Ein Standpunkt von Anselm Lenz.
Der Nebel liegt schwer in weiten Tälern. Unser Weg endet nur vorläufig am Ende einer Nacht.
Wir machen Rast am Gipfelkreuz und blicken vom Kandel. Der Gevatter hat uns schon verlassen, die letzte Etappe hat er nicht mehr geschafft. Er blieb noch am alten Gasthaus zurück und rief uns nach: »Gehet ihr nur weiter, ihr Jungen, den Weg vollenden bis zum umfassenden Sieg. Um mich sorget euch nicht mehr. Gürtet nur ihr den Schuh!«
Uns so gingen wir bis hierhin, auf den höchsten Punkt und diese Ellen weiter. Und mein Weggefährte entfaltet das Butterbrot. Ein Apfel, ein Ei. Dazu ein Schluck der Milch wohl von badischer Kuh.
Still liegt unser Land, fast so, als wäre nichts gewesen. Doch die Beine so schwer. Es ist unser Deutschland, das Land, das deutsche, das uns gehört. Unsere Heimat, die uns nährt und die wir lieben und nicht verachten.
Aus letzter schwarzer Nacht weht uns ein Eishauch an die Knöchel. Was sind wir weit gelaufen und sie kommt, ungefragt doch zuverlässig, fast ungnädig und unaufhaltsam, von Osten her. Sie legt ihr rotes Band auf den Horizont, um ihn zu befreien. Ihr Sieg wird nicht ewig währen, nur einen einzigen Tag, aber sie wird unaufhaltsam sein.
Dass die Sonne, schön wie nie… die Quälgeister vertreiben und die Gerüche der Nacht aus dem Unterholz, aus den Niederungen, mitnehmen wird näher zu sich hinauf, sodass sie nur noch die Lüfte würzen und zarte Flügel der Schmetterlinge tragen.
Der erste Sonnenstrahl feiert das eben noch nächtliche Firmament: Golden. Ein weiterer Tag beginnt, an dem wir nicht von unsichtbaren Gefahren dahingerafft werden, keine Gespenster in unseren Wäldern sehen, in denen wir uns mittlerweile so sicher bewegen wie Förster oder freundliche Jägersleute oder Waldjungen aus weit vergangener Zeit.
Wir hatten uns einen Überblick verschafft und waren hinabgestiegen vom vergangenen Gipfel, gingen in die Wälder und versammelten uns zum überwältigenden Tross der Wahrhaftigen und Gutherzigen, die dort seit langer Zeit überlebt haben und heute fast schon vernichtete Weisheiten hegen. Es ist ein rührendes Werk voller geheimer Stärke, dass sie vollbringen, mit innerer Größe, die die Jahrhunderte himmelweit überragt.
Der Tross zieht und es ist nur einer von Tausenden. Auf unserer Reise durch Klammen und auf Auen, in Wildbächen und über Flöze nicht die Tiere, die schmalen Grate, die Strömungen, die Unwetter, knietiefer Moraste oder giftige Pilze. Heute wissen wir, dass die einzige Gefahr für uns Menschen Menschen waren, jene, die wir auf den Bildschirmen in den Städten gesehen hatten. Eine von uns nennt sie »Echsen«, so kaltblütig, fast ganz leer und starr sind sie. »Und dafür, dass sie sie Echsen nennt, wurde sie Hexe genannt und zu uns verjagt. Wir sind das Volk!«, deklamiert ein IT-Experte im Tross unserer Bewegung.
In diesem Tross trafen wir auch den Derwisch. Er ist wohl ein Edler, ein hoher Ritter, der seine Rüstung behende trägt, so ward er uns vorgestellt. Er trägt zwei Narben mit Würde. Der Derwisch macht uns mit seiner Reiterei und den Bogenschützen bekannt. Sie alle haben ein besonderes Wissen voller Logik und Sanftmut, so viel rationaler und zugleich herzlicher als die Gesichter der Bildschirme und das Geflüster der Hofnarren.
Auch der Alte war unter ihnen im Tross und er grummelte seine weisen Worte am Kesselchen. Er sprach immer solide, berechenbar, vorhersehbar. Aber seine große Zukunft lag bereits in der Vergangenheit. Er hatte zulange auf seine Beförderung warten müssen und war schon länger nicht mehr zufrieden. Keiner weiß, warum. Doch das Kräuterweib kümmert sich um ihn und bringt ihm frische Kleidung.
Wir können auch die Trompete blasen
Und schmettern weithin durch das Land;
Doch schreiten wir lieber in Maientagen,
Wenn die Primeln blühn und die Drosseln schlagen,
Still sinnend an des Baches Rand.