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Gestern habe ich getan, was ich selten tue: Fernsehen. Erst Phoenix, dann ZDF und ARD, bis Mitternacht. Immer wieder kamen die auftretenden Journalisten, Journalistinnen und Politiker zum Fazit: Wir in Europa müssen jetzt für die eigene Sicherheit sorgen, wir müssen mehr in Verteidigung investieren, usw.. „Für die eigene Sicherheit sorgen“ – diese Schlussfolgerung wäre ja noch zu verstehen. Aber warum muss das mehr Geld für Rüstung sein? Warum nicht „mehr Verständigung“? Warum nicht „sich vertragen“ statt gegeneinander aufzurüsten! Albrecht Müller.
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Geschichte wiederholt sich. Mich erinnert der Vorgang an die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Der damalige Bundeskanzler Adenauer hatte hinter dem Rücken seines Kabinetts mit den westlichen Alliierten die „Wiederbewaffnung“ – wie man damals sagte – vereinbart und damit die Teilung Deutschlands betrieben.
Ich weise auf die gestern wieder einmal erlebten Indoktrinationsversuche zu Gunsten von Aufrüstung hin und verbinde das mit der Anregung, solche Vorgänge im eigenen Umfeld, in der eigenen Familie und im Bekanntenkreis nicht einfach laufen und wirken zu lassen, sondern aufzuklären. Weisen Sie andere darauf hin, welche Art und welches Ziel der Indoktrination hier versucht wird.
Titelbild: Andrew Angelov / Shutterstock
In den russischen Fernseh-Talkshows am Mittwoch nach der Wahl spürte man Zufriedenheit. Die US-Demokraten mit Joe Biden an der Spitze hatten Russland in den letzten vier Jahren mit den Waffenlieferungen an die Ukraine und dem Hype um Wolodymyr Selenskyj das Leben schwer gemacht. Das russische Fernsehen hatte die Aversion auf die US-Demokraten in den letzten Jahren kräftig angeheizt und Trump geschont. Nun scheinen die Hoffnungen auf Donald Trump vollends zu zerbröckeln. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
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Dmitri Peskow, der Sprecher des russischen Präsidenten, erklärte am Mittwoch, die Wahlen in den USA seien eine „innere Angelegenheit der Vereinigten Staaten“. Man müsse noch den Amtsantritt von Trump abwarten. Gegenüber der Rossiskaja Gaseta erklärte Peskow, der Kreml beurteile den Wahlsieg Donald Trumps „mit verhaltenem Optimismus“. Die Nachrichtenagentur TASS zitierte den Putin-Sprecher mit den Worten: „Was die Glückwünsche betrifft: Mir ist nicht bekannt, dass der Präsident Trump zur Wahl gratulieren will. Lassen sie uns nicht vergessen, dass es sich um ein unfreundliches Land handelt, welches direkt und indirekt an dem Krieg gegen unseren Staat beteiligt ist.“
Peskow erklärte, Putin habe schon mehrmals seine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog mit Washington geäußert. Nach Meinung von Peskow ist die Stimmung in der US-Präsidialadministration gegen einen konstruktiven Dialog.
Putin-Sprecher: „Vor der Wahl waren russische Politiker optimistisch“
Der Sprecher des russischen Präsidenten erklärte, vor der Wahl seien russische Politiker in Bezug auf Trump optimistisch gewesen. Das hing nach Meinung von Peskow mit den Erklärungen der Republikaner im Wahlkampf zusammen.
„Aber nach den Wahlen bereitet man sich auf das Oval Office vor, und da haben die Aussagen schon einen anderen Ton. Und deshalb werden wir genau analysieren, alles beobachten und auf Grundlage von konkreten Worten und konkreten Schritten Schlüsse ziehen.“
(Quelle: rbc.ru)
Das russische Außenministerium kommentierte in einer Erklärung zum Wahlergebnis in den USA: „Man kann davon ausgehen, dass die Rückkehr von Donald Trump die inneren Spannungen und die Verhärtung der miteinander kämpfenden Lager (in den USA) verstärkt.“
Die Vorsitzende des russischen Föderationsrates, Walentina Matwijenko, erklärte gegenüber dem Wirtschaftsportal RBK: „Nach meiner Meinung haben die Ergebnisse der Wahlen in den USA keine kardinale, prinzipielle Bedeutung für uns. (…) Wir meinen, dass die Entwicklung von Russland in unseren Händen liegt. Wir wissen, woran wir arbeiten müssen. Und das werden wir tun.“
Die Wirtschaftspolitik und die technologische Entwicklung hängen nur von Russland selbst ab. Das gute Ergebnis von Trump sei „ein Protest gegen alles das, was vor sich geht, und zum Teil, so denke ich, auch ein Protest gegen die Politik gegenüber Russland“, erklärte Matwijenko.
Kamala Harris als Clown
Die Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris spielte in den russischen TV-Talkshows am Tag nach der Wahl nur eine Randrolle. Ihre visuelle Präsentation im russischen Fernsehen war einseitig. Man sah Harris meist als übertrieben lachende und alberne Person, und immer wieder wurde sie mit Vertretern der LGTB-Bewegung gezeigt.
Die meisten politischen Experten meinten, sie sei zu spät in den Wahlkampf eingestiegen. In der Demokratischen Partei habe es bessere Kandidaten gegeben als Harris.
Trumps Mischmasch – Entspannungssignale und Kriegsdrohungen
Die Russen haben, was Trump betrifft, schon vieles gehört, was sich widerspricht. Am 30. Juni 2023 erklärte Trump in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, müsse die Ukraine einen Teil ihres Territoriums an Russland abgeben. Am 17. September 2023 erklärte Trump in einem Interview mit NBC News: „Wenn ich Präsident wäre, würde ich Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj an den Verhandlungstisch rufen und einen für beide Seiten gerechten Deal vereinbaren.“
Im Oktober 2024 erklärte er gegenüber dem Wall Street Journal: „Ich habe gesagt, ´Wladimir, wenn du um die Ukraine ringst, werde ich dir einen solch schweren Schlag schicken, wie du es dir nicht vorstellen kannst. Ich schicke den Schlag direkt ins Zentrum von Moskau.´“
Der russische Fernsehkanal Rossija 24 war sich am Dienstag nicht zu schade, einen großen Teil des Interviews zu senden, das Tucker Carlson mit Donald Trump auf einer Wahlveranstaltung führte. In diesem Interview wurde der Mischmasch von Kriegsdrohungen und „ich werde alle Kriege beenden“ auf die Spitze getrieben.
Was Trump da absonderte, war für viele seiner Sympathisanten in Russland wohl harte Kost. Der Präsidentschaftskandidat erklärte, früher habe man Kriege geführt, da habe man Beute gemacht und Öl-Quellen erobert. Das sei gut gewesen. Heute führten die USA Kriege und kämen ohne Beute nach Hause.
Noch provokativer – insbesondere für Russen – klang Trumps falsche Behauptung, er habe die Nord Stream 2 „zerstört und gestoppt“ und nicht Biden.
Schließlich warf Trump in dem Interview Biden vor, er habe die Annäherung von Russland und China zugelassen. „Biden hat sie vereinigt. Das ist eine Schande. Ich muss sie wieder trennen. Ich denke, das kann ich machen.“
„Eindeutiger Verlierer Selenskyj“
Trotz dieser bedrohlichen Trump-Äußerungen waren bei den Experten-Talkshows am Mittwoch im russischen Fernsehen viele Teilnehmer der Meinung, der ukrainische Präsident Selenskyj sei der eindeutigste Verlierer der Wahl in den USA.
Ob Trump das Engagement der USA im Ukraine-Krieg herunterfährt, war unter den Experten aber umstritten. Einige meinten, man müsse damit rechnen, dass Trump Putin zu einem Waffenstillstand in der Ukraine auffordert. Wenn diese Aufforderung vom Kreml abgelehnt wird, müsse man damit rechnen, dass die USA unter Trump die Unterstützung zugunsten der Ukraine nicht reduzieren.
Im Fernsehkanal NTW meinte ein russischer Experte, die Deals, die der Geschäftsmann Trump Russland wahrscheinlich anbieten wird, seien für Russland „unannehmbar.“
In einer Talkshow des Kanals Perwi erklärte einer der eingeladenen Experten, unter Trump werden die USA ihr Engagement in der Ukraine verringern und stattdessen im Nahen Osten militärisch stärker präsent sein. Es sei bekannt, dass die US-Republikaner noch Israel-freundlicher seien als die US-Demokraten. Diese These wurde vom Moderator der Talkshow angezweifelt: „Trump wird nicht für Netanjahu kämpfen.“
US-Establishment wird Selenskyj nicht fallen lassen
Der Experte Nikolai Starikow erklärte, das US-Establishment werde die Ukraine nicht fallen lassen. Die Führung der EU werde es schwer haben, der Bevölkerung ein stärkeres militärisches Engagement der EU-Staaten in der Ukraine zu erklären.
Ein anderer Experte meinte, die Aussichten für eine erfolgreiche Amtszeit von Trump seien nicht gut. Trump sei ein Populist. Er mache den Armen Versprechungen. Zugleich gehöre er zur Oberschicht der Millionäre und Milliardäre. „Er wird seiner Klasse keinen Schaden zufügen.“
Wie Trump die immensen Schulden der USA zurückfahren wolle, sei völlig unklar. Zölle in Höhe von 60 Prozent für Waren aus China würden die wirtschaftliche Lage in den USA verschlechtern. Unter Trump drohe den USA eine Rezession.
In einer Talkshow im Kanal NTW meinte ein Experte, es sei unsicher, ob die staatlichen Apparate und die Geheimdienste in den USA und der EU, die unter Biden auf eine Politik der Eskalation eingeschworen wurden, einem Präsidenten Trump eine Chance geben.
Meine Meinung: Die Hoffnungen, mit Trump könne der Krieg in der Ukraine beendet werden, stehen auf sehr wackeligen Füßen. Es gibt seit 2022 faktisch keine politischen Beziehungen mehr zwischen den USA und Russland. Russland zeigt den USA die kalte Schulter. Die Gefahr einer Eskalation ist nach wie vor sehr groß.
Anfang November erklärte der stellvertretende Sekretär des russischen Sicherheitsrates und frühere russische Präsident, Dmitri Medwedew, in einem Interview mit RT, wenn der nächste Präsident der USA den russisch-ukrainischen Konflikt fortführt, „wird das eine sehr schlechte Wahl, weil das der Weg in die Hölle ist. Das ist wirklich der Weg in den dritten Weltkrieg.“
Titelbild: Zhenya Voevodina / Shutterstock
Seit letzter Woche kursiert ein Video, welches zeigen soll, wie die bundesdeutsche Außenministerin allein aus dem Regierungsflieger steigt und sich irritiert umschaut, weil weit und breit keine sonst übliche Empfangsdelegation sichtbar ist. Laut dem Clip soll dies wahlweise beim Besuch in Indien oder China geschehen sein. Die NachDenkSeiten fragten beim Auswärtigen Amt nach, ob dieses die Authentizität des Videoschnipsels bestätigen beziehungsweise den Kontext richtigstellen könne. Die Frage und Antwort des AA wurden medial breit aufgegriffen, allerdings wurde sehr unterschiedlich mit der Nennung des Fragestellers und seines Mediums umgegangen. Die „Faktenchecker“ von Correctiv verschwiegen die Quelle gleich ganz. Von Florian Warweg.
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Anmerkung der Redaktion: Das Video zeigt die Regierungspressekonferenz vom 28. Oktober 2024, auf Grund technischer Probleme konnte wir das Video erst heute veröffentlichen.
Hintergrund
Der Verfasser dieser Zeilen saß gerade in der Bundespressekonferenz am 28. Oktober, als er, leicht gelangweilt vom gerade behandelten Thema „mögliche Strafen für Autohersteller im Zusammenhang mit Flottengrenzwerten“, durch X und Telegramm scrollte und dabei vermehrt auf einen als aktuell bezeichneten Videoschnipsel stieß, in welchem Annalena B. die Gangway des Regierungsfliegers hinuntersteigt und sich dann sichtbar irritiert umschaut. Das sonst bei solchen Anlässen übliche Empfangskomitee ist nicht sichtbar. Betitelt waren die Clips unter anderem mit „Die chinesische Regierung ignorierte Baerbocks Ankunft“ oder auch „Kein Bock auf Baerbock“ und dem Verweis, dass dies gerade in Indien geschehen sei. China konnte es nicht sein, das war mir sofort klar, denn für Baerbock stand 2024 kein einziger China-Besuch auf der Agenda. Aber die deutsch-indischen Regierungskonsultationen fanden genau in diesen Tagen statt, und das aktuelle Wetter in Neu-Delhi würde auch durchaus das auf dem Video sichtbare Sommerkleid der Außenministerin erlauben.
Also nutzte ich meine nächste Fragemöglichkeit, als es sowieso um das Thema Indien, Habecks dortige U-Bahnfahrt und die anstehenden Regierungskonsultationen ging, und fragte beim Sprecher des Auswärtigen Amtes nach und es entwickelte sich folgender Dialog:
Frage Warweg:
„Herr Fischer, auf X und auch anderswo kursieren Videoschnipsel, die zeigen, wie die Außenministerin in Indien landet und angeblich von keiner offiziellen Regierungsdelegation empfangen wird. Könnten Sie das vielleicht für uns auflösen? Ist das tatsächlich vorgekommen? Falls ja: Was ist der Grund dafür, dass die Außenministerin ohne Empfang durch indische Offizielle in Indien gelandet ist?“
Sprecher des Auswärtigen Amtes, Fischer:
„Die Außenministerin ist – das haben Sie wahrscheinlich verfolgt – letzte Woche in Libanon und dann in Paris bei der Konferenz gewesen, und von dort ist sie dann per Linie nach Indien geflogen. Von daher hat sie sozusagen den Linienausstieg gewählt und ist dann auch dementsprechend empfangen worden, wie es sich von indischer Seite gehört. Sie haben das ja auch an den Gesprächen der Außenministerin mit ihrem indischen Kollegen gesehen: Die waren von großer Vertrautheit und enger Kooperation geprägt.“
Zusatzfrage Warweg:
„Die Videoschnipsel, auf die ich mich bezogen habe, zeigen sie allerdings aussteigend aus einem Flugzeug der Flugbereitschaft. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, dementieren Sie das? Das ist dann sozusagen aus dem Kontext gerissen oder wie auch immer? Weil diese Videoschnipsel gerade anfangen, viral zu gehen, wäre es ja vielleicht sinnvoll, das richtigzustellen.“
Fischer:
Herr Warweg, ich stelle das ja gerade richtig. Ich kann Ihnen sagen, dass die Außenministerin per Linie nach Indien geflogen ist. Wenn es Schnipsel gibt, die darlegten, sie sei mit einem Flugzeug der Flugbereitschaft geflogen, dann ist das einfach falsch.
Rund 30 Minuten später, ich hatte mich bereits fertig gemacht zum Gehen, kam dann noch eine Nachreichung des AA-Sprechers, in welcher dieser erklärte, dass der Videoschnipsel eine reale Situation zeige, allerdings weder in China noch in Indien, sondern beim Besuch der Außenministerin im Januar 2024 in Malaysia und dass die Situation einem „Missverständnis“ geschuldet gewesen sei:
BPK-Vorsitzender Feldhoff
„Dann hat das Auswärtige Amt erst noch Aufklärung zu dem kursierenden Video.“
Fischer (AA)
„Genau. Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen im Hintergrund gebeten, sich dieses Video doch einmal anzuschauen. Es ist so, wie ich gesagt habe. Es stammt nicht aus Indien. Es gibt Behauptungen, es stamme aus China. Auch das ist falsch. Es ist die Landung der Außenministerin in Malaysia. Dort hat durch ein Missverständnis das Flugzeug nicht da geparkt, wo es hätte parken sollen. Dadurch war das Begrüßungskomitee an einer anderen Stelle aufgebaut als an der, an der das Flugzeug zum Stehen gekommen ist. Insofern musste die Außenministerin ein paar Schritte gehen, um dann in Empfang genommen zu werden.“
Eine schnelle Recherche nach dieser Information ergab, dass unter anderem die Deutsche Welle, das Auswärtige Amt selbst und mehrere Fotoagenturen den Besuch Baerbocks am 12. Januar 2024 in Malaysia fotografisch dokumentiert hatten, und die Außenministerin genau in der Szenerie und mit demselben Kleid auf dem Flughafen in Kuala Lumpur zu sehen ist.
A visit to partners – enjoy the video recap of Foreign Minister Annalena Baerbock’s visit to #SoutheastAsia.
What were the topics & who did she meet?
Watch to find out. pic.twitter.com/0zcTeEJ0uJ
— GIC Southeast Asia (@GermanyInSEAsia) January 19, 2024
Die Darlegung des AA erscheint also in dem Fall als durchaus schlüssig und glaubwürdig. Bei der Bildagentur Alamy findet man zudem Bilder, die Baerbock am 12. Januar zeigen, wie sie dann im späteren Verlauf tatsächlich von malaysischen Offiziellen und dem deutschen Botschafter auf dem Gelände des Flugplatzes empfangen wird.
Focus nennt Quelle, Correctiv verschweigt sie
Jetzt beginnt allerdings ein recht aufschlussreiches Phänomen, was den redaktionellen Umgang mit dieser Frage der NachDenkSeiten auf der BPK und der Antwort des AA angeht. Exemplarisch sei auf die entsprechende Berichterstattung im Focus und bei den selbsternannten „Faktencheckern“ von Correctiv verwiesen. Das oft boulevardesk angelegte Nachrichtenmagazin mit Sitz in Berlin griff am 29. Oktober als eines der ersten deutschen Medien den Clip sowie meine entsprechende Frage in der BPK auf und nannte dabei, wie journalistisch eigentlich üblich, meinen Namen als Quelle:
„Eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, die der deutsche Journalist Florian Warweg angefragt hatte, sorgte für Aufklärung.“
Ganz korrekt wäre es natürlich gewesen, neben meinem Namen auch die NachDenkSeiten als verantwortliches Medium zu nennen „…der für das Onlineportal NachDenkSeiten tätige deutsche Journalist Florian Warweg…“. Aber in den aktuellen Zeiten muss man ja schon die sachliche Nennung des Namens eines NDS-Journalisten als Quelle, zudem ohne die sonst üblichen Attribute, positiv hervorheben.
Dass solche journalistischen Grundstandards keine Selbstverständlichkeit mehr sind, beweist eindrücklich Correctiv, also just die Organisation, die für sich selbst in Anspruch nimmt, besonders „transparent und nachvollziehbar“ zu berichten. Das „gemeinwohlorientierte Medienhaus“ widmete dem Thema einige Tage später, am 31. Oktober, einen seiner berüchtigten „Faktenchecks“. Dort heißt es dann im Gegensatz etwa zu den Kollegen beim Focus lapidar:
„Das Video in Sozialen Netzwerken war auch Thema bei der Bundespressekonferenz am 28. Oktober 2024. Auf die Frage, ob die viralen Videoschnipsel einen Bezug zur Reise nach Indien hätten, sagte Sebastian Fischer, Sprecher des Auswärtigen Amtes: „Ich kann Ihnen sagen, dass die Außenministerin per Linie nach Indien geflogen ist. Wenn es Schnipsel gibt, die darlegten, sie sei mit einem Flugzeug der Flugbereitschaft geflogen, dann ist das einfach falsch.“
Jetzt überrascht es niemanden, der mit den Praktiken und Haltungen bei Correctiv vertraut ist, dass die Namen nicht genehmer Medien und Journalisten als Ursprungsquelle nicht genannt werden. Das ändert aber nichts daran, dass dies mit der Selbstdarstellung in Bezug auf Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Kontext in den (zu großen Teilen von einem US-Oligarchen finanzierten) „Faktenchecks“ kollidiert:
„Mit einer eigenständigen Faktencheck-Redaktion setzen wir uns gegen Falschinformationen ein, decken Halbwahrheiten und Gerüchte auf und bieten Kontext an.“
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz am 28. Oktober
Frage Warweg
Herr Fischer, auf X und auch anderswo kursieren Videoschnipsel, die zeigen, wie die Außenministerin in Indien landet und angeblich von keiner offiziellen Regierungsdelegation empfangen wird. Könnten Sie das vielleicht für uns auflösen? Ist das tatsächlich vorgekommen? Falls ja: Was ist der Grund dafür, dass die Außenministerin ohne Empfang durch indische Offizielle in Indien gelandet ist?
Fischer (AA)
Die Außenministerin ist – das haben Sie wahrscheinlich verfolgt – letzte Woche in Libanon und dann in Paris bei der Konferenz gewesen, und von dort ist sie dann per Linie nach Indien geflogen. Von daher hat sie sozusagen den Linienausstieg gewählt und ist dann auch dementsprechend empfangen worden, wie es sich von indischer Seite gehört. Sie haben das ja auch an den Gesprächen der Außenministerin mit ihrem indischen Kollegen gesehen: Die waren von großer Vertrautheit und enger Kooperation geprägt.
Zusatzfrage Warweg
Die Videoschnipsel, auf die ich mich bezogen habe, zeigen sie allerdings aussteigend aus einem Flugzeug der Flugbereitschaft. Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, dementieren Sie das? Das ist dann sozusagen aus dem Kontext gerissen oder wie auch immer? Weil diese Videoschnipsel gerade anfangen viral zu gehen, wäre es ja vielleicht sinnvoll, das richtigzustellen.
Fischer (AA)
Herr Warweg, ich stelle das ja gerade richtig. Ich kann Ihnen sagen, dass die Außenministerin per Linie nach Indien geflogen ist. Wenn es Schnipsel gibt, die darlegten, sie sei mit einem Flugzeug der Flugbereitschaft geflogen, dann ist das einfach falsch.
–rund 30 Minuten später–
Vorsitzender Feldhoff
Dann hat das Auswärtige Amt erst noch Aufklärung zu dem kursierenden Video.
Fischer (AA)
Genau. Ich habe meine Kolleginnen und Kollegen im Hintergrund gebeten, sich dieses Video doch einmal anzuschauen. Es ist so, wie ich gesagt habe. Es stammt nicht aus Indien. Es gibt Behauptungen, es stamme aus China. Auch das ist falsch. Es ist die Landung der Außenministerin in Malaysia. Dort hat durch ein Missverständnis das Flugzeug nicht da geparkt hat, wo es hätte parken sollen. Dadurch war das Begrüßungskomitee an einer anderen Stelle aufgebaut als der, an der das Flugzeug zum Stehen gekommen ist. Insofern musste die Außenministerin ein paar Schritte gehen, um dann in Empfang genommen zu werden.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 28.10.2024
Mehr zum Thema:Die fragwürdige Finanzierung von Correctiv: US-Oligarchen und Bundesbehörden
Faktencheck der Faktenchecker: Wie Correctiv seine Leser über den Taurus-Mitschnitt desinformiert
Propaganda mit Preisen – Heute: Schon wieder „Correctiv“
„Russisches Desinformationsökosystem“ – Auswärtiges Amt weigert sich, UN-Expertin Belege für Baerbocks Gaza-Äußerung zu präsentieren
Im zweiten Teil seines Beitrags erörtert der promovierte Mathematiker Günter Eder die Wirksamkeit von mRNA-Injektionen und geht – nach Altersgruppen aufgeschlüsselt – der Frage nach, ob wirklich Todesfälle durch Covid-Infektionen mithilfe der Behandlung mit neuartigen mRNA-Medikamenten verhindert werden konnten und falls ja, wie viele. Den ersten Teil des Artikels können Sie hier nachlesen. Von Günter Eder.
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Beurteilung der Wirksamkeit von mRNA-Impfstoffen
Schon früh war zu erkennen, dass Coronainfektionen vor allem für alte Menschen eine Gefahr darstellen. Als in der letzten Kalenderwoche des Jahres 2020 in Deutschland mit dem Impfen begonnen wurde, gab es daher eine Prioritätenregelung. Neben Personen, die aufgrund ihrer Vorerkrankungen oder wegen ihrer beruflichen Tätigkeit besonders gefährdet waren, sich zu infizieren und/oder ernsthaft zu erkranken, konnten sich zunächst nur Menschen impfen lassen, die das 80. Lebensjahr überschritten hatten. Das Mindestalter wurde in den darauffolgenden Wochen sukzessive herabgesetzt, und ab der 22. Woche 2021 stand es jedem Erwachsenen frei, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden.
Da nach Angaben der Impfstoffhersteller nur die doppelte Impfung einen guten und dauerhaften Schutz gegen Corona bietet, ließen sich fast alle Menschen sechs Wochen nach der ersten Impfung ein zweites Mal impfen. Schnell stellte sich heraus, dass das Versprechen eines dauerhaften Schutzes auch mit zwei Impfungen nicht eingelöst werden konnte. Von Woche zu Woche lässt der Impfschutz nach, bis er nach sechs Monaten praktisch nicht mehr vorhanden ist. Um dem entgegenzuwirken, wurde empfohlen, die Schutzwirkung nach sechs Monaten mit einer sogenannten Boosterimpfung aufzufrischen. Dieser Empfehlung folgten die meisten Geimpften, und noch heute lassen sich viele Menschen zweimal im Jahr gegen Corona impfen.
Nach schleppendem Beginn in den ersten Wochen nimmt das Impfgeschehen ab Februar 2021 spürbar Fahrt auf. Abgesehen von einer Impflücke zwischen der Zweit- und der Drittimpfung sind die Impfzahlen danach durchweg hoch. Erst nach den Boosterimpfungen im Februar/März 2022 fallen sie dauerhaft auf ein niedriges Niveau ab. Insgesamt sind bis Ende 2021 154 Millionen mRNA-Dosen verabreicht worden, und jeder Impfling ist im Schnitt 2,8-mal geimpft.
Der Abbildung 2 kann man entnehmen, wie sich die Impfzahlen zeitlich entwickelt haben. Da die Frage nach der Wirksamkeit der Impfung im Mittelpunkt steht, sind zusätzlich die Corona-Sterbezahlen in die Grafik mit aufgenommen. Andere mögliche Impffolgen, wie beispielsweise die Zunahme bestimmter Erkrankungen oder der allgemeine Anstieg der Übersterblichkeit, sind nicht Gegenstand der Untersuchung und werden hier nicht näher betrachtet (zur Problematik der Übersterblichkeit als mögliche Spätfolge der Coronaimpfungen vergleiche die Ausführungen in [2] und [11]).
Die Abbildung wirkt im ersten Moment etwas verwirrend, doch dürfte sie sich dem interessierten Leser schnell erschließen. Was bei genauerem Hinsehen auffällt, ist der synchrone Verlauf der Zahl der Boosterimpfungen und der Sterbefälle in der vierten Coronawelle. Der gleiche Effekt zeigt sich, wenn auch schwächer ausgeprägt, bei der Erstimpfung in der dritten Coronawelle. Mit der zweiten Impfung ist kein derartiger Effekt verbunden. Wie lässt sich der Sachverhalt erklären?
Abbildung 2
Die Vermutung, dass die mRNA-Impfungen, und hier insbesondere die Boosterimpfungen, den Anstieg der Todesfälle verursacht haben könnten, liegt nahe, erweist sich jedoch als voreilig. Gegen diesen Erklärungsansatz sprechen nicht nur die Aussagen vieler Klinikärzte, die berichteten, dass die Zahl der Coronapatienten auf den Intensivstationen nach Beginn der Impfung stark zurückging, sondern auch die zeitliche Abfolge der Ereignisse. Die Sterbezahlen steigen nämlich nicht nach den Impfungen an, sondern sie gehen den Impfungen voraus. Der kausale Zusammenhang, soweit es ihn gibt, verkehrt sich damit ins Gegenteil. Nicht die Impfung hat die Sterbezahlen ansteigen lassen, sondern die steigenden Sterbezahlen führten dazu, dass sich immer mehr Menschen impfen ließen. Das könnte auch erklären, warum die zweite Impfung keinen Zusammenhang zum Sterbegeschehen aufweist. Ob und wann sich die Menschen ein zweites Mal impfen ließen, war ihnen nicht freigestellt. Die Zweitimpfung hatte, unabhängig vom realen Sterbegeschehen, sechs Wochen nach der Erstimpfung zu erfolgen.
Das ist ein durchaus interessantes, wenn auch nicht unbedingt überraschendes Ergebnis, doch ist man damit der Frage, ob die Impfung Coronatote verhindert hat, noch nicht sehr viel näher gekommen. Die Abbildung 3, in der die Verlaufskurven älterer und jüngerer Coronatoter gegeneinander aufgetragen sind, könnte hier unter Umständen weiterhelfen.
Da sich die Sterbezahlen der beiden Altersgruppen auf sehr unterschiedlichem Niveau bewegen, sind unterschiedliche Skalierungen für die Verlaufsdarstellung gewählt worden. Auf der linken Achse sind die Sterbezahlen für die unter 60-Jährigen angegeben, auf der rechten die für die über 60-Jährigen.
Abbildung 3
Die Grafik lässt erkennen, dass in Phasen, in denen wenig oder gar nicht geimpft wurde, die Kurven für die unter und über 60-Jährigen nahezu deckungsgleich verlaufen. Das betrifft das gesamte Coronajahr 2020, einschließlich der ersten Wochen des Folgejahres, sowie die Zeit nach Beendigung der Massenimpfungen im Frühjahr 2022.
Nach dem zunächst synchronen Verlauf der Kurven im Jahr 2020 beginnen sich diese ab der sechsten Woche 2021 voneinander zu entfernen. Dieser Zustand hält (in unterschiedlich starker Ausprägung) über mehr als zwölf Monate an. Das Zahlenverhältnis von jüngeren zu älteren Coronatoten verändert sich in dieser Zeit deutlich zuungunsten der Jüngeren. Und der Effekt rührt eindeutig vom Impfen her. Er setzt ein, als die Impfzahlen stark zu steigen beginnen, und endet, als sich nur noch wenige Menschen impfen lassen. Auf dem Höhepunkt der dritten Coronawelle (Erstimpfung) und auf dem Höhepunkt der vierten Coronawelle (erste Boosterimpfung) sind die Differenzen zwischen den Kurven am größten. Die zweite Impfung ist mit keinem vergleichbaren Effekt verbunden.
Für das Auseinanderdriften der Sterbekurven kommen zwei Erklärungen in Betracht: Entweder ist die Zahl junger Coronatoter infolge der Impfung ungewöhnlich stark gestiegen, oder die Impfung hat zu einem starken Rückgang der Zahl älterer Coronatoter geführt. Da mit dem Impfen der unter 60-Jährigen aufgrund der Prioritätenregelung erst in der 22. Woche 2021 begonnen wurde und die Coronawelle zu diesem Zeitpunkt bereits ausklang, kommt eigentlich nur die zweite Möglichkeit als Erklärung in Betracht. Das gilt in gleicher Weise für die Boosterimpfung in der vierten Coronawelle. Auch hier konnten sich die unter 60-Jährigen erst sehr spät impfen lassen, da zwischen letzter Impfung und Boosterimpfung mindestens sechs Monate vergangen sein mussten. Und zu diesem Zeitpunkt klang auch die vierte Welle bereits aus. In beiden Fällen kann die Impfung folglich nur geringen Einfluss auf die Sterbezahlen der unter 60-Jährigen gehabt haben. Aus den Überlegungen folgt, dass der vorzeitige Tod vieler über 60-Jähriger durch die Impfung verhindert werden konnte. Offen ist, wie viele alte Menschen von der Impfung profitiert haben könnten.
Angenommen, im Jahr 2021 hätte noch kein Impfstoff zur Verfügung gestanden, dann wäre zu erwarten gewesen, dass das Verhältnis zwischen der Zahl jüngerer und der Zahl älterer Coronatoter über den gesamten betrachteten Zeitraum hinweg annähernd konstant geblieben wäre. In der dritten Welle wären dann vermutlich ähnlich viele Ältere an Corona gestorben wie in der vorangegangenen zweiten Welle. Diese Schlussfolgerung resultiert aus der damaligen Einschätzung der Mediziner, dass die Alpha-Variante, die das Strebegeschehen in der dritten Welle dominierte, ähnlich gefährlich war wie die Urtyp-Variante in der zweiten Welle. Und der Verlauf der Corona-Sterbekurve für unter 60-Jährige, die sich ja erst spät impfen lassen konnten, spricht für die Richtigkeit dieser Einschätzung. Die U60-Sterbekurve in der dritten Welle ist fast ein Duplikat der Sterbekurve in der zweiten Welle.
Wenn ohne die Impfung die Alt-zu-Jung-Relation in der dritten Welle die gleiche gewesen wäre wie in der zweiten Welle, dann kann man aus den U60-Sterbezahlen Schätzwerte für die zu erwartende Zahl der Ü60-Sterbefälle ableiten. Die Differenz zu den tatsächlichen Sterbezahlen gibt dann Auskunft über die Zahl vermiedener Ü60-Coronatoter. Auf gleiche Weise kann die Zahl vermiedener Todesfälle in der vierten Welle ermittelt werden. Das Ergebnis dieses Schätzverfahrens kann der Abbildung 4 entnommen werden. Zum Vergleich sind die vom RKI ausgewiesenen Corona-Sterbefallzahlen mit angegeben.
Die Zahl vermiedener Todesfälle verläuft in einer ähnlichen Wellenbewegung wie die Corona-Sterbezahlen. Summiert man die Einzelwerte auf, so kommt man für die Zeit ab der sechsten Woche 2021 bis zur 23. Woche 2022 auf 87.247 vermiedene Ü60-Todesfälle. Eine deutlich geringe Anzahl von über 60-Jährigen ist in dieser Zeit an den Folgen einer Coronainfektion gestorben (68.079).
Zum Vergleich: In einer weltweiten Studie zur Wirksamkeit der Coronaimpfung weist die World Health Organisation (WHO) einen fast doppelt so hohen Wert aus. Der WHO zufolge sind in dem betrachteten Zeitraum 161.589 Menschenleben in Deutschland durch die Impfung gerettet worden. Die WHO geht bei der Berechnung allerdings von einer unrealistisch hohen Impfwirksamkeit aus. Für die Alpha-Variante unterstellt sie eine Wirksamkeit von 91 Prozent und für die Delta-Variante von 91 Prozent (bei zwei Dosen) bzw. 95 Prozent (bei drei Dosen). Nach eigenen Berechnungen (auf Grundlage der offiziellen Daten der britischen Gesundheitsbehörde Health Security Agency) lag die Wirksamkeit der Impfung im Jahr 2021 allerdings eher bei nur etwa 70 Prozent. [11] Wäre die WHO von einer niedrigeren Wirksamkeit ausgegangen, wäre der Schätzwert für die Zahl vermiedener Coronatoter entsprechend geringer ausgefallen.
Hinsichtlich des Alters geht die WHO davon aus, dass lediglich 4,3 Prozent aller durch die Impfung Geretteten jünger als 60 Jahre waren. [14]
Abbildung 4
Unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Todesfällen war die Erstimpfung während der dritten Coronawelle die Wirksamste. Mit der Erstimpfung konnte die Zahl der Ü60-Coronatoten zwischen der zehnten und der 26. Woche 2021 um 69 Prozent reduziert werden. Die Auffrischimpfung während der vierten Coronawelle (42. Woche 2021 bis vierte Woche 2022) war noch mit einer Wirksamkeit von 60 Prozent verbunden. Am schwächsten war die Schutzwirkung, die von der zweiten Boosterimpfung ausging (fünfte Welle). Für den überraschenden Anstieg der Zahl vermiedener Coronatoter zwischen der dritten und vierten Welle (34. bis 40. Woche 2021) gibt es bisher keine zufriedenstellende Erklärung.
Betrachtet man die Altersgruppe der über 60-Jährigen etwas differenzierter, so stellt man fest, dass vor allem die über 80-Jährigen von den mRNA-Impfungen profitiert haben. Zu Beginn der Impfung lag ihr Anteil an den Coronatoten noch bei etwa 70 Prozent. In dem Maße, wie der Impfprozess voranschreitet, geht der Prozentsatz dann über sechs Monate hinweg kontinuierlich zurück. In der 15. Woche 2021 machen über 80-Jährige nur noch 50 Prozent der Verstorbenen aus, und in der 24. Woche ist das absolute Minimum mit nur mehr 30 Prozent erreicht. Danach steigen die Werte wieder an und pegeln sich letztlich wieder auf Werte zwischen 65 und 70 Prozent ein, also etwa auf ein Niveau wie vor Beginn der Impfung.
Entscheidend für den Rückgang des Ü80-Anteils an den Coronatoten dürfte die Prioritätenregelung gewesen sein, nach der sich zunächst nur über 80-Jährige uneingeschränkt impfen lassen konnten. Der Rückgang wäre demnach Ausdruck der Wirksamkeit der Impfung. Das Wissen um den zeitlichen Verlauf des Anteils der über 80-Jährigen an den Coronatoten kann genutzt werden, um daraus einen Schätzwert für die Zahl der vermiedenen Ü80-Coronatoten abzuleiten. Für das Schätzverfahren wurde unterstellt, dass, wenn kein Impfstoff zur Verfügung gestanden hätte, die über 80-Jährigen durchgängig 69 Prozent der Coronatoten ausgemacht hätten. So kommt man auf einen Wert von knapp 70.000 vermiedenen Ü80-Coronatoten. Die über 80-Jährigen machen damit fast 80 Prozent aller vermiedenen Ü60-Coronatoten aus.
Es klingt uneingeschränkt positiv, dass das Leben so vieler Menschen durch die Impfung gerettet worden ist. Aber was heißt das konkret? Fast 80 Prozent aller Geretteten waren achtzig Jahre alt oder älter. Ihr Durchschnittsalter dürfte zwischen 85 und 90 Jahre gelegen haben. Und aus den Obduktionen der Coronatoten in Hamburg weiß man, dass praktisch alle Verstorbenen mit mehr oder weniger gravierenden Vorerkrankungen belastet waren. [12] Um welche Zeitspanne mag das Leben dieser betagten Menschen verlängert worden sein?
Einen vagen Hinweis auf die Spanne der Lebensverlängerung geben die aus den allgemeinen Sterbedaten abgeleiteten Übersterblichkeitswerte. Betrachtet man deren Verlauf während und nach der zweiten Coronawelle, so stellt man fest, dass auf das Maximum der Übersterblichkeit eine ausgeprägte Untersterblichkeit mit negativen Werten folgt (vgl. Abb. 1). Zwischen den beiden Extrema liegen zehn Wochen. Die Zeitspanne lässt sich dahingehend interpretieren, dass viele Coronatote aufgrund der Infektion im Mittel etwa zehn Wochen an Lebenszeit verloren haben. Und die regressionsanalytische Auswertung des Verlaufs deutet darauf hin, dass dies für 68 Prozent aller Coronatoten gilt. [3] Ohne die Infektion hätten diese Menschen also durchschnittlich zehn Wochen länger gelebt. Es ist sicher nicht allzu gewagt, davon auszugehen, dass dies in besonders hohem Maße für die über 80-Jährigen gilt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass das Leben der geretteten über 80-Jährigen im Mittel um etwa zehn Wochen verlängert worden ist. So verblüffend das Resultat im ersten Moment erscheint, so kann angesichts des hohen Alters und der Vorerkrankungen der Betroffenen doch nicht ausgeschlossen werden, dass es die Realität korrekt abbildet.
Jedes Leben ist kostbar, und die Entwicklung eines Impfstoffs, der zu einer Verlängerung des Lebens beiträgt, ist uneingeschränkt zu begrüßen, egal wie viele Menschen davon profitieren oder um welche Zeitspanne das Leben verlängert wird. Etwas anderes ist es, wenn Menschen, die nicht besonders gefährdet sind, an Corona schwer zu erkranken oder zu sterben, zu einer mRNA-Impfung gezwungen werden – einer Impfung, die nicht nur nicht ausreichend erforscht ist, um die Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs abschließend beurteilen zu können, sondern von der auch niemand sagen kann, wie sie sich langfristig auf die Gesundheit und das natürliche Immunsystem des Geimpften auswirken wird.
Anders als bei den über 60-Jährigen lässt sich für die unter 60-Jährigen wenig Verlässliches über die Zahl vermiedener Coronatoter sagen. In Abbildung 3 ist kein Effekt zu erkennen, der darauf schließen ließe, dass die Impfung einen spürbaren Rückgang der Sterbezahlen bewirkt hätte. Vermutlich kam die Impfung zu spät, als dass sie noch eine ausgeprägte Wirkung auf das Sterbegeschehen hätte entfalten können.
Laut WHO waren 4,3 Prozent aller vermiedenen Coronatoten jünger als 60 Jahre. Unterstellt man, dass dieser Prozentsatz auf Deutschland übertragbar ist, dann wären in der Zeit von der sechsten Woche 2021 bis zur 23. Woche 2022 etwa 3.920 U60-Todesfälle vermieden worden. Ob dieser Wert die Realität korrekt widerspiegelt, ist ungewiss. Angesichts der späten Impfung der unter 60-Jährigen würde man eigentlich eher mit einer geringeren Zahl vermiedener Todesfälle rechnen.
Doch selbst wenn der Schätzwert zutreffen sollte, war das Impfen der unter 60-Jährigen alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Denn die Rettung der 3.920 Coronatoten wäre mit 754 gemeldeten Impftoten (bis Mitte 2022) teuer erkauft worden. Und wenn man bedenkt, dass viele Impftote meist gar nicht als solche erkannt und gemeldet werden, kann man nicht einmal sicher sein, dass die Impfung mehr U60-Todesfälle verhindert als verursacht hat. Und das coronabedingte Sterbegeschehen ist durch die Vakzine ja nicht beendet worden. 5.395 unter 60-Jährige sind in dem betrachteten Zeitraum noch an den Folgen einer Coronainfektion gestorben. Damit liegen die wöchentlichen Sterbezahlen höher als vor Beginn der Impfung. Während vor der sechsten Woche 2021 (also in den ersten beiden Wellen) lediglich 43 Coronatote pro Woche zu beklagen waren, sind es in der dritten, vierten und fünften Welle durchschnittlich 77 Coronatote pro Woche. Damit unterscheidet sich das U60-Sterbegeschehen grundlegend von der Situation bei den über 60-Jährigen. Hier geht die wöchentliche Zahl der Coronatoten von 1.309 (vor Impfbeginn) auf 973 (nach Impfbeginn) zurück. Angesichts dieser Sterbezahlen kann man die Impfbilanz für die Altersgruppe der unter 60-Jährigen eigentlich nur als verheerend bezeichnen. Und sie erhält einen besonders bitteren Beigeschmack durch den Umstand, dass es sich bei den U60-Impftoten in sehr vielen Fällen um gesunde und sportlich aktive Menschen gehandelt hat, für die eine Coronainfektion zu keinem Zeitpunkt eine besondere Gefahr dargestellt hätte. Es bleibt zu hoffen, dass dieser medizinische Irrweg, der bereits früh als solcher absehbar war, nicht nur politisch, sondern auch juristisch noch angemessen aufgearbeitet wird. [15]
mRNA-Arzneimittel gegen Corona: Impfstoff oder Medikament?
Zum Abschluss der Auswertung soll noch einmal der zeitliche Zusammenhang zwischen der Impfung und den vermiedenen Ü60-Coronatoten betrachtet werden. In den beiden nachfolgenden Grafiken sind zu diesem Zweck die vermiedenen Todesfälle der dritten Coronawelle zusammen mit der Zahl der Erstimpfungen aufgetragen (Abb. 5) bzw. die vermiedenen Todesfälle der vierten Coronawelle zusammen mit der Zahl der ersten Boosterimpfungen (Abb. 6). Um die Verläufe jeweils in derselben Graphik darstellen zu können, sind unterschiedliche Skalierungen für die Parameter gewählt worden.
Sowohl während der dritten als auch der vierten Coronawelle zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Zahl der Impfungen und der Zahl vermiedener Ü60-Coronatoter. Die Erstimpfung ist hinsichtlich der vermiedenen Todesfälle mit einem Korrelationskoeffizienten von 0,853 verbunden und die erste Boosterimpfung sogar mit einem Koeffizienten von 0,936. In beiden Fällen ist der Zusammenhang statistisch hochsignifikant.
Abbildung 5
Abbildung 6
Auffällig an der zeitlichen Entwicklung der Zahl der Erstimpfungen ist, dass die Impfzahlen ab der 22. Woche nicht weiter zurückgehen, sondern für mehrere Wochen auf einem hohen Niveau verbleiben. Zurückzuführen ist dies auf das Ende der Prioritätenregelung. Ab diesem Zeitpunkt konnten sich alle Erwachsenen, die dies möchten, impfen lassen, und die Möglichkeit wird von Vielen genutzt. Auf das Sterbegeschehen der unter 60-Jährigen hat die Ausweitung des Impfens keinen erkennbaren Einfluss (vgl. Abb. 3).
Wenn die hypothetischen Annahmen, die den Berechnungen der Zahl vermiedener Coronatoter zugrunde liegen, das Sterbegeschehen zutreffend charakterisieren, so sind in der dritten Welle 35.573 Ü60-Todesfälle und in der vierten Welle 37.482 Ü60-Todesfälle durch die mRNA-Impfung vermieden worden.
So erfreulich es ist, dass das Leben Zehntausender betagter Menschen durch die Impfung verlängert worden ist, so irritierend ist der synchrone Verlauf der Kurven. Es besteht praktisch keine Zeitlücke zwischen der mRNA-Impfung und den vermiedenen Coronatodesfällen. Der Zeitpunkt der Impfung ist zugleich der Zeitpunkt der „Heilung“. Dabei sind Impfungen doch eigentlich ein Versprechen auf die Zukunft. Wenn man sich heute impfen lässt, wird man in der Zukunft gegen den jeweiligen Krankheitserreger geschützt sein. Deshalb werden Grippeimpfungen meist im Herbst durchgeführt. Sie sollen verhindern, dass sich Menschen im Winter infizieren und an der Grippe erkranken oder gar versterben. Die mRNA-Impfungen scheinen jedoch einen direkten Einfluss auf das Sterbegeschehen auszuüben, ohne jeden zeitlichen Verzug.
Wenn ein Arzneimittel keine perspektivische, sondern eine unmittelbar heilende Wirkung hat, so handelt es sich dabei, dem allgemeinen Verständnis nach, doch eigentlich nicht um einen Impfstoff, sondern um ein therapeutisches Medikament, in diesem Fall also um ein Gentherapeutikum. Wenn das zutreffen sollte, hätten eigentlich nur solche Menschen „geimpft“ werden sollen, die bereits an Corona erkrankt waren – im Prinzip vergleichbar mit Antibiotika, die zur Behandlung Erkrankter eingesetzt werden und nicht zur Prophylaxe.
Ob diese Interpretation den medizinischen Wirkmechanismus der mRNA-Präparate korrekt beschreibt, kann und soll hier nicht weiter diskutiert werden. Dafür sind die Folgen, die eine solch veränderte Sichtweise auf die Beurteilung der mRNA-Impfung hat, zu grundlegend und weitreichend, als dass sie im Rahmen eines Statistikartikels angemessen behandelt werden könnten. An den Medizinern ist es, den aufgeworfenen Fragen ernsthaft und unvoreingenommen nachzugehen und für mehr Klarheit und Sicherheit hinsichtlich des Wirkmechanismus der mRNA-Präparate zu sorgen.
Titelbild: Ground Picture/shutterstock.com
[«1] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages – Regelungen zu genbasierten Impfstoffen. 25. Januar 2021
[«2] Günter Eder – Übersterblichkeit auf Rekordniveau, ein Rückblick auf drei Jahre Corona. NachDenkSeiten vom 5. April 2023
[«3] Günter Eder – Gedanken eines Statistikers zur Übersterblichkeit während der Coronapandemie. NachDenkSeiten vom 3. September 2022
[«4] Paul-Ehrlich-Institut – Sicherheitsbericht: Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor Covid-19 seit Beginn der Impfkampagne. Stand: 7. Februar 2022, Langen
[«5] Jessica Agarwal et al. – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht beruht auf groben methodischen Fehlern des Paul-Ehrlich-Instituts. Offener Brief vom 6. Juli 2022
[«6] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages – Obduktionen nach impfbezogenen Todesfällen. 12. Dezember 2022
[«7] Carina Rehberg – Corona-Impfung: Pathologe vermutet Dunkelziffer bei Impftoten. Zentrum der Gesundheit, 24. Juli 2022
[«8] Thomas Maul – Was die Pathologie über Impftote verrät. 8. Dezember 2022
[«9] Lazarus Ross – Electronic Support for Public Health-Vaccine Adverse Event Reporting System. Grant ID: R18 HS 017045, AHRQ Rockville 2011
[«10] Sachs, B. et al. – Forschung im Bereich der unerwünschten Arzneimittelwirkungen. In: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit. Ausgabe 1, März 2017
[«11] Günter Eder – Auswirkungen der Coronaimpfung: Daten, Fakten und Schlussfolgerungen. NachDenkSeiten vom 4. September 2023
[«12] Obduktionen in Hamburg – Fast alle Corona-Toten waren vorerkrankt. NTV vom 30. Februar 2021
[«13] Europaen Medicines Agency – Online-Zugriff auf Verdachtsfallmeldungen über Arzneimittelnebenwirkungen
[«14] WHO – Estimated number of lives directly saved by COVID-19 vaccination programs in the WHO European Region, December 2020 to March 2023. 12. Januar 2024
[«15] Sebastian Lucenti – Corona-Politik: Wir brauchen juristische Aufarbeitung statt kollektiver Verdrängung. Berliner Zeitung vom 10. Oktober 2024
Wohlhabende leben unbeschwert, Arme werden ärmer und die Mitte hat Angst vorm sozialen Abstieg. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung liefert die Zustandsbeschreibung einer materiell und mental auseinanderdriftenden Gesellschaft. Wer noch genug zum Leben hat, ist mit dem System halbwegs d‘accord, während sich Zukurzgekommene vermehrt von der Demokratie abwenden und nach unten treten. Den Mächtigen spielt das in die Karten, und die Regierenden spielen mit – solange man sie lässt. Von Ralf Wurzbacher.
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Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) war der Vorgang sogar einen Kommentar wert. „Wenn das kein Weckruf für die Politik ist: Die Armut wächst in Deutschland“, murrte der Schreiber des SPD-nahen Medienverbunds am Montagnachmittag in den Äther. Gerade hatte die Kunde einer neuen Studie aus dem Hause der Hans-Böckler-Stiftung die Runde gemacht. Darin findet sich allerhand Betrübliches über Deutschland rapportiert, aber mitnichten etwas Neues. Immer mehr Menschen sind sozial abgehängt, haben zu wenig zum Leben, ernähren sich bei den Tafeln, können sich keine Wohnung mehr leisten, bei nicht wenigen reicht das Geld nicht einmal mehr für ein paar Schuhe. Und: Die Abstiegsängste reichen inzwischen bis hoch in die obere Mittelschicht hinein. Fast die Hälfte ihrer Angehörigen plagt die Sorge, den erreichten Lebensstandard nicht halten zu können.
Höchste Zeit also für ein politisches Erwachen, sollte man meinen. Aber da oben regt sich nichts, nicht bei den Regierenden, den Wirtschaftsführern und beim Rest der gesellschaftlichen Eliten. Heute nicht, gestern nicht und all die Jahre davor nicht. Im Gegenteil: Sie machen einfach munter weiter beim großen Umverteilen und strafen die zahllosen Zeugnisse ihres Versagens – für sie in Wahrheit Erfolgsmeldungen – mit Nichtbeachtung. Ist etwas gewesen?
Wobei: Die Bundestagswahl rückt näher, und in deren zeitlichem Vorfeld befallen die Parteien gerne Anwandlungen von Mitgefühl, Verständnis und Herz für die einfachen Leute, gerade die Sozialdemokratie. Dort palavert man seit ein paar Wochen über eine höhere Besteuerung von Reichen, eine gerechtere Erbschaftssteuer, eine Lockerung der Schuldenbremse, ja sogar die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer wird beschworen. Alles toll und super durchdacht, aber nach dem Urnengang halt irgendwie nicht machbar – wegen der ganzen Krisen und Kriege in der Welt, der klammen Kassen und der Koalitionsräson. Stattdessen wird man spätestens in einem Jahr, eher schon früher, erleben: mehr Freiheit für’s Kapital, mehr Lohndruck, mehr Arbeitslose – mehr Elend.
Neoliberaler Plan
Dabei gibt es das längst im Überfluss, und streng genommen bildet der „Verteilungsbericht 2024“ des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) gar nicht das ganze Desaster ab. Der Report zeichnet unter dem Titel „Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte“ die Einkommensentwicklung zwischen 2010 und 2021 nach. Die massive Teuerungs- und Verarmungswelle im Zeichen der „Zeitenwende“ mit Energiepreisschock und Rekordinflation haben die Forscher gar nicht berücksichtigt, weil die Daten des zugrundeliegenden Sozioökonomischen Panels (SOEP) das nicht hergeben. So gesehen werden die Ampel-Parteien als wenigstens Mitverantwortliche der Misere noch geschont.
Von Verdienst ist die Untersuchung dennoch, weil sie mit der Erzählung aufräumt, Armut und wachsende Ungleichheit wären irgendwie jeweils singulären historischen Ereignissen geschuldet, also etwa der Weltfinanzkrise, der EU-Staatsschuldenkrise oder der Corona-Krise. Ja, diese Einschnitte haben die Verwerfungen verschärft und beschleunigt, aber waren doch nur Ausschläge einer seit Jahrzehnten wirksamen Tendenz, bei der sukzessive zunehmende Bevölkerungsteile systematisch von der Wohlstandsvermehrung ausgeschlossen werden.
Rot-grüne Grausamkeiten
Hierzulande nahm die Deklassierung insbesondere in und nach den Regierungsjahren unter Gerhard Schröder (SPD) Fahrt auf: mit der rot-grünen Unternehmenssteuerreform, den Hartz-Reformen und der Teilprivatisierung der Rente. Die „Agenda 2010“ öffnete die Tür zu bis dahin unbekannten sozialen Grausamkeiten, gerade mit Blick auf die Drangsalierung von Langzeitarbeitslosen. Aber auch dieser Umbruch war bloß Teil der schon in den 1970er-Jahren losgetretenen neoliberalen Wende, die bis heute ungebremst anhält und eines bestimmt nicht ist: ein Zufallsprodukt.
Eine wichtige Kennziffer der Entwicklung ist der sogenannte Gini-Koeffizient als statistisches Maß für Ungleichheit. Dessen Bandbreite reicht vom Wert „null“, der totale Gleichheit bedeuten würde, bis zum Wert „eins“, bei dem alle Einkommen eines Landes auf eine Person konzentriert wären. Laut WSI machte der Gini-Faktor schon in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren einen satten Sprung, verharrte dann länger auf erhöhtem Niveau, um dann wieder mit mehr Dynamik zuzulegen. 2010 lag der Gini-Wert noch bei 0,282. Bis 2021 kletterte er auf 0,310, einen „neuen Höchststand“, wie die beiden federführenden Wissenschaftler Dorothee Spannagel und Jan Brülle in einer Medienmitteilung festhalten.
Griffiger sind ihre Zahlen zur gewachsenen Einkommensarmut. Die Quote der Personen, die in einem Haushalt mit einem Nettoeinkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) leben, ist in Deutschland demnach in elf Jahren von 14,2 Prozent auf 17,8 Prozent gestiegen. Für einen Single bedeutete das, weniger als 1.350 Euro monatlich zur Verfügung zu haben. 11,3 Prozent waren gar von „strenger Armut“ betroffen, sie verfügten im Mittel über höchstens 1.120 Euro, was 2021 Nettobezügen von weniger als 50 Prozent des allgemeinen Durchschnittseinkommens entsprach. Elf Jahre davor waren es „nur“ 7,8 Prozent.
Kleidung unerschwinglich
Innerhalb eines Jahrzehnts hat das Auskommen der in Armut Lebenden lediglich um zehn Prozent zugelegt, während das der höheren Schichten um 19 Prozent aufwuchs. In großer Zahl geht es dabei um Menschen, die entweder komplett oder in Teilen von Sozialtransfers abhängen, weil ihr Job zu wenig Geld abwirft. Offensichtlich wurden die Hartz-IV-Leistungen (heute Bürgergeld) immer weiter von den tatsächlichen Bedarfen und der allgemeinen Lohn- und Preisentwicklung abgekoppelt. Besonders betroffen sind nach wie vor Frauen, Kinder, junge Erwachsene und Ostdeutsche. Noch härter ist das Los von Erwerbslosen, Menschen mit Migrationshintergrund und fehlendem Schul- und Berufsabschluss.
Wie die Betroffenen ihr Dasein fristen, geht aus einer gesonderten Lebenslagenbefragung hervor, die die Sozialforscher zwischen 2020 und 2023 durchführten. 42,8 Prozent der Armen und 21,3 Prozent der in der Skala darüber verorteten „prekären Einkommensgruppe“ (weniger als 1.800 Euro für einen Singlehaushalt) haben keinerlei finanzielle Rücklagen, um kurzfristige Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent waren nicht einmal in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen. Bei 17 Prozent der Armen reicht das Geld nicht, um Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch oder den einer Sportveranstaltung zu finanzieren, knapp 14 Prozent können ihre Freunde nicht zum Essen einladen, zumal mit der Not auch der Bekanntenkreis schwindet. Je geringer das Einkommen ist, desto einsamer geraten die Leidtragenden, desto öfter machen ihnen gesundheitliche Sorgen zu schaffen. Andere Statistiken belegen, dass sie häufiger und schwerer erkranken und früher versterben.
Mitte mit Muffensausen
„Deutschland steckt in einer Teilhabekrise, die sich in den vergangenen Jahren verschärft hat. Diese Krise hat eine materielle Seite und eine stärker emotional-subjektive“, warnte Studienautorin Spannagel und weiter: „Die Gruppe der Armen ist nicht nur seit 2010 größer geworden, sie ist zudem im Verhältnis zur gesellschaftlichen Mitte noch ärmer geworden.“ Zugleich griffen verstärkt Zukunfts- und Abstiegsängste um sich. 55 Prozent der Armen und über 58 Prozent derjenigen mit prekärem Einkommen haben der Studie zufolge Sorge, sozial noch tiefer abzustürzen. Vor vier Jahren lagen die Werte bei 48,8 Prozent beziehungsweise 44,1 Prozent. Auch in den „höheren“ Kreisen der Gesellschaft herrscht vermehrt Muffensausen. Im Vorjahr hatten nahezu 47 Prozent der Befragten der oberen Mittelschicht Befürchtungen, Abstriche von ihrem Status hinnehmen zu müssen.
Was die Studie nicht offenbart, ist die krasse Verschiebung der Reichtümer an die „Spitze“ der Gesellschaft. Zwar ist die Quote derer mit höchstem Einkommen zwischen 2010 und 2021 den Befunden zufolge von 1,9 Prozent auf 2,3 Prozent gestiegen. Nicht betrachtet werden jedoch Vermögen und Gewinneinkünfte aller Art, also die vornehmlich leistungslosen Profite aus Finanzgeschäften, die gerade in den großen Krisen unserer Zeit in astronomische Höhen schnellten. Preist man diese in die Rechnung ein, stellen sich die Unwuchten bei der Verteilung des Wohlstands noch viel eklatanter dar.
Stimmungsmache gegen Schwache
Wann wird das ein Ende haben? WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch ist wenig hoffnungsfroh. „Die Machtverhältnisse sehen momentan eher so aus, dass sie zu einer Verstärkung von Ungleichheit führen“, bemerkte sie am Montag vor Pressevertretern in Berlin. Während progressive Kräfte der Entwicklung derzeit wenig entgegenzusetzen hätten, könne man „konstatieren, dass Oben-Unten-Konflikte erfolgreich in Innen-Außen-Konflikte umgedeutet wurden“. Gleichwohl baue sie darauf, „dass da stärker ein Konsens unter demokratischen Kräften in der Gesellschaft entsteht“.
Danach sieht es nicht aus. Vielmehr trägt die deutsche Politik mehr denn je dazu bei, die Spaltung der Gesellschaft zu vertiefen und die Ressentiments gegen die Schwächsten der Gesellschaft noch zu befeuern. Die Revitalisierung des Hartz-IV-Sanktionsregimes unter dem Namen Bürgergeld, die verbalen Übergriffe gegen sogenannte Faulenzer und Sozialbetrüger, der kommende Nachschlag in puncto Deregulierung und Entbürokratisierung, dazu die faktische Absage der Kindergrundsicherung – all das sind Schritte, die die Verarmung breiter Gesellschaftsschichten forcieren und das gesellschaftliche und soziale Klima weiter vergiften werden. Gegen unten zu treten, wird künftig noch gesellschaftsfähiger.
Rechtsruck keine Überraschung
Das alles ist freilich ein Spiel mit dem Feuer. Der Verteilungsbericht beleuchtet sehr klar, wie mit sozialen Nöten und Abstiegsängsten das Vertrauen ins politische System schwindet. Danach sind lediglich noch 52 Prozent der unteren Mitte mit der Demokratie im Wesentlichen zufrieden, wobei in der oberen Mitte die Zustimmung mit knapp 60 Prozent auch rückläufig ist. Unter den Armen und den Menschen mit prekärem Einkommen sind weniger als 50 Prozent einverstanden, und mehr als ein Drittel von ihnen stimmen der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk.“ Die WSI-Forscher sehen hier einen „problematischen Kreislauf“ und starke Bewegungskräfte pro „rechtspopulistischer Einstellungen und die Unterstützung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien“. Die Regierenden sehen das auch, tun aber so, als wären sie daran kein bisschen schuld.
Eine verantwortungsvolle Politik müsse „auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen“. Statt die ohnehin zu knappen Leistungen für Bürgergeldempfänger weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, sei es „viel sinnvoller, Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken“. Außerdem braucht es laut WSI eine auskömmliche gesetzliche Rente, eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur, funktionierende Verkehrswege und Energienetze sowie ein gut ausgestattetes Bildungs- und Gesundheitssystem, also nichts weiter als die Stärkung „über Jahrzehnte bewährter Institutionen“.
So einfach geht das. Aber wen dafür wählen?
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Liegen Neuwahlen in der Luft? Eigentlich könnte man jetzt mit Genugtuung die aktuellen Auflösungserscheinungen einer für viele Bürger katastrophalen Bundesregierung beobachten. Das Ende der Ampel ist überfällig. Aber leider würde es keine politische Verbesserung bedeuten – möglicherweise sogar das Gegenteil. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Die Bundesregierung befindet sich in einer schweren Krise, wie Medien berichten. Nachdem Finanzminister Christian Lindner (FDP) vergangene Woche ein wirtschaftspolitisches Thesenpapier vorlegte, führen SPD, FDP und Grüne in dieser Woche entscheidende Gespräche, ob es mit der Koalition weitergeht. Am heutigen Mittwoch tagt der Koalitionsausschuss, davor soll es zu vertraulichen Gesprächen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Lindner kommen.
Die CDU fordert schon länger Neuwahlen, nun schließt sich Sahra Wagenknecht an und fordert die Bundesregierung zum Ende der Zusammenarbeit im Dreier-Bündnis und zu Neuwahlen auf. „Die Woche der Entscheidungen sollte zur Scheidungswoche der Ampel werden. Ein viertes Ampel-Jahr würde für die Wirtschaft unumkehrbare Verwerfungen bedeuten und millionenfach Wohlstand vernichten“, so Wagenknecht zur Welt. Die Koalition verzögere den Bruch aus Angst vor der „Quittung der Wähler“.
Lieber heute als morgen
Dass ich diese Bundesregierung lieber heute als morgen los wäre, steht außer Frage. Den gefährlichen, ja katastrophalen Charakter der Ampelpolitik haben die NachDenkSeiten oft beschrieben – unter anderem bei den Bereichen russische Energie, Verweigerung von Diplomatie, Verweigerung der Corona-Aufarbeitung, Unterordnung unter US-Interessen zulasten der hiesigen Bürger; außerdem bei den Tendenzen zu Meinungskontrolle und Zensur, bei der sündhaft teuren Militarisierung/Aufrüstung und der unter anderem darum fehlenden Mittel für Sozialwohnungen, Infrastruktur, Gesundheitssystem, soziale Sicherungen und so weiter und so fort.
Aber: Trotz dieses alarmierenden Befundes erscheint es mir zu kurz gedacht, echte Hoffnungen mit Neuwahlen zu verbinden. Schließlich ist die momentane politische Konstellation so verfahren, dass eine CDU-geführte Regierung nach einem Bruch der Ampel in den entscheidenden Fragen nicht nur keine Korrekturen vornehmen wird, sondern auf vielen Ebenen wahrscheinlich noch destruktiver agieren wird. Aktuelle Umfragen zur Bundestagswahl finden sich hier.
Unter CDU-Regie wäre womöglich zu erwarten: Keine Änderung an der Eskalation gegenüber Russland, keine rationale Beschränkung der teuren Aufrüstung, keine Rückkehr zur russischen Energie, keine gerechte Tendenz bei Steuer/Rente/sozialer Sicherung, keine angemessene Corona-Aufarbeitung – und statt dessen: radikale Kürzungen mit noch weniger sozialer Verantwortung und eine nochmalige Steigerung der offiziellen militaristischen Meinungsmache. Zugespitzt könnte es dann von allem Schlechten das Gleiche geben, nur eben mit ein paar Atomkraftwerken, mit etwas mehr Toleranz für Verbrennermotoren – und vor allem mit ganz viel übler Stimmungsmache gegen sozial Benachteiligte, um von der obszönen Ungleichverteilung des Reichtums in Deutschland abzulenken und um diese zu bewahren.
Bei der folgenden Feststellung muss auch die CDU mit in Haftung genommen werden: Wer bei den Themen russische Energie und den wegen der gegen Russland eskalierten Konfrontation „nötigen“ Rüstungsgeldern keinen Kurswechsel fordert, der akzeptiert den aktuellen wirtschaftlichen Niedergang und der nimmt eine Verarmung vieler Bürger billigend in Kauf, wie im Artikel „Russisches Gas – jetzt: Alles andere ist doch nur Theater” geschildert wird. Und wofür? Um offensichtlich jene US-amerikanischen Kreise zu bedienen, die ein starkes Interesse an einer deutsch-russischen Feindschaft haben.
Es bleibt ernüchternd
Möglicherweise könnten BSW und AfD bei Neuwahlen etwas zulegen, aber wird das real etwas ändern? Einerseits ja: Es gibt dann mit einem hoffentlich erfolgreichen BSW eine wahrscheinlich stärkere Opposition im Bundestag als jetzt, das wäre bereits ein erheblicher Fortschritt. Außerdem verlieren die Grünen hoffentlich krachend und vielleicht fliegt die FDP ja sogar aus dem Parlament. Trotzdem wird es höchstwahrscheinlich nicht z.B. für eine Mehrheit aus SPD und BSW reichen. Die AfD wird beim gegenwärtigen Stand der „Brandmauern“ etc. voraussichtlich vorerst keine Rolle bei Koalitionen spielen.*
Vielleicht wäre dann eine (ggf. tolerierte) „große“ Koalition aus CDU und SPD noch das Beste, was man bei den aktuellen Konstellationen erwarten kann? Auch wenn ein von einer schwachen SPD nur leicht gezügelter Ex-BlackRock-Manager Friedrich Merz überhaupt keine schöne Vorstellung als Kanzler ist: Immerhin wären dann einige besonders radikale Kräfte aus Grünen und FDP nicht mehr am Ruder.
Wie man es dreht und wendet: Es bleibt ernüchternd.
* Aktualisierung 6.11.2024, 14:30: Dieser Satz wurde hinzugefügt.
Titelbild: Roman Samborskyi / Shutterstock
Mehr zum Thema:Die Ampel muss weg? Ja! Und dann?
Gestern sind wir mal wieder mit Freundlichkeiten und Feierlichkeiten zur NATO überspült worden. Zum Beispiel beim ZDF mit einem Interview zwischen ZDF-Mann Sievers und dem neuen NATO-Generalsekretär Rutte. Siehe hier. Fast vier Minuten Einleitung mit militärischem Brimborium, dann sieben Minuten Interview – insgesamt über zehn Minuten. Wer Frieden mit möglichst wenig Militär will, erinnert sich mit Wehmut an den folgenden Text. Albrecht Müller.
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Auszug aus dem Berliner Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989:
Am Text seitlich mit (1) markiert:
„Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.“
Und mit (2) markiert:
„Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dies eröffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa.“
Die sowjetischen Streitkräfte sind abgezogen, die US-amerikanischen Truppen sind immer noch da, auch nach weiteren 35 Jahren der Besatzung. Heute sind etwas über 35.000 US-amerikanischen Soldaten in Deutschland stationiert.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns auf den Geist von 1989 besinnen. Das wäre aktuell und für die Zukunft notwendig. Denn unter den herrschenden Umständen sind wir im Falle eines Konflikts mit Russland eines der ersten militärischen Ziele – Deutschland insgesamt und ganz besonders der Südwesten, die Heimat der NachDenkSeiten.
Zum Ende noch das passende Foto zum herrschenden Zeitgeist, gestern im Kanzleramt zu Berlin aufgenommen und vom ZDF ausgestrahlt:
P.S.: Passend zu dem ganzen Brimborium meldet meine Regionalzeitung auf der ersten Seite und auf Basis einer dpa-Meldung:
„Rutte fordert von Berlin mehr Geld für Verteidigung“
und weiter:
„Der Neue Nato-Generalsekretär Mark Rutte hält die deutschen Verteidigungsausgaben trotz der jüngsten Erhöhungen für zu niedrig.“
Es ist höchste Zeit, gegen diesen Wahnsinn aufzustehen!
Bilder: Screenshots ZDF
160.000 weitere Soldaten will das ukrainische Militär einziehen. Brutale Zwangsrekrutierungen auf der Straße sind zu beobachten. Und die NATO spricht von über 600.000 getöteten russischen Soldaten. Unabhängig davon, ob diese Zahl stimmt oder propagandistisch kontaminiert ist: eine Wertegemeinschaft, die es nicht fertigbringt, innerhalb von drei Jahren in diesem Krieg mit den Mitteln der Diplomatie einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung herbeizuführen, hat jeden Anspruch auf moralische Überlegenheit verloren. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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Die gerade durch die Medien gehenden Zahlen sind ungeheuerlich. Nun will Selenskyj noch mehr Soldaten mobilisieren. Von 160.000 ist die Rede. 160.000 Bürger, die an die Front geschickt werden sollen. 160.000 Menschen, die in die Fleischwölfe des Krieges geschmissen werden. Das hat mit Vernunft und „Freiheitskampf“ nichts mehr zu tun. Die Lösung zur Beendigung dieses Krieges liegt nicht auf dem Schlachtfeld. Diesen Krieg müssen Politiker politisch schnellstmöglich zu einem Ende führen. Doch 160.000 weitere Soldaten, die das Schlachtfeld betreten sollen, lassen erahnen, dass das Gemetzel und das Abschlachten weitergehen und die Anzahl der Toten, Verwundeten und Verstümmelten weiter steigen wird.
Wer sieht, wie sich die sogenannte „westliche Wertegemeinschaft“ in diesem Krieg aufführt, hat den Eindruck, in eine römische Kampfarena zu blicken. Es ist, als würde von der Herrschaftstribüne eine Waffe nach unten gereicht, um das Spektakel des Kampfes noch etwas länger bestaunen und genießen zu können. Abgesehen davon, dass die vorgeblich moralisch überlegene Politik des Westens im Vorfeld des Krieges auf ganzer diplomatischer Ebene „versagt“ hat: Auch nach Ausbruch des Krieges bis heute sind die Forderungen nach einem raschen Frieden erstaunlich leise. Stattdessen ist die Rede von „Lumpen- und Unterwerfungspazifismus“, flankiert von Waffen, Panzern und Raketen. Das Ergebnis nach drei Jahren ist ein unfassbares, schier endloses Kriegsgrauen.
„Mehr als 600.000 russische Soldaten wurden in Putins Krieg getötet oder verwundet, und er ist nicht in der Lage, seinen Angriff auf die Ukraine ohne ausländische Unterstützung aufrechtzuerhalten.“ Das sind die Worte von NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Focus merkt an, dass sich die „von der Nato genannte Opferzahl (…) damit innerhalb von rund einem Jahr verdoppelt“ hat. „Wie viele der russischen Opfer nach Einschätzung der Nato Tote sind, sagte Rutte nicht.“ Es ist an dieser Stelle gar nicht so wichtig, ob diese Zahl stimmt oder propagandistisch kontaminiert ist. Natürlich ist bei Kriegen davon auszugehen, dass jede Seite die Verluste das Gegenübers versucht größer darzustellen, als sie sind; genauso wie jede Seite jeweils versucht, die eigenen Verluste kleiner zu rechnen. Doch selbst wenn man annähme, dass diese Zahl um 50 oder 70 Prozent zu hoch wäre, selbst dann würden wir immer noch von Opferzahlen im sechsstelligen Bereich sprechen. Hinzu kommt dann noch die Zahl der getöteten, verwundeten und verstümmelten ukrainischen Soldaten. Wir reden, egal wie es gedreht wird, von Hunderttausenden, die auf das Konto einer Politik des Krieges gehen.
Wie kann ein friedliches Europa solch eine Vernichtung vor der eigenen Haustür zulassen, oder genauer: unterstützen? Denn, wie nun nach drei Jahren wirklich nicht mehr geleugnet werden kann: Die militärische „Hilfe“ ist in Anbetracht der enormen menschlichen Schäden keine „Hilfe“. Ein Politiker, der das anders sieht, sollte das Feld der Politik verlassen. Längst kommt auch in deutschen Mainstreammedien an, was seit längerem immer wieder im Netz zu sehen ist: Videos, die zeigen, was mit ukrainischen Männern passiert, die sich dem Dienst an der Waffe widersetzen. Auch wenn diese Videos oft schwer zu verifizieren sind, gegebenenfalls auch eine gewisse Anzahl an gefälschten Videos in Betracht gezogen werden kann: Von Anfang an sprachen die Gesamtumstände dafür, dass auf den Straßen eines Landes, das vorgeblich für unsere Werte einsteht und das „wir“, die „Guten“ unterstützen, Bürger auf der Straße zwangsrekrutiert und regelrecht verschleppt werden – aus den Händen der eigenen Familien und Freunden.
Gerade zeigte ein Reporter der Welt in einem Beitrag entsprechende Videos und merkte an, dass er zunächst davon ausgegangen sei, es würde sich um russische Propaganda handeln. Mittlerweile sei er aber in der Ukraine und es habe sich herausgestellt, dass es sich nicht um russische Propaganda handelt. „Nach solchen Leuten suchen eben die Beamte auf der Straße, in Restaurants, in Fitnessclubs, auf Konzerten. Da werden regelrechte Razzien veranstaltet, um dieser Männer, die nicht dienen wollen, habhaft zu werden. Und mitunter eben dann mit brutalen Methoden, wie diese Videos auch zeigen, dass die gesuchten dann regelrecht in die Minibusse der Behörde reingestopft werden. Und dann wird eben kontrolliert, ob sie dienen müssen. Und wenn sie dienen müssen, dann geht es sofort in ein Ausbildungslager und dann auch an die Front.“
Menschenrechte? Empathie? Wertebasierte Außenpolitik? Das angeblich so vereinte, friedliche politische Europa hätte schon in aller Deutlichkeit seine Stimme erheben müssen, als zu Beginn des Krieges bekannt wurde, dass Männern im wehrfähigen Alter in der Ukraine die Ausreise untersagt wird. Die Verpflichtung zum Kampf, zum Krieg, zum Töten und sich töten lassen: Das unterstützt also die friedliche, den Menschenrechten sich verpflichtend fühlende Politik Europas?
In der „liberalen“ Zeit ist im Sommer ein Beitrag über die, wie die Redaktion es nennt, „Mobilisierung“ in der Ukraine erschienen. Im Vorspann heißt es: „Die Ukraine braucht neue Soldaten und rekrutiert sie auch auf offener Straße. Unter Männern wächst deshalb die Angst. Die meisten wollen sich dennoch nicht verstecken.“ Steht hier tatsächlich „rekrutiert“? Wie lässt sich in Anbetracht dessen, was Menschen, die nicht bereit sind, in den Krieg zu ziehen, erleiden müssen, das Verhalten weiter Teile der Medien und der Politik bezeichnen? Ich betrachte das als Verrat an der Menschlichkeit.
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Nach wie vor geht ein Riss durch die Gesellschaft, wenn es um die Frage nach dem Sinn und den Auswirkungen der Coronaimpfung geht. Schon bei der Bezeichnung „Impfung“ scheiden sich oft die Geister. Kann man ein Arzneimittel, das weder über einen längeren Zeitraum wirksam vor einer Infektion schützt noch eine Übertragung des Erregers auf andere Menschen verhindert, überhaupt als Impfstoff bezeichnen? Sind die mRNA-Produkte nicht eher therapeutische Medikamente, die lediglich schwere Krankheitsverläufe verhindern? Wenn das der Fall sein sollte, dann hätten die mRNA-Produkte eigentlich als Gentherapeutika eingestuft werden müssen – mit der Folge, dass sie aufgrund ihres neuartigen Wirkprinzips zwingend ein besonders strenges und aufwendiges Zulassungsverfahren hätten durchlaufen müssen. Von Günter Eder.
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Angesichts des Zeitdrucks, dem sich die Politik während der Coronazeit ausgesetzt sah, ist hierin möglicherweise ein entscheidender Grund zu sehen, warum die mRNA-Präparate nicht als Medikament, sondern als Impfstoff klassifiziert wurden. Denn genbasierte Impfstoffe unterliegen (eigenartigerweise) nicht den strengen Zulassungsanforderungen, die für Gentherapeutika gelten. [1] Nur so war es möglich, ein teleskopiertes, d.h. stark reduziertes und zeitlich gerafftes Zulassungsverfahren zur Überprüfung der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der mRNA-Präparate anzuwenden. Welche Folgen der Verzicht auf ein gründliches und umfassendes Zulassungsverfahren für die Geimpften gehabt hat, soll im Weiteren anhand von Sterbezahlen, die soweit möglich offiziellen Quellen entnommen sind, genauer untersucht werden.
Wie aussagekräftig sind die Coronasterbezahlen?
Das Robert Koch-Institut (RKI) bezeichnet alle Verstorbenen, für die ein positiver PCR-Test vorliegt, als Coronatote. Der konkrete Krankheitsverlauf hat keinen Einfluss auf die Zuordnung. Selbst Personen, die bereits vor der festgestellten Infektion unter schweren Erkrankungen litten und daran möglicherweise auch gestorben sind, werden den Coronatoten zugerechnet. Es wird also nicht unterschieden, ob jemand AN oder MIT Corona starb. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Zahl der Menschen, die tatsächlich infolge einer Covid-Infektion gestorben sind, systematisch und möglicherweise sogar massiv überschätzt wird.
Eine Möglichkeit, die Sterbezahlen besser verstehen und beurteilen zu können, besteht darin, sie mit der Übersterblichkeit abzugleichen. Auf die Übersterblichkeit hat im Übrigen auch das RKI in der Vergangenheit stets zurückgegriffen, wenn es darum ging, die Zahl der Menschen, die im Zuge einer Grippeepidemie gestorben sind, abzuschätzen. Aufgrund der massenhaft durchgeführten PCR-Tests während der Coronazeit bietet sich nun erstmals die Gelegenheit, zu überprüfen, ob bzw. wie eng die beiden Größen „Übersterblichkeit“ und „Infektionstote“ miteinander verknüpft sind. [2] Das war vorher (bei der Grippe) nicht möglich.
Abbildung 1 lässt erkennen, dass die vom RKI ausgewiesenen Coronasterbezahlen im Jahr 2020, als noch nicht geimpft wurde, sehr gut mit dem Verlauf der Übersterblichkeit harmonieren. Sowohl während der ersten wie auch während der zweiten Coronawelle stimmen die Werte nicht nur von der maximalen Höhe her, sondern auch im ansteigenden Kurvenverlauf sehr gut überein. Warum sich die Kurven im absteigenden Zweig voneinander entfernen, wird in [3] ausführlich diskutiert.
Abbildung 1
Angesichts der fehlenden Differenzierung der Coronasterbezahlen (nach AN oder MIT) überrascht die gute Übereinstimmung der Verläufe. Der Sachverhalt kann eigentlich nur dahingehend interpretiert werden, dass auch Personen, die nicht ursächlich AN, sondern lediglich MIT Corona verstarben, aufgrund der Covidinfektion früher gestorben sind, als es ohne die Infektion der Fall gewesen wäre. Daraus folgt, dass auch die bisherigen RKI-Angaben zur Zahl der Grippetoten, die ja durchweg aus der Übersterblichkeit abgeleitet sind, sowohl AN als auch MIT der Grippe Verstorbene beinhalten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei den Angaben des RKI zur Zahl der Coronatoten (trotz des Mangels, nicht zwischen AN und MIT zu differenzieren) um aussagekräftige Daten handelt, auf deren Nutzung man nicht verzichten sollte. Insbesondere in Verbindung mit Daten aus anderen Quellen können sie wertvolle neue Erkenntnisse liefern.
Todesfälle infolge von mRNA-Impfungen
Bereits sehr früh, als noch gar nicht absehbar war, ob Corona nicht auch medikamentös erfolgreich bekämpft werden könnte, entschied die Bundesregierung, dass die Pandemie erst beendet sei, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht. Ob diese Vorfestlegung gerechtfertigt war oder nicht, ist zu keinem Zeitpunkt wissenschaftlich hinterfragt oder gesellschaftlich diskutiert worden. Man hat die Festlegung hingenommen, wie man eine Wettervorhersage hinnimmt. Fortan galt die Impfung als Königsweg aus der Pandemie. Kritik an dieser Vorgabe war nicht erwünscht. Wer Zweifel an der Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit der neuartigen mRNA-Impfstoffe äußerte, musste damit rechnen, ausgegrenzt und diffamiert zu werden. Die politische Festlegung, dass die Impfung der einzige Weg aus der Pandemie sei, dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass über Impfnebenwirkungen zu keinem Zeitpunkt offen gesprochen wurde und dass dies bis heute ein Tabuthema ist.
Dabei hat das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zu keinem Zeitpunkt ein Geheimnis daraus gemacht, dass die mRNA-Impfungen mit Todesfallmeldungen einhergingen. In den Sicherheitsberichten wurde die Zahl der Meldungen regelmäßig ausgewiesen. Und die Todesfallmeldungen müssen als durchaus belastbar angesehen werden, da sie nicht auf Vermutungen oder kurzen Einzeilern von Angehörigen oder Freunden beruhen. Für jeden Todesfall ist ein differenzierter Bericht über „Verdachtsfälle einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“ zu erstellen. Dieser gibt nicht nur Auskunft über den Impfstoff, die Chargennummer, die Impfanamnese und das Impfdatum, sondern auch darüber, welche Diagnosen im Einzelnen durchgeführt wurden und inwieweit die Ergebnisse den Verdacht erhärten, dass ein Impfschaden vorliegt. Auch die durchgeführten differentialdiagnostischen Untersuchungen sind möglichst genau zu beschreiben, da sie für die Bewertung des kausalen Zusammenhangs von Impfung und beobachtetem Verdacht der Impfkomplikation von größter Wichtigkeit sind. Aufgrund der detaillierten Angaben, die zum Sterbeprozess gemacht werden müssen, werden Todesfallmeldungen in der Regel von Ärzten eingereicht, die mit dem Fall vertraut sind.
Im Jahr 2021 gingen beim PEI insgesamt 2.255 Meldungen ein, bei denen der begründete Verdacht bestand, dass die Impfung den Tod verursacht hat. Weitere 768 Fälle kamen im ersten Halbjahr 2022 hinzu. Seit dem 1. Juli 2022 macht das PEI keine Angaben mehr zur Zahl der Impftoten.
Die Gesamtzahl von 2.255 Todesfallmeldungen im Jahr 2021 muss als extrem hoch eingestuft werden, selbst wenn man bedenkt, dass wesentlich mehr Menschen geimpft worden sind als in den Vorjahren. Tatsächlich war die Zahl der Impfungen etwa viermal so hoch wie in der Vor-Coronazeit. Durchschnittlich sind zwischen 2016 und 2019 etwa 36 Millionen Impfungen durchgeführt worden. Diese hatten im Mittel etwa 25 Todesfallmeldungen pro Jahr zur Folge. Überträgt man diese Meldequote auf die Coronazeit, so wäre im Jahr 2021 mit etwa 100 Todesfallmeldungen zu rechnen gewesen. Tatsächlich gab es jedoch 2.255 Meldungen. Geht man davon aus, dass jeder Impftote dem Gesundheitsamt mit der gleichen Wahrscheinlichkeit gemeldet wird, egal ob in der Corona- oder der Vor-Coronazeit, so ist das Risiko, infolge einer mRNA-Impfung zu sterben, mehr als 20-mal so hoch wie das entsprechende Risiko bei traditionellen Impfstoffen.
Die gemeldete Zahl an Todesfällen dient im Weiteren als Kriterium zur Beurteilung der Sicherheit der mRNA-Impfstoffe. Da bei allen gemeldeten Fällen der begründete Verdacht besteht, dass die Impfung den Tod verursacht hat, werden die Verstorbenen im Weiteren vielfach auch verkürzt als „Impftote“ bezeichnet. Die Klassifizierung erfährt ihre Rechtfertigung aus dem Vorgehen des RKI, das positiv getestete Verstorbene auch stets als „Coronatote“ angesehen hat, unabhängig davon, ob die Coronainfektion den Tod verursacht hat oder nicht. Für die Einordnung genügte ein positiver PCR-Test.
Es besteht kein Zweifel daran, dass nicht jeder gemeldete Impftote tatsächlich an der Impfung gestorben ist. Dafür ist die Frage nach der Todesursache ganz einfach mit viel zu vielen Unwägbarkeiten verbunden. Letztlich würde man die Zahl der Impftoten systematisch überschätzen, wenn das nicht berücksichtigt würde. Auf der anderen Seite muss man bedenken, dass nicht alle Menschen, die infolge der Impfung starben, auch als solche erkannt und dem Gesundheitsamt gemeldet worden sind. Das gilt sowohl für Todesfälle in zeitlicher Nähe zur Impfung als auch für solche, die erst später eintreten. Wer mag nach Monaten oder Jahren beurteilen, ob ein überraschender Todesfall einen Zusammenhang zur Impfung aufweist oder nicht.
Wie sind angesichts dieser Unsicherheit die 2.255 Todesfallmeldungen, die im Jahr 2021 beim PEI eingegangen sind, zu bewerten? Sind sie weit übertrieben, oder bilden sie nur die Spitze des Eisberges? Das PEI als oberste Überwachungsbehörde für die Beurteilung der Sicherheit von Impfstoffen hat darauf eine überraschend klare Antwort. Nur in 85 Fällen, in denen Personen „an bekannten Impfrisiken wie Thrombose-mit-Thrombozytopenie-Syndrome (TTS), Blutungen aufgrund einer Immunthrombozytopenie oder Myokarditis im zeitlich plausiblen Abstand zur Impfung verstorben sind, hat das Paul-Ehrlich-Institut den ursächlichen Zusammenhang mit der Impfung als möglich oder wahrscheinlich bewertet.“ [4] Über die verbleibenden 2.170 gemeldeten Verdachtsfälle hüllt sich das PEI in Schweigen.
Wie mag das Paul-Ehrlich-Institut die impfrelevanten Krankheiten ermittelt haben? Es liegt nahe, dass dafür auf die Ergebnisse der Observed-versus-Expected-Analysen zurückgegriffen wurde. Die Sicherheitsanalysen werden vom PEI regelmäßig durchgeführt, um Aufschluss über die Impfrelevanz gemeldeter Nebenwirkungen zu erhalten. Verglichen wird hierbei die in einem bestimmten Zeitraum gemeldete Zahl an Krankheits- oder Todesfällen mit der allgemein erwarteten Anzahl. Ist die Zahl der Verdachtsmeldungen signifikant höher als der Erwartungswert, so erkennt das PEI darin ein Risikosignal und geht den Ursachen für die hohen Fallzahlen nach.
Vom Grundsatz her sind die Überlegungen schlüssig und korrekt, und auch die Observed-versus-Expected-Analyse ist das richtige Werkzeug, um impfrelevante Krankheiten herauszufiltern. Nur trifft das leider nicht auf die Art und Weise zu, wie die Observed-versus-Expected-Methode angewandt wird. So, wie das PEI vorgeht, ist das Versagen der Methode vorprogrammiert. Es ist vergleichbar mit jemandem, der, um besser sehen zu können, ein Fernglas benutzt, dies aber verkehrt herum hält. Das Fernglas mag noch so gut sein, viel erkennen wird er trotzdem nicht.
Ein konkretes Beispiel mag illustrieren, wie sich die fehlerhafte Anwendung des statistischen Verfahrens auf die Chance, Nebenwirkungen als impfrelevant zu erkennen, auswirkt. Im Jahr 2021 haben sich zwei Drittel der Bevölkerung gegen Corona impfen lassen. Angenommen, die Impfung wäre nicht mit 2.255, sondern mit 100.000 Todesfallmeldungen verbunden gewesen. Wie hätte das PEI darauf reagiert? Es hätte vermutlich eine Observed-versus-Expected-Analyse durchgeführt und als Ergebnis mitgeteilt bekommen: kein Grund zur Sorge, alles im grünen Bereich.
Das Beispiel ist zugegebenermaßen konstruiert, aber das Ergebnis „kein Risikosignal“ spiegelt die Realität wider. Es ist abgeleitet aus Informationen und Daten, die den Sicherheitsberichten des PEI entnommen sind. Wer dies nur schwer akzeptieren kann und mehr über die Observed-versus-Expected-Methode (und warum sie nicht funktioniert) wissen möchte, sei auf einen Offenen Brief verwiesen, den im Juli 2022 zwölf Professoren an das PEI geschickt und in dem sie auf den Missstand aufmerksam gemacht haben. [5]
So, wie das PEI die Observed-versus-Expected-Analyse anwendet, sind Risikosignale allenfalls bei seltenen oder extrem seltenen Krankheiten zu erwarten. Zu diesen zählen beispielsweise die drei oben aufgeführten Krankheitsbilder. Ereignisse, die auch ohne Impfung häufig auftreten, bleiben hingegen stets unter dem Radar, egal mit wie vielen Todesfällen sie einhergehen. Vor diesem Hintergrund kann man nachvollziehen, wie das PEI zu dem Schluss kommt, dass lediglich 3,8 Prozent aller gemeldeten Todesfälle auf die Impfung zurückzuführen sind.
Zu belastbaren Aussagen über die Todesursache von Personen, die in zeitlicher Nähe zur Impfung verstorben sind, kann man eigentlich nur durch die Obduktion Verstorbener kommen. Darauf hat der Bundesverbandes Deutscher Pathologen bereits im März 2021 aufmerksam gemacht und gefordert, dass mehr Obduktionen durchgeführt werden. [6] [7] Dies blieb leider ohne viel Erfolg, wie man heute weiß. Zurückzuführen ist das vor allem auf die ablehnende Haltung des PEI und des RKI.
Umso mehr ist das Engagement von Professor Schirmacher, dem Leiter des Pathologischen Instituts in Heidelberg, und des emeritierten Pathologen Professor Burkhardt zu würdigen. Beide sezierten auf eigene Initiative hin bzw. auf Wunsch von Angehörigen jeweils etwa 40 Menschen, die kurz nach der Impfung verstorben waren. Professor Schirmacher kommt zu dem Schluss, dass 30 bis 40 Prozent der Obduzierten infolge der Impfung starben. Professor Burkhardt stellt einen impfbedingten Zusammenhang bei 80 Prozent der Untersuchten fest. Der große Unterschied in den Prozentsätzen rührt möglicherweise von den unterschiedlichen Kriterien her, nach denen die Obduzierten ausgewählt wurden. [8]
Die Obduktionsergebnisse deuten darauf hin, dass etwa die Hälfte der gemeldeten Todesfälle auf die Impfung zurückzuführen sein dürfte.
Auf der anderen Seite besteht die Gefahr der Unterschätzung der Zahl der Impftoten, weil Impfnebenwirkungen nicht als solche erkannt und gemeldet werden. Wie hoch der Grad der Untererfassung ist, lässt sich schwer sagen, da es kaum fundierte Untersuchungen dazu gibt und veröffentlichte Quoten mit großen Unsicherheiten behaftet sind. Einer amerikanischen Studie zufolge werden bei einem passiven Meldesystem (wie es das PEI praktiziert) weniger als ein Prozent aller Impfnebenwirkungen aufgedeckt. [9] Häufig wird die Untererfassung schwerer Impfnebenwirkungen auf 95 Prozent geschätzt. [8] In einem Artikel, der in der vom PEI herausgegeben Zeitschrift Bulletin zur Arzneimittelsicherheit veröffentlicht wurde, wird eine etwas höhere Aufdeckungsquote genannt. Dort ist zu lesen, dass etwa „fünf bis zehn Prozent der schweren unerwünschten Arzneimittelwirkungen Schätzungen zufolge gemeldet“ werden. [10]
Die mRNA-Impfstoffe gegen Corona sind allerdings kein Impfstoff wie jeder andere. Dadurch, dass sie tief in genetisch gesteuerte Zellprozesse eingreifen, lässt sich bisher allenfalls erahnen, was die Impfung für das Immunsystem und die Gesundheit der geimpften Menschen langfristig bedeutet. Es muss damit gerechnet werden, dass negative Folgen nicht nur in zeitlicher Nähe zur Impfung auftreten, sondern möglicherweise auch noch Monate oder vielleicht sogar Jahre später. Der Nachweis eines Zusammenhangs zur Impfung ist in solchen Fällen kaum zu erbringen. Allenfalls wird man einen solchen aus statistischen Daten ersehen können (Stichwort: Übersterblichkeit).
So steht beispielsweise bei der außergewöhnlich hohen Übersterblichkeit zur Weihnachtszeit 2022, als kaum noch geimpft wurde und Professor Drosten die Pandemie für beendet erklärte, die Frage nach der Ursache nach wie vor ungeklärt im Raum. Und warum ist die Gesamtübersterblichkeit im Jahr 2022 mit fast 85.000 überzählig Verstorbenen so extrem hoch? [11] In keinem Jahr seit Ende des Krieges hat es eine derartige Übersterblichkeit gegeben. Aus der Todesursachenstatistik des Statistischen Bundesamtes erschließt sich der Grund nicht. Und im Jahr 2023, als die Coronapandemie als überwunden gilt, liegt die Übersterblichkeit immer noch bei 30.000 Verstorbenen. Das entspricht der Übersterblichkeit, die das RKI in der Vergangenheit für Jahre mit schweren Grippewellen ausgewiesen hat.
Hinsichtlich der Zahl gemeldeter Impfnebenwirkungen müsste man zudem bedenken, dass sich die Politik massiv in die medizinische Beurteilung der mRNA-Impfungen eingemischt hat, indem sie festlegte, dass die Impfung praktisch nebenwirkungsfrei sei. Diese Aussage des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach beruhte zwar nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, dürfte ihre Wirkung aber trotzdem nicht verfehlt haben. Man muss befürchten, dass aufgrund der politischen Vorgabe deutlich weniger impfbedingte Todesfälle gemeldet worden sind, als es sonst der Fall gewesen wäre.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bei dem praktizierten Meldesystem die Gefahr der Unterschätzung der Zahl der Impftoten wesentlich größer ist als die Gefahr der Überschätzung. Wie stark die Meldezahlen erhöht werden müssten, um einen realitätsnahen Schätzwert für die Zahl der Impftoten zu erhalten, lässt sich nach gegenwärtigem Wissensstand nicht verlässlich sagen. Je nachdem, ob man von einer Aufdeckungsquote von fünf Prozent, zehn Prozent oder 20 Prozent ausgeht, müsste man die Zahl der Verdachtsmeldungen mit dem Faktor 10, 5 oder 2,5 multiplizieren, wenn die Hälfte aller gemeldeten Todesfälle tatsächlich von der Impfung herrühren sollte.
Beurteilung der Sicherheit der mRNA-Impfstoffe
Die Angaben zur Zahl der Impftoten gewinnen an Aussagekraft, wenn man sie nicht isoliert, sondern bezogen auf das Alter der Betroffenen und bezogen auf die Zahl der Coronatoten betrachtet (vgl. Tab. 1).
Man darf das Alter der Menschen allerdings nicht zwingend als unmittelbare oder entscheidende Todesursache ansehen. Denn wie Professor Püschel herausfand, waren fast alle Coronatoten (unabhängig vom Alter) mit mehr oder weniger gravierenden Vorerkrankungen belastet. [12] Möglicherweise sind die Vorerkrankungen wichtiger für den tödlichen Verlauf der Infektion als das Lebensalter selbst. Das sollte man bei der Interpretation der altersbezogenen Sterbezahlen stets bedenken.
Tabelle 1 Coronatote und gemeldete Impftote nach Altersklassen
Jüngere Coronatote (zwischen 20 und 59 Jahre) machen im Jahr 2021 lediglich sieben Prozent aller Coronatoten aus. Ihr Anteil an den gemeldeten Impftoten beträgt hingegen 25 Prozent. Für über 60-Jährige stellt sich die Situation genau andersherum dar. Ihr Anteil an den Coronatoten liegt bei 93 Prozent, während sie nur 75 Prozent der gemeldeten Impftoten ausmachen. [13] Die Nutzen-Risiko-Relation der Impfung ist für Menschen unter 60 Jahre folglich deutlich schlechter als für über 60-Jährige. Erstere sind kaum gefährdet, an einer Coronainfektion zu sterben, gehen aber mit der Impfung ein relativ hohes Risiko ein, infolge der Impfung zu sterben. Wenn man die Zahl der Coronatoten dieser Altersgruppe (4.595 Verstorbene) in Relation zur Zahl der gemeldeten Impftoten (562 Verstorbene) setzt und bedenkt, dass es im Vorjahr, also vor Beginn der Impfung, lediglich 1.459 Coronatote gab, so muss die Impfung der unter 60-jährigen Erwachsenen als durchaus problematisch eingestuft werden.
Eine unverhandelbare Mindestanforderung an jeden Impfstoff ist, dass er mehr Todesfälle verhindert als verursacht. Das klingt banal und sollte eigentlich gar keiner Erwähnung wert sein. Umso größer ist das Erstaunen, wenn man sich die Sterbedaten bei Kindern und Jugendlichen anschaut.
Im Jahr 2021 sind dem RKI insgesamt 34 Todesfälle von Kindern und Jugendlichen mit positivem PCR-Test gemeldet worden. Allein diese Zahl gibt zu denken. Warum sterben im Jahr 2021 so viel mehr Kinder und Jugendliche als im Vorjahr? 2020 stand noch kein Impfstoff zur Verfügung, und trotzdem gab es lediglich sechs Coronatote. Könnte der Anstieg in irgendeiner Weise mit den mRNA-Impfungen zusammenhängen? Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass das RKI nicht generell den Impfstatus der Coronatoten ausweist. Dadurch wird die Möglichkeit, bestehende Zusammenhänge fundiert zu erforschen, erheblich erschwert.
Bedenklich sind die Sterbezahlen für Kinder und Jugendliche aber nicht nur in Relation zu den Daten des Vorjahres. Im Laufe des Jahres 2021 sind 16,6 Prozent aller unter 19-Jährigen geimpft worden. In dieser Zeit gingen acht impfbedingte Todesfallmeldungen beim PEI ein. Wenn alle Kinder und Jugendlichen geimpft worden wären, hätte man folglich mit sechsmal so vielen Todesfallmeldungen rechnen müssen, also mit 48 Impftoten. Das hätte bedeutet, dass die Impfung möglicherweise mehr Todesfälle verursacht als verhindert hätte.
Und das Missverhältnis zwischen der Zahl vermiedener Todesfälle und der Zahl der Impftoten würde sich in dramatischer Weise zuungunsten der Impfung verschlechtern, wenn man noch die Dunkelziffer bei der Zahl der Impftoten berücksichtigen würde.
Allein der Umstand, dass ein solches Szenario nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, ist schockierend. Und man fragt sich, wie es zu einer solchen Situation hat kommen können angesichts der strengen Anforderungen, die heutzutage an die Zulassung von Arzneimitteln gestellt werden, und angesichts der zahlreichen medizinischen Forschungseinrichtungen und des engmaschigen Melde- und Überwachungssystems, das es in Deutschland gibt. Im Nachhinein muss man froh sein, dass 2021 „nur“ jedes sechste Kind geimpft worden ist.
Mittlerweile hat die Ständige Impfkommission eingesehen, dass es ein großer Fehler war, gesunde Kinder und Jugendliche (ab fünf Jahre) zum Impfen zu nötigen. mRNA-Impfungen empfiehlt die Kommission jetzt nur noch für Kinder und Jugendliche, die aufgrund von Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko haben, an einer Covid-19-Infektion schwer zu erkranken oder zu sterben. Das Mindestalter hat sie im Zuge dieser Änderung allerdings von fünf Jahre auf sechs Monate herabgesetzt.
Hier finden Sie den zweiten Teil.
Titelbild: Ground Picture/shutterstock.com
[«1] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages – Regelungen zu genbasierten Impfstoffen. 25. Januar 2021
[«2] Günter Eder – Übersterblichkeit auf Rekordniveau, ein Rückblick auf drei Jahre Corona. NachDenkSeiten vom 5. April 2023
[«3] Günter Eder – Gedanken eines Statistikers zur Übersterblichkeit während der Coronapandemie. NachDenkSeiten vom 3. September 2022
[«4] Paul-Ehrlich-Institut – Sicherheitsbericht: Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Impfkomplikationen nach Impfung zum Schutz vor Covid-19 seit Beginn der Impfkampagne. Stand: 7. Februar 2022, Langen
[«5] Jessica Agarwal et al. – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht beruht auf groben methodischen Fehlern des Paul-Ehrlich-Instituts. Offener Brief vom 6. Juli 2022
[«6] Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages – Obduktionen nach impfbezogenen Todesfällen. 12. Dezember 2022
[«7] Carina Rehberg – Corona-Impfung: Pathologe vermutet Dunkelziffer bei Impftoten. Zentrum der Gesundheit, 24. Juli 2022
[«8] Thomas Maul – Was die Pathologie über Impftote verrät. 8. Dezember 2022
[«9] Lazarus Ross – Electronic Support for Public Health-Vaccine Adverse Event Reporting System. Grant ID: R18 HS 017045, AHRQ Rockville 2011
[«10] Sachs, B. et al. – Forschung im Bereich der unerwünschten Arzneimittelwirkungen. In: Bulletin zur Arzneimittelsicherheit. Ausgabe 1, März 2017
[«11] Günter Eder – Auswirkungen der Coronaimpfung: Daten, Fakten und Schlussfolgerungen. NachDenkSeiten vom 4. September 2023
[«12] Obduktionen in Hamburg – Fast alle Corona-Toten waren vorerkrankt. NTV vom 30. Februar 2021
[«13] Europaen Medicines Agency – Online-Zugriff auf Verdachtsfallmeldungen über Arzneimittelnebenwirkungen
Wenn von der einstigen DDR die Rede ist, und gerade ist dank des bemerkenswerten Jubiläums 35. Jahrestag des Mauerfalls wieder des Öfteren die Rede von diesem verschwundenen Land, dann vermisse ich mitunter Erzählungen, die eine bestimmte Phase dieser historischen Tage, Wochen und Monate 1989/1990 zum Inhalt haben. Es war die Phase eines einzigartigen gesellschaftlichen Frühlings, der den östlichen Teil unseres seit 1990 vereinten Landes durch viele ihrer Bürger einnahm, die die bleierne Zeit der Stagnation, der Abschottung, der Isolation und der Sturheit und Arroganz der politischen Elite überwinden wollten. Das vielfältige Engagement der Menschen, die im Herbst 1989 lautstark mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ auftraten, hatte viele wichtige und beeindruckende Daten. Ein Datum davon war der 4. November, an dem in Berlin die größte Demonstration der jüngeren deutschen Geschichte stattfand. Tage später sollten sich die Grenzen öffnen. Ein Beitrag von Frank Blenz.
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Der 4. November – der Tag einer grandiosen Demonstration
Der 4. November 1989 war ein Samstag. Ich erinnere mich daran so genau, weil ich damals als Soldat meinen Grundwehrdienst bei der Armee ableistete, und der Samstag bis 12 Uhr immer der Tag der großen Stuben- und Revierreinigung der Kompanien war. Das Saubermachen geriet aber zur Nebensache, weil im Fernsehraum, ein einigermaßen großes Zimmer, in dem etwa 30 Stühle standen, das Fernsehgerät lief und zu unserer Überraschung eine Originalübertragung (heute sagt man Live-Schalte) aus Berlin über den Sender DDR 1 lief: Was wir sahen, war die bisher größte Demonstration des Landes.
Kein Stuhl blieb unbesetzt, Saubermachen hin, Revierreinigen her, weitere Kameraden und selbst vorgesetzte Unteroffiziere und der Spieß standen an die Wände gelehnt oder im Türpfosten, um mindestens den vielen erstaunlichen Reden zu lauschen. Der Tonfall, die Formulierungen, die Ansagen der Menschen auf dem Podium erzeugten immer wieder Raunen, Beifall, zustimmende Kommentare. Genau so ist es. Ja, so und nicht anders. Weg mit den Bonzen. Noch heute bin ich beeindruckt davon, wie wir einfachen Soldaten, meine Kameraden um mich herum, so viel Sitzfleisch, Stehvermögen und Aufmerksamkeit aufbrachten, die stundenlange TV-Übertragung zu verfolgen. Es muss wohl an der besonderen Atmosphäre dieser Demo gelegen haben. Das Gefühl, hier passiert etwas, auf das noch was nachkommen wird, erwies sich alsbald als richtig.
Zur schlichten Information über diese riesige Demonstration in Berlin findet sich auf der Seite der Bundesregierung Folgendes:
4. November 1989 – Auf dem Weg zur Deutschen Einheit
500.000 auf dem Berliner Alexanderplatz
4. November 1989: Auf dem Ostberliner Alexanderplatz versammeln sich 500.000 Menschen zur größten systemkritischen Demonstration in der DDR-Geschichte. Die SED versucht zwar, ihre Macht zu verteidigen, doch ohne Erfolg.
Quelle: Bundesregierung
In Berlin die große Demo, in der Kaserne die kleine noch vor dem 4. November
Die Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz stand unter dem Motto, sich für die Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR einzusetzen, also für das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Nebenbei gesagt, nahmen sich die Menschen im Land schon seit dem Sommer 1989 zunehmend diese Rechte heraus, zunächst ver- oder mindestens behindert von der „Staatsmacht“, also von Funktionären, vom braven Büro-Gefolge der staatlichen und politischen „Organe“, dann aber mehr und mehr geduldet und/oder sogar gefördert. Und schließlich fanden ab dem 7. Oktober, dem Tag der Republik, mehr und mehr Demonstrationen, Protestkundgebungen und Märsche im ganzen Land statt. Das war wie der Beginn einer eigenen Jahreszeit, in der ein frischer, wohltuender Wind aufzog.
Wir Soldaten hatten am 4. November jedenfalls anderes zu tun, als den langen Flur der Kompanie-Baracke zu bohnern, die Mannschaftsräume sauberer als sauber zu wienern und uns vielleicht noch von einem Vorgesetzten anraunzen zu lassen, indem er aus Lust und Laune rumschrie: Was ist das für ein Saustall? Und tatsächlich, die Chefs sagten schon länger keinen Ton, sie lauschten vielmehr mit.
Ich fand die Rede von Schauspieler Ulrich Mühe wundervoll, der aus einem Buch von Janka vorlas. Als die Schauspielerin Spira ans Mikrofon trat und sicher vollends beeindruckt war vom Anblick der atemberaubenden Menschenmenge vor sich, dachte ich kurz, ob sie ihre Sätze herausbekommen wird? Sie brachte es. Die alte Dame sprach mit fester, beinahe schon schneidiger Stimme, als würde sie einen Brecht-Monolog aufsagen: „Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde, und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen.“ Bei Fahnenappell, Staatsbürgerkunde, Fackeln und hohen Leuten jubelten meine Kompanie und ich. Und sogar der wenig beliebte Spieß klatschte Beifall.
In Berlin erlebten mindestens 500.000 Menschen vor Ort ein einzigartiges Zusammentreffen, bei dem nicht nur die Reden einmalig waren, auch der Part der Teilnehmer war einmalig: zahlreiche Plakate, Transparente, auf Pappen geschriebene Losungen, die voller Direktheit und auch humorvoll waren, sahen wir in unserer Kaserne auf dem Bildschirm. Die Kameraleute schwenkten ihre Apparate nicht vorbei, sie hielten drauf: „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“. Das Plakat war ein lautes Lachen wert.
„Ach, der Egon Krenz, das ist doch nur ein Wendehals.“ So lautete die durchgängige Meinung in der Truppe. Der war als Kronprinz dem vorherigen Chef Erich Honecker lediglich gefolgt und tat mit einem Mal so, als führte er die Demokratie ein. In meiner Kaserne schüttelten selbst die höheren Militärs den Kopf. Mein Spieß, also der Innendienstchef der Kompanie, war noch bis Mitte Oktober 1989 ein ganz strammer Verfechter, ein Schleifer, ein Machtmissbraucher, der Soldaten schikanierte, über Urlaubsscheine herrschte und missliebige Gefreite schon mal zur doppelten Wache vergatterte. Dieser Hardliner, pardon für die englische Ausdrucksweise, war schließlich der Erste im ganzen Regiment, der mit Beginn der Wende in seinem Dienstzimmer aufräumte: Alles, was an SED erinnerte, kam weg. Das große Foto von Honecker landete im Müll.
Auch der Tonfall und der Umgang innerhalb der Kompanie, unter den Soldaten, im Dialog mit den Vorgesetzten änderte sich im Herbst. Statt eher preußisch fühlte sich Soldat-Sein jetzt zunehmend wie „mündige Bürger in Uniform“ an. Das geschah nicht in Selbstläuferschaft. Wir gründeten für das Regiment einen Soldatenrat, eine echte Stimme gegen die Befehlskettenlogik. Es gelang binnen weniger Wochen, den Alltag der Wehrpflichtigen zu erleichtern, die Dienstzeiten zu ändern, die Urlaubspraxis, den Ausgang in Zivilkleidung. Und mit „Genosse“ wurden wir nicht mehr angesprochen, es hieß nun „Herr Soldat“.
Ich war als Jungsoldat in dieser intensiven Zeit auch schreibend tätig, als Wandzeitungsredakteur meiner Kompanie verfasste ich seit Frühjahr 1989 zwei Mal wöchentlich vielfältige Ausgaben, die an ein großes Brett im Flur gepinnt wurden. Zunächst formulierte ich meine Worte vorsichtig oder so, dass meine Kameraden aufgefordert waren, zwischen den Zeilen zu lesen. Doch schon in dieser Phase kamen neben Themen wie Musiktipps, Veranstaltungshinweisen, Soldaten-Anekdoten und Verlautbarungen der Regimentsführung auch solche wie das Verbot von Sputnik, Gorbatschows Perestroika und die aufkommende Fluchtwelle im Sommer zur Sprache. Gegen den Widerstand des Spießes und des Kompaniechefs, gefordert und unterstützt von den Kameraden. Ich wusste behutsam und argumentativ zu formulieren. Ich nahm dazu die Vorgesetzten ins Boot, ich zitierte sie selbst, was sie zum Beispiel vor der Truppe oder im Polit-Unterricht gesagt hatten. Keiner konnte mir unterstellen, ich sei kein guter Staatsbürger. Im Gegenteil. Offenheit lautete die Devise.
Die Lage im Land wurde nicht besser. Jeder Soldat um mich herum und ich, alle kamen sie aus verschiedenen Regionen der DDR, berichteten von Freunden, Bekannten, gar von Verwandten, die das Land verlassen hatten oder es vorhatten. Doch in Berlin bei Erich und bei Egon und Co. war man weiter fest und stur der Ansicht, keinen Tapetenwechsel vornehmen zu müssen, so wie es der Gorbi von ihnen forderte, so wie es die Menschen im Land, so wie wir Soldaten es wollten. Doch der Widerstand wuchs. Und nach den heftigen Demos, auch denen in meiner Heimatstadt, wichen die Bonzen Schritt für Schritt, wenn auch zäh und uneinsichtig.
Wie sich Dinge wenden können. Eine Wandzeitung von mir Mitte Oktober wurde zunächst vom Spieß verboten. Später erschien sogar der Chef des Militärbezirks, ein Generalmajor, auf unserem Flur. Und der befand meine überaus kritische Wandzeitung vollkommen in Ordnung und richtig. Siehe da – auf einmal fanden auch meine anderen Vorgesetzten diese gut. Ich habe noch die vielsagenden Worte meines Spießes im Ohr: „Frank, es ist ein Wunder, erst wollten wir deine Wandzeitung einstampfen, und wenig später ist sie die beste im ganzen Bezirk.“
Der besondere Kurzurlaub und eine zuversichtliche Rückkehr in die Kaserne am 9. November
Das Wochenende um den 4. November verstrich und ich konnte einen Kurzurlaub antreten. In Zivilkleidung fuhr ich erstmals nach Hause und hatte ein gutes Gefühl. In der DDR wurde der Grundwehrdienst in der NVA „Ehrendienst“ genannt. Oft hatte ich das gegenüber Vorgesetzten kritisiert, weil die offensichtlich systematische Unterdrückung von Soldaten, Gefreiten, Unteroffizieren das Wort Ehre ausschloss. Die in Gang gekommene Wende sorgte mehr und mehr dafür, dass diese Ungerechtigkeiten und Anmaßungen aufhörten.
Viel zu schnell verging der Kurzurlaub, in dem ich – wie alle Mitbürger – eine spektakuläre Geschichte erlebten. Wieder lief der Fernseher. Diesmal zu Hause, kurz bevor ich zum Bahnhof musste. Diesmal wurde eine Pressekonferenz übertragen. Günter Schabowski, Sprecher des Politbüros der regierenden SED, sprach über Reiseerleichterungen für uns DDR-Bürger. Und dann sagte er diese magischen Worte und den Zusatz, dass das mit der Reisefreiheit sofort und unverzüglich gelte. Ich schnappte meine Tasche und ging zum Zug. In die Kaserne. Am 10. November gegen 3 Uhr kam ich an meinem Dienstort an. Am Kasernentor empfing mich ein Kamerad, der mir zurief: „Was willst Du hier, während die Grenze offen ist?“ Ich weiß noch, dass wir uns dann noch länger unterhalten haben. Gemeinsamer Tenor: Keine Angst, das wird nicht zurückgedreht. Jetzt beginnt vielleicht eine bessere Zeit.
Titelbild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-437 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA 3.0
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