalter war der Tod ein entscheidender Moment, der nicht als Endpunkt gedacht wurde, ….
05 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
... sondern eigentlich als ein Übergang, nämlich genau vom Diesseitigen ins Jenseitige. Und da ist dann die Vorstellung im Grunde, dass das diesseitige Leben etwas episodisches ist. Das ist eigentlich auch das, was relativ schnell vorbeigeht. Und das ewige Leben, was dann folgt, ist ja das, was sehr großes Gewicht hat.
SPRECHERIN
Der Tod ist, so verstanden, ein Wendepunkt – ein Wendepunkt, der auch in der Arbeit von Carlotta Posth (Aussprache in Clipliste / OT-Projekt) eine wichtige Rolle einnimmt. An der Universität Würzburg beschäftigt sie sich mit mittelalterlicher Vergänglichkeitsliteratur. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf dem deutschen und französischen Sprachraum. Verschiedene Texte, wie die sogenannten „Totenklagen“ untersucht sie daraufhin, wie in ihnen über die Begegnung mit dem Tod gesprochen wird. Für die Einordnung dieser Texte ist das vorherrschende christliche Verständnis vom Jüngsten Gericht entscheidend. Also die Vorstellung von dem Tag, an dem der christliche Gott über alle Menschen richtet. Im 13. und 14. Jahrhundert entwickelt sich durch Werke von Theologen wie Thomas von Aquin und die päpstliche Bulle "Benedictus Deus" systematisch ein neues Verständnis des Jüngsten Gerichts, das nicht mehr als unbestimmte Zukunftsvision dargestellt wird, sondern als sogenanntes „Partikulargericht“ direkt ans Lebensende rückt:
06 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
Sobald ich sterbe, werde ich sofort gerichtet. Und zwar quasi erst mal nur ich als Individuum. Ich komme in den Himmel oder ich komme in die Hölle, aber es passiert mir jetzt und dadurch kriegt dann natürlich auch diese Sterbestunde eine enorme Relevanz, weil sich in diesem Moment des Übergangs, unmittelbar danach entschieden wird, wie es mir für die Ewigkeit geht.
SPRECHERIN
Erstrebenswert war das ewige Leben im Himmel. Dafür galt es auf Erden ein „gutes“ Leben zu leben, aber eben auch: einen guten Tod zu sterben.
07 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
Und eine Lesart, die im Mittelalter absolut gängig ist, ist auch, dass Menschen, die einen schlechten Tod sterben, auch ein schlechtes Leben gelebt haben. Also dann wird die Art, wie ich sterbe, rückbezogen auf mein Leben und dann wird es auch in diese Richtung ausgelegt.
SPRECHERIN
In den mittelalterlichen „Totenklagen“, einer literarischen Ausdrucksform der Trauer, findet Carlotta Posth im deutschen und französischen Sprachraum Zeugnisse dieses erzählten Sterbens. In den Totenklagen werden oft Sterbeszenen beschrieben – diese sind meist emotional verdichtet und symbolisch aufgeladen.
08 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
Zum Teil ist es so, dass quasi ein Fakt, der offenbar so oder so ähnlich passiert, eben dann einmal so, einmal so ausgedeutet oder noch ein bisschen ausgeschmückt, durch Details versehen wird. Und damit ist der Tod auch nicht primär ein natürlicher Tod, sondern es ist immer etwas moralisch Aufgeladenes, und er hat immer auch eine Form von Symbolcharakter, nämlich tatsächlich als Spiegel dessen, wie ich gelebt habe.
SPRECHERIN
Im Mittelalter galt es, gut vor Gott zu sterben – mit Blick auf die Ewigkeit. Überlieferte Sterbeszenen lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Prüfsteine lesen: Wer in den Quellen einen „guten Tod“ stirbt, hat – so das theologisch geprägte Weltbild der Zeit – wohl auch ein gutes Leben geführt. Doch genau dort, wo das Lebensende so gewichtig und wirklich alles entscheidet und durch ein stark normiertes „gutes“ Sterben inszeniert wird, beginnt für die Forschung ein Problem: die Frage nach der Authentizität. Ist ein Mensch wirklich so verstorben, wie es niedergeschrieben wurde – oder haben die Hinterbliebenen das im Nachhinein stilisiert? Nicht nur in Texten von mittelalterlichen Hofdichtern, die stark von christlichen Vorstellungen und Normen geprägt waren, auch in späteren Jahrhunderten haben Zeitgenossen den Tod oft nachbearbeitet – als letzter Auftritt, inszeniert für die Nachwelt, zum Beispiel in dem Bericht eines gewissen Leibarztes:
MUSIK (die gleiche wie eingangs bei der ersten Sterbeszene von Goethe – Funktion: Hüllt einen Mythos ein)
ZITATOR:
Weimar, 22. März 1832. Variante 2. Das Zimmer ist gedämpft, nur ein schmaler Lichtstrahl fällt durch die schweren Vorhänge. Der alte Mann atmet flach. Johann Wolfgang von Goethe, Dichter und Denker, hebt mühsam die Hand. Sein Blick fällt auf Ottilie, seine Schwiegertochter, die an seinem Bett wacht. Seine Lippen bewegen sich, kaum hörbar sagt er: „Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen.“ Ihre Hand legt sich in seine. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Dann sinkt er zurück, die Finger werden schlaff. Stille.
MUSIK klingt aus
SPRECHERIN
Vielleicht war es auch so, als Goethe starb. Profaner. Weniger Licht – mehr Frauenzimmer. Denn es gibt noch andere Quellen, die vom Ableben Goethes berichten – nicht nur den Leibarzt Carl Vogel. Zumal: Cornelius Hartz hat in den Aufzeichnungen des Leibarztes von Goethe nachgelesen, dass dieser zugibt,
09 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
... dass er selber gar nicht dabei war, sondern andere, die ihm dann berichtet haben: Als letztes hat Goethe gesagt „mach doch den zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkomme.“
SPRECHERIN
Und da gibt es ja noch die anderen Quellen:
10 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Trotzdem gab es damals auch schon Zeitzeugen bzw. eben seine Verwandten, die am Sterbebett dabei waren, die eine andere Variante berichtet haben, nämlich, dass er zu seiner Schwiegertochter Ottilie gesagt hat: Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen. Was vielleicht dann sich nicht so eignete für so einen berühmten Dichter und Denker als letztes Wort, bevor er aus dem Leben schied.
SPRECHERIN
Goethes Beispiel macht deutlich, wie stark Sterbeszenen von Nachwelt und Nachbearbeitung geprägt sein können und wie unsicher die Quellenlage oft ist: Überliefert wird, was erinnert wird – oder was als erinnerungswürdig scheint. So soll zumindest nach den Aufzeichnungen des Lyrikers Arthur Symons Oscar Wilde gesagt haben: „Ich sterbe, wie ich gelebt habe – über meine Verhältnisse.“ Der Literaturwissenschaftler Richard Ellmann schreibt in der Biografie über Wilde aber von einer anderen Variante: Dieser soll über die Tapete in seinem Zimmer schimpfen, die ihm mehr als missfällt, und stirbt mit den Worten: „Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich!“. Marie Antoinette soll auf dem Weg zur Guillotine ihrem Henker auf den Fuß getreten sein – mit den entschuldigenden, letzten Worten: „Verzeihen Sie, Monsieur, ich habe es nicht absichtlich getan.“ Zumindest schreibt Antonia Fraser in der Biographie der französischen Königin über diese möglichen Strebeworte. Und Galileo Galilei habe wohl nach dem Widerruf seiner Lehre noch auf dem Todesbett gemurmelt: „Und sie bewegt sich doch!“ – ein Satz, der ihm als Akt des Widerstands zugeschrieben wird. Historisch belegt ist er nicht. Das erste Mal verzeichnet ist das vermeintliche Zitat bei dem italienischen Literaturwissenschaftler Giuseppe Baretti – mehr als einhundert Jahre nach dem Tod von Galileo.
11 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Es gibt viele berühmte letzte Worte, die auch denen, die sie geäußert haben, angedichtet wurden. Ein besonders geistreicher Mensch soll natürlich im besten Fall auch als allerletztes in seinem Leben was besonders Geistreiches von sich geben.
SPRECHERIN
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, die Echtheit letzter Worte zu überprüfen – denn nur selten gibt es verlässliche Zeugen und dokumentarische Quellen, die sie genauso überliefert haben, wie sie tatsächlich gesprochen wurden. In vielen Fällen stammen sie aus zweiter oder dritter Hand, wurden nachträglich dramatisiert oder schlicht erfunden, um eine Geschichte runder zu machen. Oder es lässt sich einfach schlicht nicht mehr herausfinden.
12 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Eines der ganz berühmten letzten Worte von Caesar: Auch du, Brutus! Was man ja auch von Shakespeare später kennt, findet sich als Erstes bei Sueton. Aber Sueton schreibt eben auch 200 Jahre nachdem Caesar gestorben ist, berichtet nur vom Hörensagen und will vor allem eine dramatische Szene schildern. Zumal eben in der Antike die Geschichtsschreibung noch gar nicht den Anspruch hatte, irgendwelche Quellenforschung zu betreiben, sondern da wurden halt spannende Geschichten aus der Vergangenheit erzählt. Also je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto vager wird das Ganze eigentlich.
SPRECHERIN
Das eigentliche Dilemma mit den letzten Worten liegt jedoch weniger in ihrer vagen Überlieferung – sondern im Sterben selbst. Die Vorstellung vom pointierten Abschiedssatz – ob nun historisch verbürgt oder literarisch veredelt – ist eher Erzählkonvention als Realität. Denn der Tod hält sich nicht an dramaturgische Regeln. In den meisten Fällen bleibt keine Zeit für wohlgesetzte Abschiedsworte. Statt eines spitzen Finales steht oft das langsame Verstummen. Rupert Scheule, Moraltheologe von der Universität Regensburg, leitet das interdisziplinäre Forschungsfeld der sogenannten „Perimortalen Wissenschaften“ – ein Fachgebiet, das sich mit Sterben, Tod und den Übergängen dazwischen beschäftigt.
13 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Insgesamt sollten wir nicht vergessen, dass wir mit einer ganz hohen Wahrscheinlichkeit von ungefähr 70-75 % in unseren letzten 48 Stunden auf Erden bewusstlos sein werden. Vielleicht 10 % von uns werden bis an die Schwelle des Todes ansprechbar bei Bewusstsein sein. Also letzte Worte brauchen physiologisch immer oder meistens jedenfalls einen bestimmten Vorlauf.
SPRECHERIN
Die Vorstellung von letzten Worten als bewusst gesetztem, bedeutungsschwerem oder über die Ewigkeit entscheidendem Abschied hält er vor allem für eines: ein kulturelles Erzählmuster.
14 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Unser Interesse an letzten Worten kommt im Grunde aus einer Erzähllogik. Das Ende ist das Entscheidende. Das mobilisieren wir gegen das Rieseln der Welt.
SPRECHERIN
Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende – und genau dieses Bedürfnis nach einem stimmigen Abschluss übertragen wir auch auf das echte Leben.
15 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Die große Oscar Wilde Weisheit „Live Imitates Art“ stimmt zu 100 % und ist im Grunde überhaupt das Erfolgsrezept letzter Worte. Wir kommen sozusagen in unserem Interesse an letzten Worten von der Erzähllogik her, die wir im Kopf haben. Und diese Erzähllogik lässt uns in das Leben sehen, das Leben strukturieren und auch das Leben leben. Und das macht überhaupt den Reiz letzter Worte aus. Das ist eine zutiefst narrative Logik, die in diesen Worten steckt.
SPRECHERIN
Und doch gibt es sie – letzte Worte, bewusst gewählt, im Angesicht des Todes gesprochen, mit dem Wissen, dass sie bleiben werden. Eine Botschaft an die Nachwelt, politisch, religiös oder als letzter Ausdruck einer tiefen Überzeugung. Es sind die seltenen Momente des absolut kontrollierten Sterbens:
16 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Wenn Hans Scholl mit den Worten stirbt „Es lebe die Freiheit!“, dann ist das natürlich schon berührend. Oder seine Schwester, Sophie Scholl „Die Sonne scheint noch!“ Und bei diesem Satz, ist es auch nicht ganz klar, ob Sophie Scholl tatsächlich das Haar einfallende Sonnenlicht gemeint hat oder ob sie sie im übertragenen Sinn gemeint hat. Und das macht vielleicht auch das hohe Berührungspotenzial letzter Worte aus, dass sie immer auch ein bisschen schillern.
SPRECHERIN
„Man hält die Sonne nicht auf“ – das war das Motto des französischen Widerstands, sehr wahrscheinlich ist es, dass Sophie Scholl tatsächlich darauf angespielt hat. Dass das tatsächlich ihre letzten Worte waren, da sind sich Historikerinnen und Historiker sicher. Überliefert wurden sie von dem Leiter der Vollzugsabteilung des Landgerichts, dem Scharfrichter und dem evangelischen Gefängnisgeistlichen. - Hinrichtungen und Suizide verleihen letzten Worten eine ganz neue Fallhöhe. Hier gibt es kein unbedachtes Dahinsagen – wer sie spricht oder einen Abschiedsbrief hinterlässt, weiß, dass es das letzte Mal sein wird und dass diese Worte überliefert werden. Sie können als Vermächtnis verstanden werden, als letzte Rebellion, als Trotz, als Auftrag. Und manchmal ist das letzte Wort, so betrachtet, auch politischer Akt.
Musik (Funktion: Historische Nacherzählung)
ZITATOR
20. Juli 1944, kurz nach Mitternacht. Im Hof des Berliner Gebäudekomplexes Bendlerblock steht ein Militärfahrzeug mit laufendem Motor. Die Nachricht vom Scheitern des Attentats auf Hitler hat sich bestätigt. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Offizier, Aristokrat und Widerstandskämpfer, wird gemeinsam mit seinen Mitverschwörern zum Schießplatz geführt. Als Stauffenberg an die Reihe kommt, ruft er: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Dann fallen die Schüsse.
... Musik Ende
17 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Da gibt es verschiedene Versionen oder verschiedene Aussagen dazu. Aber vermutlich ist er mit dem Ruf „Heiliges Deutschland!“ oder „Es lebe das heilige Deutschland“ gestorben. Das war ihm ein wichtiger Begriff aus seiner Sozialisation, aus dem George-Kreis. Das war für ihn etwas, wofür er tatsächlich gelebt hat, wofür er ins hohe Risiko dieses Attentats gegangen ist. Auch da haben wir dieses politische Bekenntnis.
SPRECHERIN
So Rupert Scheule.
Musikakzent
SPRECHERIN
Letzte Worte markieren den Übergang zwischen Leben und Tod, sind der letzte bewusste oder unbewusste Ausdruck eines Menschen und werden mit Bedeutung aufgeladen. Oft wurden letzte Worte ausgeschmückt, manchmal sogar erfunden. Besonders bei berühmten Persönlichkeiten erscheinen sie im Rückblick oft poetischer, als sie es wirklich waren. Doch vielleicht ist das gar nicht so entscheidend.
18 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Das ist vielleicht wie in der Literatur, dass man ja auch sagt, eine wahre Geschichte ist nicht unbedingt eine, die exakt so passiert ist, aber eben eine, die eine tiefere Bedeutung in sich trägt, die vielleicht für die Menschen deshalb wahr wird, weil sie eben einen anderen Kern hat als bloße faktische Informationen.
SPRECHERIN
Und vielleicht erfüllen letzte Worte weniger die Funktion eines wörtlichen Zitats als die einer Erzählung, die Trost spendet oder eine tiefere Wahrheit transportiert.
19 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Letzte Worte sind gar nicht immer entscheidend, wie das ganze Leben entscheidend ist. Also, wir dürfen das Ende auch nicht überschätzen. Also das könnte auch die Pointe sein, da mal die Bälle flach halten, was die Faszination letzter Worte angeht. Guckt auf das Ganze und ihr seid fairer unterwegs.
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Goethe, Marie-Antoinette, Oskar Wilde: Sie starben, wie sie gelebt haben - wenn man ihren letzten Worten glaubt. Berühmte letzte Sätze, die über Jahrhunderte hinweg gesammelt und verklärt wurden. Doch was davon ist wahr und was nur Legende? Von Lavina Stauber
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Philippe Ariès, „Die Geschichte des Todes“ – Ein Klassiker der Kulturgeschichte, der den Wandel des Todesbildes in der westlichen Welt nachzeichnet. Deutscher Taschenbuch Verlag, 13. Auflage 2015.
Cornelius Hartz, „Sehen Sie, so stirbt man also“ – Ein unterhaltsamer und zugleich nachdenklicher Streifzug durch die letzten Worte historischer Persönlichkeiten. Philipp von Zabern, 2012.
Karl S. Guthke, „Letzte Worte“ – Eine kulturgeschichtliche Untersuchung der letzten Worte im westlichen Raum. C.H. Beck München, 1990.
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Ein alter und kranker Mann liegt in einem Sessel. Das Kaminfeuer wirft flackernde Schatten an die Wand, der Atem in der Stube ist gedämpft. Johann Wolfgang von Goethe, Dichterfürst und Naturforscher, hebt mühsam die Hand. Seine Augen suchen Licht – das fahle Tageslicht, das durch eines der gekippten Fenster fällt, erreicht ihn nicht mehr. Seine Stimme ist schwach, doch deutlich, als er mit letzter Kraft fordert: „Mehr Licht!“ Dann sinkt er zurück. Die Kerzen brennen weiter, das Fenster bleibt halb geschlossen, das Sonnenlicht hinter den schweren Vorhängen verborgen.
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Goethes letzte Worte sind vermeintlich klar, und vor allem: bedeutungsschwer und vielschichtig – so, wie man sie von einem Denker seines Formats erwarten würde. Eine erstaunliche Leistung auf dem Sterbebett. Doch war es sein letzter Geistesblitz, der ihn selbst, Johann Wolfgang von Goethe, für die Nachwelt in so poetischem Licht dastehen lässt?
01 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Goethe gilt ja bis heute als größter deutscher Dichter und führender Intellektueller seiner Zeit. Und als solchen wollen wir von ihm natürlich ein ganz besonderes letztes Wort und möglichst eines, was vielleicht sogar ein bisschen mehr in sich trägt als nur eine reine Information oder irgendwie was, was besonders Intelligentes oder Geistreiches ist, sondern fast schon mysteriös transzendent.
SPRECHERIN
Goethes Wunsch nach „mehr Licht“ gehört zu den bekanntesten letzten Worten im deutschen Sprachraum. Und seine letzten Worte sind – in ihrer Rezeption – genau das: Ein metaphorischer, diese sinnliche Welt überschreitender Wunsch nach mehr Erkenntnis, Aufklärung oder Wahrheit. Ganz passend zu Goethes lebenslangem Streben nach Wissen. Doch stammen – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen - die letzten Worte des großen Dichters gar nicht aus seiner eigenen Feder. Das hat Cornelius Hartz in seinem Sachbuch über die letzten Worte historischer Persönlichkeiten quellenkritisch erarbeitet:
02 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Überliefert ist das letzte Wort bei Goethes Leibarzt Dr. Carl Vogel. Und in seiner Schrift zieht er dann aber das Fazit, dass ja die Finsternis, die Goethe in jeder Beziehung stets verhasst war, dass er mit seinem letzten Wort daraus hinauswollte. Und das impliziert dann eben auch eine transzendente, jedenfalls eine zweite Ebene als nur diese reine Information: Ja, hier ist es vielleicht ein bisschen dunkel im Zimmer.
SPRECHERIN
Cornelius Hartz hat sich durch hunderte letzte Aussagen von Persönlichkeiten geblättert und auf die Suche begeben, wo und durch wen letzten Worte berühmter Persönlichkeiten dokumentiert wurden. Die Quellenauflistung reicht von Platon bis hin zu Konrad Adenauers Familienkreis – und – wird von ihm auf einer prozentualen Skala nach Wahrscheinlichkeiten eingeordnet. Carl Vogel, der nicht nur Goethes Leibarzt, sondern auch sein Gehilfe war, vertraut er als historischer Quelle nicht. Zu stark lässt dieser nämlich in seiner Niederschrift um Goethes Sterbestunde durchblicken, dass es ihm um den runden Abschluss und nachweltlichen Ruhm Goethes gehe.
03 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Das ist vielleicht teilweise die Faszination mit dem Tod bzw. mit dem Übertritt vom Leben in den Tod. Dass wenn eine Persönlichkeit verstirbt, dass wir so eine Art Sentenz gerne hätten. Vielleicht so etwas, was so ein ganzes berühmtes Leben zusammenfasst im besten Fall.
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An den Sterbebetten der Geschichte bilden letzte Worte mehr ab, als nur den letzten Augenblick. Sie scheinen dazu bestimmt zu sein, das ganze Leben zu greifen und so einen Hauch Unsterblichkeit zu erschaffen. Manch einer mag kein einziges Wort aus Goethes Hand gelesen haben, aber kennt die letzten Worte auf seinen Lippen. Andere haben selbst nie eine Lateinstunde besucht, wissen aber, mit welchen Worten Cäsar von dieser Welt schied: „Et tu Brute?“ - Auch du, Brutus? Oder der Geschichtsmuffel erinnert sich vielleicht auch nur deshalb an Rosa Luxemburgs letzte Worte, weil der makabre Widerspruch darin so eindrücklich und politisch ist: „Nicht schießen!“ soll sie gerufen haben – und wurde doch erschossen. Letzte Worte hängen unausweichlich mit dem Ende des Lebens, dem Sterben und dem Tod zusammen. Und diese Endgültigkeit erhebt Anspruch auf Aufmerksamkeit, wie Professor Rupert Scheule von der Universität Regensburg zusammenfasst:
04 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Die Endlichkeit des Lebens ist ein Sinngenerator. Weil wir nicht unendlich viel Zeit haben, müssen wir uns zusammennehmen und jetzt die Dinge tun, die wichtig sind. Also das gilt ganz grundsätzlich, aber jetzt, bei den letzten Worten, ist es ja nicht einfach nur die Endlichkeit des Lebens, die zählt, sondern das, was am Ende des endlichen Lebens kommt. Das halten wir für etwas Entscheidendes.
SPRECHERIN
Professor Rupert Scheule ist Theologe der Moraltheologie, also des Gebiets, das sich mit dem guten und richtigen Handeln aus christlicher Sicht auseinandersetzt. Sein besonderer Forschungsfokus liegt dabei auf den Thematiken Sterben, Trauer und dem Tod. So publiziert er darüber, ob man das „Sterben lernen“ kann oder wie wir noch Lebende dem Tod begegnen. Denn dieser Umgang mit dem Tod hat sich historisch stark verändert und damit auch den Stellenwert der letzten Worte im Leben mitgeprägt. Im religiös geprägten Mittelalter war der Tod ein entscheidender Moment, der nicht als Endpunkt gedacht wurde, ….
05 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
... sondern eigentlich als ein Übergang, nämlich genau vom Diesseitigen ins Jenseitige. Und da ist dann die Vorstellung im Grunde, dass das diesseitige Leben etwas episodisches ist. Das ist eigentlich auch das, was relativ schnell vorbeigeht. Und das ewige Leben, was dann folgt, ist ja das, was sehr großes Gewicht hat.
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Der Tod ist, so verstanden, ein Wendepunkt – ein Wendepunkt, der auch in der Arbeit von Carlotta Posth (Aussprache in Clipliste / OT-Projekt) eine wichtige Rolle einnimmt. An der Universität Würzburg beschäftigt sie sich mit mittelalterlicher Vergänglichkeitsliteratur. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf dem deutschen und französischen Sprachraum. Verschiedene Texte, wie die sogenannten „Totenklagen“ untersucht sie daraufhin, wie in ihnen über die Begegnung mit dem Tod gesprochen wird. Für die Einordnung dieser Texte ist das vorherrschende christliche Verständnis vom Jüngsten Gericht entscheidend. Also die Vorstellung von dem Tag, an dem der christliche Gott über alle Menschen richtet. Im 13. und 14. Jahrhundert entwickelt sich durch Werke von Theologen wie Thomas von Aquin und die päpstliche Bulle "Benedictus Deus" systematisch ein neues Verständnis des Jüngsten Gerichts, das nicht mehr als unbestimmte Zukunftsvision dargestellt wird, sondern als sogenanntes „Partikulargericht“ direkt ans Lebensende rückt:
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Sobald ich sterbe, werde ich sofort gerichtet. Und zwar quasi erst mal nur ich als Individuum. Ich komme in den Himmel oder ich komme in die Hölle, aber es passiert mir jetzt und dadurch kriegt dann natürlich auch diese Sterbestunde eine enorme Relevanz, weil sich in diesem Moment des Übergangs, unmittelbar danach entschieden wird, wie es mir für die Ewigkeit geht.
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Erstrebenswert war das ewige Leben im Himmel. Dafür galt es auf Erden ein „gutes“ Leben zu leben, aber eben auch: einen guten Tod zu sterben.
07 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
Und eine Lesart, die im Mittelalter absolut gängig ist, ist auch, dass Menschen, die einen schlechten Tod sterben, auch ein schlechtes Leben gelebt haben. Also dann wird die Art, wie ich sterbe, rückbezogen auf mein Leben und dann wird es auch in diese Richtung ausgelegt.
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In den mittelalterlichen „Totenklagen“, einer literarischen Ausdrucksform der Trauer, findet Carlotta Posth im deutschen und französischen Sprachraum Zeugnisse dieses erzählten Sterbens. In den Totenklagen werden oft Sterbeszenen beschrieben – diese sind meist emotional verdichtet und symbolisch aufgeladen.
08 O-Ton Jun-Prof. Dr. Carlotta Posth
Zum Teil ist es so, dass quasi ein Fakt, der offenbar so oder so ähnlich passiert, eben dann einmal so, einmal so ausgedeutet oder noch ein bisschen ausgeschmückt, durch Details versehen wird. Und damit ist der Tod auch nicht primär ein natürlicher Tod, sondern es ist immer etwas moralisch Aufgeladenes, und er hat immer auch eine Form von Symbolcharakter, nämlich tatsächlich als Spiegel dessen, wie ich gelebt habe.
SPRECHERIN
Im Mittelalter galt es, gut vor Gott zu sterben – mit Blick auf die Ewigkeit. Überlieferte Sterbeszenen lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Prüfsteine lesen: Wer in den Quellen einen „guten Tod“ stirbt, hat – so das theologisch geprägte Weltbild der Zeit – wohl auch ein gutes Leben geführt. Doch genau dort, wo das Lebensende so gewichtig und wirklich alles entscheidet und durch ein stark normiertes „gutes“ Sterben inszeniert wird, beginnt für die Forschung ein Problem: die Frage nach der Authentizität. Ist ein Mensch wirklich so verstorben, wie es niedergeschrieben wurde – oder haben die Hinterbliebenen das im Nachhinein stilisiert? Nicht nur in Texten von mittelalterlichen Hofdichtern, die stark von christlichen Vorstellungen und Normen geprägt waren, auch in späteren Jahrhunderten haben Zeitgenossen den Tod oft nachbearbeitet – als letzter Auftritt, inszeniert für die Nachwelt, zum Beispiel in dem Bericht eines gewissen Leibarztes:
MUSIK (die gleiche wie eingangs bei der ersten Sterbeszene von Goethe – Funktion: Hüllt einen Mythos ein)
ZITATOR:
Weimar, 22. März 1832. Variante 2. Das Zimmer ist gedämpft, nur ein schmaler Lichtstrahl fällt durch die schweren Vorhänge. Der alte Mann atmet flach. Johann Wolfgang von Goethe, Dichter und Denker, hebt mühsam die Hand. Sein Blick fällt auf Ottilie, seine Schwiegertochter, die an seinem Bett wacht. Seine Lippen bewegen sich, kaum hörbar sagt er: „Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen.“ Ihre Hand legt sich in seine. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Dann sinkt er zurück, die Finger werden schlaff. Stille.
MUSIK klingt aus
SPRECHERIN
Vielleicht war es auch so, als Goethe starb. Profaner. Weniger Licht – mehr Frauenzimmer. Denn es gibt noch andere Quellen, die vom Ableben Goethes berichten – nicht nur den Leibarzt Carl Vogel. Zumal: Cornelius Hartz hat in den Aufzeichnungen des Leibarztes von Goethe nachgelesen, dass dieser zugibt,
09 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
... dass er selber gar nicht dabei war, sondern andere, die ihm dann berichtet haben: Als letztes hat Goethe gesagt „mach doch den zweiten Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkomme.“
SPRECHERIN
Und da gibt es ja noch die anderen Quellen:
10 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Trotzdem gab es damals auch schon Zeitzeugen bzw. eben seine Verwandten, die am Sterbebett dabei waren, die eine andere Variante berichtet haben, nämlich, dass er zu seiner Schwiegertochter Ottilie gesagt hat: Frauenzimmerchen, gib mir dein Pfötchen. Was vielleicht dann sich nicht so eignete für so einen berühmten Dichter und Denker als letztes Wort, bevor er aus dem Leben schied.
SPRECHERIN
Goethes Beispiel macht deutlich, wie stark Sterbeszenen von Nachwelt und Nachbearbeitung geprägt sein können und wie unsicher die Quellenlage oft ist: Überliefert wird, was erinnert wird – oder was als erinnerungswürdig scheint. So soll zumindest nach den Aufzeichnungen des Lyrikers Arthur Symons Oscar Wilde gesagt haben: „Ich sterbe, wie ich gelebt habe – über meine Verhältnisse.“ Der Literaturwissenschaftler Richard Ellmann schreibt in der Biografie über Wilde aber von einer anderen Variante: Dieser soll über die Tapete in seinem Zimmer schimpfen, die ihm mehr als missfällt, und stirbt mit den Worten: „Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich!“. Marie Antoinette soll auf dem Weg zur Guillotine ihrem Henker auf den Fuß getreten sein – mit den entschuldigenden, letzten Worten: „Verzeihen Sie, Monsieur, ich habe es nicht absichtlich getan.“ Zumindest schreibt Antonia Fraser in der Biographie der französischen Königin über diese möglichen Strebeworte. Und Galileo Galilei habe wohl nach dem Widerruf seiner Lehre noch auf dem Todesbett gemurmelt: „Und sie bewegt sich doch!“ – ein Satz, der ihm als Akt des Widerstands zugeschrieben wird. Historisch belegt ist er nicht. Das erste Mal verzeichnet ist das vermeintliche Zitat bei dem italienischen Literaturwissenschaftler Giuseppe Baretti – mehr als einhundert Jahre nach dem Tod von Galileo.
11 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Es gibt viele berühmte letzte Worte, die auch denen, die sie geäußert haben, angedichtet wurden. Ein besonders geistreicher Mensch soll natürlich im besten Fall auch als allerletztes in seinem Leben was besonders Geistreiches von sich geben.
SPRECHERIN
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Schwierigkeiten, die Echtheit letzter Worte zu überprüfen – denn nur selten gibt es verlässliche Zeugen und dokumentarische Quellen, die sie genauso überliefert haben, wie sie tatsächlich gesprochen wurden. In vielen Fällen stammen sie aus zweiter oder dritter Hand, wurden nachträglich dramatisiert oder schlicht erfunden, um eine Geschichte runder zu machen. Oder es lässt sich einfach schlicht nicht mehr herausfinden.
12 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Eines der ganz berühmten letzten Worte von Caesar: Auch du, Brutus! Was man ja auch von Shakespeare später kennt, findet sich als Erstes bei Sueton. Aber Sueton schreibt eben auch 200 Jahre nachdem Caesar gestorben ist, berichtet nur vom Hörensagen und will vor allem eine dramatische Szene schildern. Zumal eben in der Antike die Geschichtsschreibung noch gar nicht den Anspruch hatte, irgendwelche Quellenforschung zu betreiben, sondern da wurden halt spannende Geschichten aus der Vergangenheit erzählt. Also je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto vager wird das Ganze eigentlich.
SPRECHERIN
Das eigentliche Dilemma mit den letzten Worten liegt jedoch weniger in ihrer vagen Überlieferung – sondern im Sterben selbst. Die Vorstellung vom pointierten Abschiedssatz – ob nun historisch verbürgt oder literarisch veredelt – ist eher Erzählkonvention als Realität. Denn der Tod hält sich nicht an dramaturgische Regeln. In den meisten Fällen bleibt keine Zeit für wohlgesetzte Abschiedsworte. Statt eines spitzen Finales steht oft das langsame Verstummen. Rupert Scheule, Moraltheologe von der Universität Regensburg, leitet das interdisziplinäre Forschungsfeld der sogenannten „Perimortalen Wissenschaften“ – ein Fachgebiet, das sich mit Sterben, Tod und den Übergängen dazwischen beschäftigt.
13 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Insgesamt sollten wir nicht vergessen, dass wir mit einer ganz hohen Wahrscheinlichkeit von ungefähr 70-75 % in unseren letzten 48 Stunden auf Erden bewusstlos sein werden. Vielleicht 10 % von uns werden bis an die Schwelle des Todes ansprechbar bei Bewusstsein sein. Also letzte Worte brauchen physiologisch immer oder meistens jedenfalls einen bestimmten Vorlauf.
SPRECHERIN
Die Vorstellung von letzten Worten als bewusst gesetztem, bedeutungsschwerem oder über die Ewigkeit entscheidendem Abschied hält er vor allem für eines: ein kulturelles Erzählmuster.
14 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Unser Interesse an letzten Worten kommt im Grunde aus einer Erzähllogik. Das Ende ist das Entscheidende. Das mobilisieren wir gegen das Rieseln der Welt.
SPRECHERIN
Geschichten haben Anfang, Mitte und Ende – und genau dieses Bedürfnis nach einem stimmigen Abschluss übertragen wir auch auf das echte Leben.
15 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Die große Oscar Wilde Weisheit „Live Imitates Art“ stimmt zu 100 % und ist im Grunde überhaupt das Erfolgsrezept letzter Worte. Wir kommen sozusagen in unserem Interesse an letzten Worten von der Erzähllogik her, die wir im Kopf haben. Und diese Erzähllogik lässt uns in das Leben sehen, das Leben strukturieren und auch das Leben leben. Und das macht überhaupt den Reiz letzter Worte aus. Das ist eine zutiefst narrative Logik, die in diesen Worten steckt.
SPRECHERIN
Und doch gibt es sie – letzte Worte, bewusst gewählt, im Angesicht des Todes gesprochen, mit dem Wissen, dass sie bleiben werden. Eine Botschaft an die Nachwelt, politisch, religiös oder als letzter Ausdruck einer tiefen Überzeugung. Es sind die seltenen Momente des absolut kontrollierten Sterbens:
16 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Wenn Hans Scholl mit den Worten stirbt „Es lebe die Freiheit!“, dann ist das natürlich schon berührend. Oder seine Schwester, Sophie Scholl „Die Sonne scheint noch!“ Und bei diesem Satz, ist es auch nicht ganz klar, ob Sophie Scholl tatsächlich das Haar einfallende Sonnenlicht gemeint hat oder ob sie sie im übertragenen Sinn gemeint hat. Und das macht vielleicht auch das hohe Berührungspotenzial letzter Worte aus, dass sie immer auch ein bisschen schillern.
SPRECHERIN
„Man hält die Sonne nicht auf“ – das war das Motto des französischen Widerstands, sehr wahrscheinlich ist es, dass Sophie Scholl tatsächlich darauf angespielt hat. Dass das tatsächlich ihre letzten Worte waren, da sind sich Historikerinnen und Historiker sicher. Überliefert wurden sie von dem Leiter der Vollzugsabteilung des Landgerichts, dem Scharfrichter und dem evangelischen Gefängnisgeistlichen. - Hinrichtungen und Suizide verleihen letzten Worten eine ganz neue Fallhöhe. Hier gibt es kein unbedachtes Dahinsagen – wer sie spricht oder einen Abschiedsbrief hinterlässt, weiß, dass es das letzte Mal sein wird und dass diese Worte überliefert werden. Sie können als Vermächtnis verstanden werden, als letzte Rebellion, als Trotz, als Auftrag. Und manchmal ist das letzte Wort, so betrachtet, auch politischer Akt.
Musik (Funktion: Historische Nacherzählung)
ZITATOR
20. Juli 1944, kurz nach Mitternacht. Im Hof des Berliner Gebäudekomplexes Bendlerblock steht ein Militärfahrzeug mit laufendem Motor. Die Nachricht vom Scheitern des Attentats auf Hitler hat sich bestätigt. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Offizier, Aristokrat und Widerstandskämpfer, wird gemeinsam mit seinen Mitverschwörern zum Schießplatz geführt. Als Stauffenberg an die Reihe kommt, ruft er: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Dann fallen die Schüsse.
... Musik Ende
17 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Da gibt es verschiedene Versionen oder verschiedene Aussagen dazu. Aber vermutlich ist er mit dem Ruf „Heiliges Deutschland!“ oder „Es lebe das heilige Deutschland“ gestorben. Das war ihm ein wichtiger Begriff aus seiner Sozialisation, aus dem George-Kreis. Das war für ihn etwas, wofür er tatsächlich gelebt hat, wofür er ins hohe Risiko dieses Attentats gegangen ist. Auch da haben wir dieses politische Bekenntnis.
SPRECHERIN
So Rupert Scheule.
Musikakzent
SPRECHERIN
Letzte Worte markieren den Übergang zwischen Leben und Tod, sind der letzte bewusste oder unbewusste Ausdruck eines Menschen und werden mit Bedeutung aufgeladen. Oft wurden letzte Worte ausgeschmückt, manchmal sogar erfunden. Besonders bei berühmten Persönlichkeiten erscheinen sie im Rückblick oft poetischer, als sie es wirklich waren. Doch vielleicht ist das gar nicht so entscheidend.
18 O-Ton Dr. Cornelius Hartz
Das ist vielleicht wie in der Literatur, dass man ja auch sagt, eine wahre Geschichte ist nicht unbedingt eine, die exakt so passiert ist, aber eben eine, die eine tiefere Bedeutung in sich trägt, die vielleicht für die Menschen deshalb wahr wird, weil sie eben einen anderen Kern hat als bloße faktische Informationen.
SPRECHERIN
Und vielleicht erfüllen letzte Worte weniger die Funktion eines wörtlichen Zitats als die einer Erzählung, die Trost spendet oder eine tiefere Wahrheit transportiert.
19 O-Ton Prof. Dr. Rupert M. Scheule
Letzte Worte sind gar nicht immer entscheidend, wie das ganze Leben entscheidend ist. Also, wir dürfen das Ende auch nicht überschätzen. Also das könnte auch die Pointe sein, da mal die Bälle flach halten, was die Faszination letzter Worte angeht. Guckt auf das Ganze und ihr seid fairer unterwegs.
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