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Die Last der Erstgeborenen - Von Anfang an besonders?


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Erstgeborene Kinder haben naturgemäß eine Sonderstellung in der Familie. Ihnen gehört die volle Aufmerksamkeit der Eltern - bis ein Geschwister kommt. Oft werden Erstgeborenen deswegen spezifische Charaktereigenschaften unterstellt, zum Beispiel Verantwortungsbewußtsein, Ernst und Autorität. Aber ist da wirklich etwas dran? Und wie kann man umgehen mit den gemischten Gefühlen von Erstgeborenen, wenn sie Geschwister bekommen? (BR2025)

Credits
Autor/in dieser Folge: Valerie von Kittlitz
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Franziska Ball, Christian Baumann, Rainer Schaller
Redaktion: Susanne Poelchau


Im Interview:

  • Inés Brock-Harder, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
  • Wolfgang Schmidbauer, Psychoanalytiker
  • O-Töne Anna/ Johanna 


  • Literatur (Beispiele):

    -       Wolfgang Schmidbauer: „Die Erstgeborenen. Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern”, Verlag Bonifatius 2024

    -       Inés Brock-Harder: “Geschwister verstehen,“ Ernst Reinhardt Verlag 2020

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    Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

    Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

    SPRECHERIN

    Vor einer Weile ist Anna zum zweiten Mal Mutter geworden. Ihre Tochter hat nun ein Geschwisterchen, und ist damit zur Erstgeborenen geworden. Eine Erfahrung, die Anna kennt. 

    O-Ton 1_ Anna

    Also ich bin ja auch Erstgeborene, Stefan ist auch Erstgeborener, und wir unterhalten uns häufig über unsere Rollen als Erstgeborene. Wir haben das Gefühl, dass wir sehr viel mehr Verantwortung übernehmen, für uns, für andere, sehr viel mehr planen und vorrausschauen als unsere wirklich kleineren Geschwister, also die Letztgeborenen. 

    SPRECHERIN:

    Anna nimmt sich selbst als verantwortungsbewusst wahr und gut organisiert. Charakteristika, die Erstgeborenen häufig zugesprochen werden.

    STIMMEN AUS DEM OFF

    Fürsorglich – gute Führungskräfte – gewissenhaft – fleißig – zielstrebig – gesetzestreu – Tendenz konservativ…

    SPRECHERIN:

    Zahlreiche Artikel beschäftigen sich mit der Rolle Erstgeborener in der Geschwisterreihe - Denn schließlich gibt es gewisse unvermeidbare Muster, die zum Status der Erstgeborenen dazu gehören.

    SPRECHER:

    Zum Beispiel, dass Erstgeborene Einzelkinder sind – bis sie ein Geschwister bekommen. Sie genießen anfänglich die volle Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Spielen, Vorlesen – all das passiert, ohne Mutter und Vater mit einem Geschwister teilen zu müssen. In der Regel sind Erwachsene ihre ersten Bezugspersonen, vor allem, wenn sie im klassischen Vater-Mutter-Kind Dreieck aufwachsen, vielleicht noch mit Großeltern in der Nähe. Regelmäßiges Spiel mit anderen Kindern erleben viele oft erst mit dem Eintritt in Krippe oder Kita. 

    SPRECHERIN:

    Und für die Eltern von Erstgeborenen? Auch hier gibt es ein typisches Muster. Mit großer Fürsorge wird sich auf die Geburt vorbereitet. Nach bestem Wissen versuchen die Eltern, das Neugeborene zu lesen. Eine existentielle Situation. Ein kleines Wesen, das voll auf einen angewiesen ist. Schlaflose Nächte und Müdigkeit sind vorprogrammiert, Glückshormone und Stress wechseln sich ab. Alles erlebt man zum ersten Mal. Viele junge Eltern kennen die Sorge, alles richtig machen zu wollen. Mit dem zweiten Kind ist mehr Erfahrung da – und damit auch mehr Gelassenheit. 

    O-Ton 2_ Anna

    Da bin ich schon ein bisschen lockerer geworden mit allem. Nicht der Fürsorge, die ist genauso groß, aber mit den Ängsten würde ich vielleicht sagen, bin ich entspannter.

    MUSIK m02 (1:44 Min, C1547170128, Cello China flow Bachmeier, Christof)

    SPRECHER:

    Kulturhistorisch betrachtet genießen Erstgeborene in jedem Fall seit langem eine Sonderrolle. Vor allem erstgeborene Söhne. Sie wurden in Religion, Kultur und Politik lange bevorzugt, und werden es zum Teil bis heute. Lange fiel dem ältesten Sohn einer Dynastie alleinig das gesamte Erbe zu – nach der sogenannten Primogenitur. Ein Recht, das man in China schon im ersten Jahrtausend vor Christus kannte. Der älteste Sohn war der Stammhalter, der Garant für das Bestehen einer Familienlinie. Die Primogenitur sicherte ihm die ungeteilte Macht über Besitz und Untertanen. Zweitgeborene hatten das Nachsehen. Bis heute heißt der Thronfolger in Großbritannien heir, also Erbe, während der Zweitgeborene spare genannt wird – locker übersetzt: Ersatzteil.

    SPRECHERIN:

    Der Sonderstatus von Erstgeborenen. Auch ohne feudale Strukturen gilt bis heute, dass erste Kinder im Grunde genommen für einen ganz großen Gedanken stehen: Für das Überleben der Menschheit. Ohne Kinder keine Nachfolge, kein Fortbestehen. Erstgeborene symbolisieren das Leben an sich mit seinen Zyklen von Tod und Geburt. Das klingt vielleicht ein bisschen pathetisch. Und dennoch ist die Ankunft eines ersten Kindes ein Ereignis, das auch heute gefeiert und mit Geschenken gewürdigt wird. Weil diese Geburt den Beginn neuen Lebens markiert. Und einen neuen Abschnitt.

    [Ende Einleitung. Optional für die Regie: Atmo_Spielplatz]

    O-Ton 3_ Inés Brock- Harder

    Das besondere an Erstgeborenen ist ja, dass sie ihre Eltern zu Eltern machen. Sie leiten den ganz wichtigen Identitätswechsel von der Frau zur Mutter, vom Mann zum Vater ein, und natürlich vom Paar zur Elternschaft.

    SPRECHER: 

    Die Psychotherapeutin und Hochschullehrerin Dr. Inés Brock-Harder sagt, dass das erste Kind für Eltern einen enormen Lernprozess in Gang setzt. Eine Erfahrung, die sie nachhaltig prägt. Mit dem zweiten Kind geht der Lernprozess dann weiter. Dass sich Eltern dabei darum bemühen, kein Kind zu bevorzugen, ist für die Erstgeborenen wichtig, sagt die Psychotherapeutin.

    O-Ton 4_ Inés Brock- Harder

    Wenn es eine gewisse Art von Zurückstellung in der Geschwisterreihe gibt, dann führt das zu Konflikten. Erstens richten die sich oft gegen die jüngeren Geschwister im Sinne von nicht nur normaler Rivalität, sondern auch Aggressionen, Ausgrenzung, und auch bis zu Misshandlungen, weil eben die Kinder dann ihre Aggressionen nicht gegen die allmächtigen großen Eltern richten, sondern gegen die möglicherweise bevorzugten jüngeren Geschwister, und in solchen Fällen haben wir es dann tatsächlich mit so einem Kampfmodus, einem psychischen inneren Kampfmodus zu tun, seinen Platz in der Familie zurückzuerobern.

    MUSIK m03 (5:54, Late Anthropocene, Brian Eno)

    SPRECHERIN:

    Wenn ein Geschwister geboren wird, kann das zum Balanceakt für die ganze Familie werden. Aus einem Dreieck wird ein Viereck – oder sogar: Vieleck. Das Gleichgewicht muss immer wieder neu gefunden werden. Und wenn das nicht gelingt? Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer hat darüber ein sehr persönliches Buch geschrieben: “Die Erstgeborenen. Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern.“ Auslöser war der Tod seines älteren Bruders. Ernst und Wolfgang Schmidbauer wurden in relativ dichter Abfolge nacheinander geboren. Der Altersunterschied spielt bei der Ankunft eines Geschwisters eine wichtige Rolle, betont der Psychoanalytiker. Je größer der Abstand, desto eher besitzt das Erstgeborene die Fähigkeit, seine Gefühle einzuordnen oder zu artikulieren. 

    O-Ton 5_ Schmidbauer

    Je geringer der Abstand, desto stressiger ist die ganze Situation, und wenn das wie bei mir und meinem Bruder zwei Jahre Abstand ist, dann ist natürlich eine sehr ausgeprägte Konkurrenz da, und eine Asymmetrie, die grad für den Erstgeborenen sehr schwer zu verarbeiten ist.

    SPRECHERIN: 

    Zwei Brüder. Zu Lebzeiten waren sich Wolfgang Schmidbauer und sein Bruder Ernst eher fremd. Ganz unterschiedlich war ihr Charakter. Nach Ernst’ Tod begann der Psychoanalytiker, sich in seinen älteren Bruder hineinzuversetzen. Beim Aufräumen in seinem Haus fand er ein Fotoalbum. Ein Bild zeigte einen blondgelockten, niedlichen Jungen. Wolfgang Schmidbauer meinte zuerst, sich selbst zu erkennen. Denn er hatte ein ähnliches Album daheim, das mit seiner eigenen Geburt begann. Auf den Fotos darin war er blondgelockt und niedlich, während der große Bruder kurze Haare hatte und ernst dreinblickte. Erstaunt stellte Wolfgang Schmidbauer dann fest, dass das Kind in dem anderen Album der Bruder war – eben vor seiner Ankunft. Auch Ernst war einmal fröhlich, blondgelockt und niedlich gewesen. Schmidbauer begann nachzudenken. Was hatte seine eigene Geburt mit Ernst gemacht? War er in unfreiwillig in eine Rolle gedrängt worden? Der Psychoanalytiker begann, seinen älteren Bruder mit Patientinnen und Patienten zu vergleichen, die ebenfalls Erstgeborene waren. Und erkannte ein Muster: Viele hatten die Ankunft des Geschwisters als herben Schlag und große Aufgabe erlebt. 

    O-Ton 6_ Schmidbauer

    Ich glaube es ist wirklich eine herausgehobene, aber auch eine besonders schwierige Rolle. Das Erstgeborene, das ist ja für die Familie ein Triumph. Und natürlich ist seine Majestät, das Baby, ist erstmal sehr verehrt, und es ist dann schon etwas Singuläres, dass auf einmal das zweite Baby auf dem Thron sitzt… (Stimme bleibt oben)

    SPRECHERIN: 

    … und das Erstgeborene Kind entthront. Dieses Bild von Thron und Entthronung, das Schmidbauer hier aufgreift, geht auf den österreichischen Arzt und Psychotherapeuten Alfred Adler zurück. Adler war ein Schüler Sigmund Freuds. Er gilt als Gründer der sogenannten Individualpsychologie und entwickelte vor über hundert Jahren die Theorie vom “Trauma der Entthronung“. Dabei entwarf er eine Typologie von jüngsten, mittleren und ältesten Kindern, und schrieb ihnen jeweils bestimmte Eigenschaften zu. 

    Zitator ADLER: 

     Ich habe fast regelmäßig erfahren, dass der Erstgeborene in seiner Haltung ein konservatives Element aufweist. Er rechnet mit der Stärke, paktiert mit der Macht, und zeigt eine gewisse Verträglichkeit. 

    SPRECHERIN: 

    Erstgeborene fühlen sich nach Adler durch die Geburt des Geschwisterkindes entmachtet und sehnen sich nach der ungeteilten Aufmerksamkeit, die die Mutter ihnen anfangs schenken konnte. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer führt den Gedanken weiter: Die Folge der Entthronung sei ein großer Zorn auf die Mutter. Zunächst sei der Erstgeborene unbewusst ärgerlich auf sie, weil sie ihm ein Geschwister vor die Nase gesetzt hat. 

    O-Ton 7_ Schmidbauer

    Gleichzeitig ist er natürlich auch auf die Mutterliebe angewiesen, und deshalb muss er halt diesen Ärger unterdrücken und wehrt ihn dann eben dadurch ab, dass er oder auch sie dann eigentlich zu Gehilfen der Mutter 

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