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Von der Herstatt Bank über Philipp Holzmann bis hin zu Schlecker - große Pleiten haben die deutsche Wirtschaft immer wieder erschüttert. Dabei ging es nicht nur um wirtschaftliches Scheitern, sondern oft auch um politische Machtspiele, finanzielle Interessen und juristische Streitfragen. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Carsten Fabian
Technik: Andreas Caramelle
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Jasper Kunstreich, Historiker, Max-Planck-Institut für Rechtgeschichte und Rechtstheorie
Christoph G. Paulus, Insolvenzrechtler, emeritierter Professor der Humboldt-Universität Berlin
Peter Kranzusch, Sozialwirt, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn
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Mütter und Väter erzählen ungefiltert von ihrem Leben als Eltern. Vom irrsinnigen Glück. Vom ganz normalen Wahnsinn. Und von ihren dunklen Momenten. Es ist und bleibt ein Abenteuer.
ZUM PODCAST
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Spannende Berichte über aktuelle Forschung und Kontroversen aus allen relevanten Bereichen wie Medizin, Klima, Astronomie, Technik und Gesellschaft gibt es bei IQ - Wissenschaft und Forschung:
BAYERN 2 | IQ - WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG
Christoph G. Paulus, „Große Pleiten und die Wege des Insolvenzrechts“ – spannend und informativ geschrieben, stellt die wichtigsten Grundsätze des Insolvenzrechts dar.
Jasper Kunstreich, „Bankruptcy as Standortpolitik“ in: Dealing with Economic Failure in Historical Perspective“ – wissenschaftliches Paper, das den Umgang mit Pleiten im 19. Jahrhundert untersucht.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER
In früheren Zeiten war der Umgang mit Schuldnern mitunter recht martialisch. Wenn sich jemand Geld geliehen hatte und das Geld nicht zurückzahlen konnte, machte man mit ihm sogenannten „kurzen Prozess“. Im Römischen Reich regelte das Zwölftafelgesetz die Details:
ZITATOR
Wenn der Schuldner nicht bezahlt, darf der Gläubiger ihn fesseln und festhalten.
SPRECHER
Warum das nötig war, erschließt sich aus dem weiteren Prozedere:
ZITATOR
Nach 60 Tagen kann der Schuldner öffentlich ausgestellt werden. Wenn sich niemand bereit erklärt, die Schuld zu zahlen, kann er getötet oder jenseits des Tibers verkauft werden.
SPRECHER
Also Tod oder Versklavung – und wehe dem, der mehrere Gläubiger geprellt hatte.
ZITATOR
Wenn es mehrere Gläubiger gibt, sollen sie den Schuldner unter sich aufteilen.
SPRECHER
Und das war durchaus wörtlich gemeint: „in partis secanto“ stand im Zwölftafelgesetz – bedeutet übersetzt: sie sollen sie in Teile schneiden.
01 O-TON (Paulus)
Der eine schneidet den Finger ab, der andere schneidet den Arm ab, der dritte schneidet die Knie heraus. Die Gläubiger hatten also gegenüber dem Schuldner, der seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, ein ziemlich mächtiges Druckmittel an der Hand.
SPRECHER
Sagt der Insolvenzrechtler Christoph G. Paulus. Er ist emeritierter Professor der Humboldt-Universität Berlin und Autor des Buches „Große Pleiten und die Wege des Insolvenzrechts“.
Musik 3
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'47
SPRECHER
Die drakonischen Strafen im antiken Rom zeigen: So eine Pleite ist keine Kleinigkeit, oft sogar ein Drama. Kein Wunder – es geht um Existenzen, die auf dem Spiel stehen, um Verträge, die gebrochen werden, um viel Geld – und manchmal auch um kreative Buchführung, sprich: Betrug. Alles in allem eine komplexe Gemengelage. Wobei heute bei einer Firmenpleite nicht mehr kurzer Prozess gemacht wird, sondern der lange: Zwei bis sechs Jahre dauern Insolvenzverfahren – mit Ausnahmen, die sich jahrzehntelang hinziehen. Es dauert eben, bis im Detail aufgedröselt ist, wer was bekommt.
Musik 4
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'40
SPRECHER
Aber der Reihe nach. Im Prinzip geht es darum: Ein Unternehmen geht – salopp gesprochen – Pleite, ist also insolvent, was nichts anderes als zahlungsunfähig bedeutet. Früher sagte man auch Konkurs dazu, das ist heute aber nicht mehr so üblich. Die Gründe für so eine Pleite sind vielfältig: Missmanagement, Konjunktureinbruch oder nachlassendes Interesse am Angebot. Aber generell kann man sagen: Je mehr geliehenes Geld in einer Firma steckt, desto größer das Risiko.
02 O-TON (Kranzusch)
Die Insolvenzgefährdung steigt im Allgemeinen, wenn ein Unternehmen hohe Investitionen tätigen muss oder wenn sie Projekte vorfinanzieren müssen.
SPRECHER
Sagt der Sozialwirt Peter Kranzusch. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn.
03 O-TON (Kranzusch)
Typisch ist das in Branchen wie der Baubranche oder auch im Verkehrssektor. Aber es gibt auch Branchen mit einem hohen Verdrängungswettbewerb – also wo es viele Gründungen gibt, da gibt es auch viele Austritte – und da beobachten wir dann auch Insolvenzen, wenn sich die Investitionen noch nicht amortisiert haben. Also das ist zum Beispiel häufig der Fall im Handel, bei Gaststätten, bei Diskotheken, bei Fitnessstudios.
SPRECHER
Mit Blick auf die gesamte Wirtschaft sind Insolvenzen aber eher selten. (2024 waren es bundesweit 22.000 Unternehmen, die Insolvenz angemeldet haben. Die allermeisten davon waren Kleinstunternehmen mit wenigen Beschäftigten.)
04 O-TON (Kranzusch)
Nur jede zehnte Schließung eines Unternehmens erfolgt im Wege eines Insolvenzantrags. Also die Masse der Unternehmen, die liquidiert werden, wo die Selbständigen ihre Tätigkeit einstellen, passiert ohne Insolvenz.
SPRECHER
Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Steuerberaterin die Kanzlei oder ein Tischler den Betrieb dichtmachen, sei es aus Altersgründen oder weil sich die Firma nicht mehr rechnet. Das ist, wenn man so will, der Normalfall. Insolvenzen sind eher die Ausnahme.
MUSIK 5
"Rania (2)" - Album: Überleben - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'50
SPRECHER
In die Schlagzeilen geraten Insolvenzen, wenn es sich um große Unternehmen handelt: Das Bauunternehmen Philipp Holzmann etwa, die Drogeriekette Schlecker, Lehman Brothers, Galeria oder der Zahlungsdienstleister Wirecard. Oft kommt es dann zu zahlreichen Entlassungen und manchmal wird auch Betrug im großen Stil offenkundig, siehe Wirecard. Aber der Schmied oder die Steuerberaterin, die Insolvenz anmelden, schaffen es nicht in die Medien – und trotzdem ist jede Pleite ein Drama, nicht nur für den Schuldner oder die Schuldnerin, sondern auch für die Gläubiger – und davon gibt es oft reichlich. Der Insolvenzrechtler Christoph G. Paulus:
05 O-TON (Paulus)
Die beiden berühmtesten sind einmal die Banken und zum anderen der Fiskus, also der Steuerstaat. Aber was man nicht so auf dem Bildschirm hat, natürlich auch jeder Lieferant. Auch jeder Dienstleister, der mir irgendetwas erbringt.
SPRECHER
So ein Unternehmen hat oft zahlreiche Vertragsbeziehungen – mit anderen Firmen, die Material oder Vorprodukte liefern, mit Rechts- oder Steuerberaterinnen, Stromanbietern und so weiter. Zum Kreis der Gläubiger gehören aber auch die Angestellten und womöglich ein Vermieter oder eine Vermieterin. Bei richtig großen Unternehmen kann sogar eine ganze Region betroffen sein, sagt der Sozialwirt Peter Kranzusch.
06 O-TON (Kranzusch)
Weil das in einer ländlichen Region vielleicht dann der einzige große Arbeitgeber ist. Und wenn der dann schließt, dann hat es eine große Wirkung für die Bevölkerung, Arbeitsplätze fallen weg, und es hat eben auch noch Folgen für Zulieferer von Materialien, von Dienstleistungen, bis hin zu Gaststätten und Handelseinrichtungen.
Musik 6
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'47
SPRECHER
Ein Beispiel ist die Pleite der Werft Bremer Vulkan, bei der Mitte der 1990er rund 20.000 Menschen ihren Job verloren und die einen jahrelangen Niedergang der gesamten Region nach sich zog. Oder 2009 die Insolvenz des Versandhändlers Quelle: 4000 Arbeitsplätze fielen weg, die Arbeitslosenquote im Raum Nürnberg/Fürth stieg um 36 Prozent. Manchmal hängt eben die ganze Region mit drin, wenn eine Firma Insolvenz anmeldet – genauer: einen Antrag auf Insolvenz stellt.
07 O-TON (Kranzusch)
Also es bedarf eines Antrags. Wer kann den Antrag stellen? Das kann entweder ein Gläubiger sein oder auch der Unternehmer selbst.
SPRECHER
((Für Kapitalgesellschaften wie GmbHs oder Aktiengesellschaften gibt es sogar eine Pflicht, einen Antrag zu stellen, wenn sie zahlungsunfähig oder überschuldet sind. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, kann im Gefängnis landen, Stichwort Insolvenzverschleppung – da ist es wieder: das mächtige Druckmittel gegenüber Schuldnerinnen und Schuldnern.))
MUSIK 7
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'22
SPRECHER
Ist die Insolvenz ordentlich angemeldet und vom Gericht geprüft und genehmigt, kommt in der Regel der Insolvenzverwalter oder die Insolvenzverwalterin ins Spiel. Er oder sie übernimmt gewissermaßen das Ruder des sinkenden Schiffes – das aber manchmal noch gerettet werden kann.
08 O-TON (Kranzusch)
Dann kommt es darauf an, ob der Insolvenzverwalter in dieser frühen Phase schon erkennt, okay, ich finde jemand, der dieses Unternehmen vielleicht kauft oder das Unternehmen kann sich selber retten mit neuen Investoren.
SPRECHER
Das gelingt aber nur manchmal.
09 O-TON (Kranzusch)
Man sagt grob, 80 bis 90 Prozent aller Unternehmen werden geschlossen.
SPRECHER
Weil die Masse der Unternehmen Kleinstunternehmen sind, die dann einfach ihre Arbeit einstellen. Betrachtet man nur große Unternehmen sehen die Zahlen anders aus.
10 O-TON (Kranzusch)
Das sind Unternehmen mit mindestens 100 Beschäftigten oder mit mindestens 20 Millionen Umsatz, dann kann man grob sagen, mindestens 50 Prozent der Unternehmen werden als Ganzes gerettet oder werden in Teilen gerettet.
SPRECHER
Auch weil sich manchmal die Kommune bemüht, die Firma zu erhalten, damit die Arbeitsplätze nicht wegfallen. Gelingt die Rettung nicht, heißt es: Alles muss raus, der große Ausverkauf beginnt. Es geht darum, möglichst viel Geld zu erlösen, um die Gläubiger so gut es geht auszubezahlen. Dabei gilt der Grundsatz:
11 O-TON (Paulus)
Wir verteilen den Verlust gleichmäßig. Das ist der Gleichbehandlungsgrundsatz der Gläubiger, par conditio creditorum.
SPRECHER
Das ist allerdings kaum durchzuhalten. Denn im Prinzip sind zwar alle gleich, aber in der Praxis sind dann manche doch ein bisschen gleicher. Zum Beispiel wenn sie Sicherheiten erhalten haben.
12 O-TON (Kranzusch)
Das sind zum Beispiel Banken, die einen Kredit geben und dafür dann aber einen Eintrag in das Grundbuch erhalten.
SPRECHER
Sie bekommen dann auch Geld aus dem Verkauf der Immobilie. Aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genießen einen gewissen Schutz.
13 O-TON (Paulus)
Die haben einen Schutzmechanismus dergestalt, dass sie auf jeden Fall die letzten drei Monate vor dem Antrag des Insolvenzverfahrens ihr Gehalt vollständig bezahlt bekommen. Wenn nicht von ihrem Arbeitgeber, dann von einer Bundesanstalt.
SPRECHER
Eher wenig bleibt übrig für diejenigen, die keine Sicherheiten haben – erstaunlich wenig sogar.
14 O-TON (Paulus)
Im Schnitt bekommt der Gläubiger drei Prozent. Das heißt, von den geschuldeten 100 Euro kriegt er drei Euro. Und wenn ich im Schnitt sage, heißt das natürlich, dass er gelegentlich mal zehn Euro bekommt. In ganz, ganz seltenen Fällen sogar mehr. Aber in ganz vielen Fällen bekommt er Null.
Musik 8
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'40
SPRECHER
Der Lieferant von Vorprodukten oder die Steuerberaterin der Firma gehen also oft leer aus.
Dass es so wenig zu verteilen gibt, liegt daran, dass ein Insolvenzantrag erst spät gestellt wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – und es könnte ja noch ein Großauftrag kommen oder jemand, der von dem Produkt begeistert ist und investiert.
15 O-TON (Paulus)
Man vermeidet das auf Deubel komm raus. Und je länger sich das hinzieht, desto weniger ist da. Es ist völlig klar, wenn ich merke, in einem Jahr oder in zwei Jahren, wenn es so weitergeht wie jetzt, bin ich in der Pleite, dass mit jedem weiteren Tag, an dem ich keine Gegenschritte unternehme – ich muss ja weiter meine Rechnungen bezahlen – das Geld wird immer weniger und dadurch ist eben für die Gläubiger im Falle der Verteilung immer weniger da.
SPRECHER
Und das obwohl wir in Deutschland den Fokus eher auf die Ansprüche von Gläubigerinnen und Gläubigern haben.
16 O-TON (Paulus)
Wir in Deutschland zielen traditionell darauf ab, mit dem Insolvenzverfahren die Gläubiger bestmöglich zu befriedigen. Mit dieser Sichtweise hängen wir noch ganz stark im antiken Rom drin. Sie erinnern sich, da war den Gläubigern die Macht an die Hand gegeben, den Schuldner in Stücke zu schneiden.
SPRECHER
Deutschland hat traditionell also einen Fokus auf die Gläubiger – in anderen Ländern ist das anders.
17 O-TON (Paulus)
Die Franzosen beispielsweise haben als Ziel ihres Insolvenzrechts so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten und Unternehmen am Leben zu halten. Das haben die Argentinier auch. Die wollen eben gewissermaßen die Wirtschaft als solche retten und den sozialen Frieden.
SPRECHER
Und nochmal eine andere Herangehensweise haben die angelsächsischen Länder, allen voran die USA:
18 O-TON (Paulus)
Da ist das Ziel des Insolvenzrechts, dem Schuldner wieder auf die Beine zu helfen.
Musik 9
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'25
SPRECHER
Die Beispiele zeigen schon: Das Abwägen zwischen Schuldnern und Gläubigern läuft überall ein bisschen anders. Tatsächlich lässt sich das auch an einigen Begriffen ablesen. Vor unserem heutigen Insolvenzrecht gab es hierzulande das Konkursrecht. Und hier zeigt das Wort schon, worum es bei einer Pleite ging.
19 O-TON (Kunstreich)
Das Wort leitet sich ab vom lateinischen concursus creditorum, also dem Zusammenlauf der Gläubiger oder auch Wettlauf. Und dieses Zusammenlaufen der Gläubiger, die darum wetteifern, noch einen Teil vom Kuchen abzubekommen, der offenbar nicht für alle reicht, das steckt da drin. Und das richtet eben das Augenmerk auf das Verteilungsproblem, was dahintersteht.
SPRECHER
Sagt der Historiker Jasper Kunstreich. Er forscht am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main. Und er weist darauf hin, dass Begriffe wie „Schulden“ und „Gläubiger“ einen moralischen Anklang haben: Da hat jemand eine „Schuld“ und jemand anderes hat an die Rückzahlung „geglaubt“. Auch hier gibt es historische Wurzeln.
20 O-TON (Kunstreich)
Die ersten Konkursvorschriften im heutigen Sinne, die wir so nennen würden, haben sich im Mittelalter herausgebildet und in den Renaissancestätten in Italien. Und die haben tatsächlich den Konkurs oft mit so einer besonderen Form von Demütigung verknüpft, so eine Art von öffentlicher Schande. Zum Beispiel, indem eine Glocke geläutet wurde und die Schuldner auf den Marktplatz geführt wurden. Oder die mussten eine sogenannte Schandkappe tragen, solche Sachen.
SPRECHER
Und wer jetzt denkt: lange her und das Mittelalter war sowieso ziemlich grausam, sollte sich vor Augen halten, dass solche Moralvorstellungen oft sehr lange Schatten werfen - bis ins 20. Jahrhundert.
21 O-TON (Kranzusch)
Die Insolvenz ist der bürgerliche Tod des Kaufmanns. Und bis weit in die 50er, 60er Jahre war das üblich, dass ein Unternehmer, der insolvent wurde, der hat sich auch am Ende erschossen, weil die Schande viel zu groß war.
Musik 10
"Politische Entscheidungen" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Länge: 1'47
SPRECHER
Aber zunächst ins 19. Jahrhundert. Denn da entwickelte sich das erste allgemeine Konkursrecht. Das war nötig, weil sich die Wirtschaft zu dieser Zeit stark veränderte. Es war die Zeit, als die Industrialisierung ihren Anfang nahm.
22 O-TON (Kunstreich)
Mit dieser industriellen Revolution veränderte sich das Arbeiten und das Wirtschaften aller Menschen komplett und der Agrarsektor hat aufgehört, der alles dominierende Sektor zu sein.
SPRECHER
Die ersten industriellen Zentren entwickelten sich hierzulande in Sachsen und im Rheinland, wo Textilien oder Metall in großen Fabriken verarbeitet wurden. Daneben entstanden im Ruhrgebiet erste große Bergbauunternehmen. Und von Hansestädten wie Hamburg oder Lübeck aus machten Kaufleute bereits Geschäfte nach Übersee. Aber so unterschiedlich diese Unternehmungen und Geschäfte auch waren – eines hatten alle gemeinsam: Um sie aufzubauen, musste man erst mal investieren und man brauchte viel, viel Geld. Aber wie das eben so ist im Leben: nicht alles gelingt. Pleiten gab es immer wieder. Was es nicht gab, war ein Staat mit einer einheitlichen Rechtsordnung. Die Region in der Mitte Europas war damals stark zersplittert: Es gab Königreiche wie Bayern oder Sachsen, Herzogtümer wie Braunschweig oder Baden und freie Hansestädte. Der Umgang mit Schuldnerinnen und Schuldnern war überall anders geregelt. Was dazu führte, dass Menschen, die Pleite gingen, regelmäßig ungeschoren das Weite suchten.
23 O-TON (Kunstreich)
Die nächste Landesgrenze ist ja nur ein paar Kilometer entfernt. Und dann haut er einfach ab und hinterlässt im Zweifel auch noch Frau und Kind, die dann die Gemeinschaft durchfüttern muss.
SPRECHER
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde das zumindest erschwert. Ein paar Jahre später, 1879, trat dann die erste reichsweite Konkursordnung in Kraft. Das Machtspiel zwischen Schuldnern und Gläubigern bekam ein einheitliches Rahmenwerk. Es zielte vor allem darauf ab, die Gläubiger zu befriedigen. Der Schuldner, die Schuldnerin musste zwar keine Schandkappe mehr tragen, war aber in wirtschaftlicher Hinsicht für den Rest des Lebens erledigt. Und trotzdem galt die neue Konkursordnung als fortschrittlich.
24 O-TON (Kunstreich)
Die wurde oft als großer Wurf erst mal dargestellt, weil sie eine sehr komplizierte und zersplitterte Materie wirklich vereinheitlicht hat. Aber es hat sich doch im 20. Jahrhundert dann gezeigt, dass sie mit ganz vielem nicht so gut zurechtkam, weil sie nämlich in erster Linie – ein Kind ihrer Zeit – den Einzelkaufmann vor Augen hatte und vielleicht nicht so sehr die Aktiengesellschaft, die GmbH, die Unternehmen, die wir dann im 20. Jahrhundert haben.
SPRECHER
Denn mit zunehmender Größe und Komplexität der Unternehmen braucht man eben im Insolvenzfall andere Regelungen.
Musik 11
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'57
SPRECHER
Die Konkursordnung war aber auch sehr lange in Kraft. 1935 kam die sogenannte Vergleichsordnung hinzu, aber einen ganz neuen Rahmen für Firmenpleiten gab es erst 1999, also 120 Jahre später.
25 O-TON (Kunstreich)
Da sind wir nach der Wiedervereinigung, da musste ja sozusagen dafür gesorgt werden, dass wir einen einheitlichen Rechtsraum haben mit den neuen Bundesländern. Aber die Kritik an der alten Konkursordnung hat eigentlich schon in den 1970ern eingesetzt.
SPRECHER
Aus mehreren Gründen. Zum einen hatten sich Firmen stark verändert. Nicht nur waren neue Rechtsformen hinzugekommen, sondern auch die Unternehmen selbst wandelten sich. Statt Fabrikhallen mit vielen Maschinen oder großen Fuhrparks, die man im Falle einer Pleite veräußern kann, wurden Dienstleistungen und immaterielle Güter immer wichtiger.
26 O-TON (Paulus)
Know-how spielt eine Rolle, Goodwill, Charisma. Und das sind Werte, die kann ich nicht wirklich gut auf dem Markt verkaufen. Wie soll ich Know-how verkaufen? Ich kann nicht aus ihrem Hirn herausschneiden, wie man eine Software entwickelt oder wie man eine KI entwickelt, und das bei Ebay an den Meistbietenden verkaufen, das geht nun mal nicht.
SPRECHER
Gleichzeitig zeigte der Bankruptcy Code, der 1979 in den USA in Kraft trat, wie ein modernes Insolvenzrecht aussehen kann. Das veränderte den Blick auf Unternehmenspleiten weltweit.
27 O-TON (Paulus)
Was jetzt mal, historisch gesehen, völlig überraschend ist, dass eine neue juristische Erfindung auf den Markt kommt und innerhalb von wenigen Jahrzehnten praktisch die gesamte Welt erobert. Und das ist der Fall mit dem Reorganisationsverfahren, mit dem berühmten Chapter-Eleven-Verfahren.
SPRECHER
Das Chapter Eleven, also das elfte Kapitel, ist Teil der US-amerikanischen Insolvenzordnung. Es bietet einer Firma eine Reihe von Möglichkeiten, sich im Rahmen der Insolvenz neu zu strukturieren. Ungünstige Verträge etwa, zum Beispiel über hohe Stromkosten, können neu ausgehandelt werden. Es räumt dem Unternehmer, der Unternehmerin also weitreichende Rechte ein. Das Ziel ist, dass die Firma wieder eine wirtschaftliche Perspektive bekommt – und das macht oft auch für Gläubigerinnen und Gläubiger Sinn. Vor allem, wenn es sich um Dienstleistungsfirmen handelt, wo nach einem Ausverkauf nicht viel zu verteilen wäre. Deshalb stimmen sie der Sanierung meist zu, selbst wenn sich ihre Konditionen verschlechtern.
28 O-TON (Paulus)
Das tun sie nicht deswegen, weil sie jetzt so besonders humanistisch gesinnt und die christliche Nächstenliebe entdeckt hätten, sondern das tun sie deswegen, weil das ökonomische Kalkül ihnen sagt: Wenn wir an unser Geld rankommen, müssen wir in den sauren Apfel beißen und müssen dem Schuldner auf die Beine helfen.
SPRECHER
Nach dem Vorbild der USA wurden die Insolvenzordnungen mittlerweile in vielen Ländern umgestaltet oder zumindest angepasst.
Musik 12
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'42
SPRECHER
In Deutschland trat die neue Insolvenzordnung 1999 in Kraft. Sie sieht unter anderem eine mögliche Restschuldbefreiung, also einen Schuldenerlass vor, um Schuldnern einen wirtschaftlichen Neustart zu ermöglichen. Denn Einzelunternehmer oder Inhaberinnen kleinerer Personengesellschaften haften bei einer Pleite oft mit ihrem Privatvermögen. Außerdem ermöglicht die neue Insolvenzordnung die Sanierung von Unternehmen. Einige Reformen aus den letzten Jahren haben das noch weiter vereinfacht. Zum Beispiel bestimmt heute nicht mehr unbedingt das Gericht den Insolvenzverwalter oder die Insolvenzverwalterin.
29 O-TON (Kranzusch)
Seit 2012 haben wir erstmalig die Möglichkeit, dass der Schuldner selber im Vorfeld einen Insolvenzverwalter sich aussucht und diesen Insolvenzverwalter dann beauftragt, ein Sanierungskonzept zu erstellen. Das ist dann das sogenannte Schutzschirm-Verfahren.
SPRECHER
Das Ziel ist, möglichst frühzeitig umzusteuern und nicht immer weiter zu warten, bis die Pleite da ist. Das gilt auch für die Reform, die 2021 auf Druck der EU umgesetzt wurde.
30 O-TON (Paulus)
Es muss am Horizont bereits das rote Licht flackern, das rote Licht der Insolvenz. Aber es ist noch genug Verhandlungsspielraum da, dass ich jetzt als Schuldner zu meinen Gläubigern sagen kann: Wir setzen uns zusammen und versuchen mal, ob ich meine Rettung schaffen kann mit euch.
SPRECHER
Neu daran ist, dass der Schuldner, die Schuldnerin sich die Gläubiger aussuchen kann – und ganz wichtig: Es gilt nicht mehr das Prinzip der Einstimmigkeit, sondern es reicht, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Gläubiger den neuen Konditionen zustimmt. Die überstimmten Gläubiger müssen sich der Mehrheit fügen. Wenn man so will, hat sich die deutsche Insolvenzordnung also der US-Amerikanischen immer weiter angenähert. Mehr als in früheren Zeiten geht es darum, der Unternehmerin, dem Unternehmer wieder auf die Beine zu helfen. Das hat implizit auch das Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern verändert.
Musik 13
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'46
SPRECHER
Über den ganz langen Zeitverlauf betrachtet, kann man sagen: Es gab eine enorme Machtverschiebung zugunsten des Schuldners.
31 O-TON (Paulus)
Am Anfang das Zwölftafelgesetz: Die Gläubiger sind völlig entrüstet über den Schuldner, der nicht bezahlt und schneiden den in Stücke. Und heute der Schuldner, der zu den Gläubigern hingeht und sagt: Freunde, wir setzen uns jetzt mal zusammen und verhandeln darüber, dass ich aus der Insolvenz rauskomme, also es ist schon ein Machtinstrument in der Hand des Schuldners.
SPRECHER
Ein Machtinstrument in der Hand des Schuldners, von dem aber – wenn alles gut geht – letztlich alle profitieren.
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Von der Herstatt Bank über Philipp Holzmann bis hin zu Schlecker - große Pleiten haben die deutsche Wirtschaft immer wieder erschüttert. Dabei ging es nicht nur um wirtschaftliches Scheitern, sondern oft auch um politische Machtspiele, finanzielle Interessen und juristische Streitfragen. Von Maike Brzoska
Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Carsten Fabian
Technik: Andreas Caramelle
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Jasper Kunstreich, Historiker, Max-Planck-Institut für Rechtgeschichte und Rechtstheorie
Christoph G. Paulus, Insolvenzrechtler, emeritierter Professor der Humboldt-Universität Berlin
Peter Kranzusch, Sozialwirt, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn
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Christoph G. Paulus, „Große Pleiten und die Wege des Insolvenzrechts“ – spannend und informativ geschrieben, stellt die wichtigsten Grundsätze des Insolvenzrechts dar.
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In früheren Zeiten war der Umgang mit Schuldnern mitunter recht martialisch. Wenn sich jemand Geld geliehen hatte und das Geld nicht zurückzahlen konnte, machte man mit ihm sogenannten „kurzen Prozess“. Im Römischen Reich regelte das Zwölftafelgesetz die Details:
ZITATOR
Wenn der Schuldner nicht bezahlt, darf der Gläubiger ihn fesseln und festhalten.
SPRECHER
Warum das nötig war, erschließt sich aus dem weiteren Prozedere:
ZITATOR
Nach 60 Tagen kann der Schuldner öffentlich ausgestellt werden. Wenn sich niemand bereit erklärt, die Schuld zu zahlen, kann er getötet oder jenseits des Tibers verkauft werden.
SPRECHER
Also Tod oder Versklavung – und wehe dem, der mehrere Gläubiger geprellt hatte.
ZITATOR
Wenn es mehrere Gläubiger gibt, sollen sie den Schuldner unter sich aufteilen.
SPRECHER
Und das war durchaus wörtlich gemeint: „in partis secanto“ stand im Zwölftafelgesetz – bedeutet übersetzt: sie sollen sie in Teile schneiden.
01 O-TON (Paulus)
Der eine schneidet den Finger ab, der andere schneidet den Arm ab, der dritte schneidet die Knie heraus. Die Gläubiger hatten also gegenüber dem Schuldner, der seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, ein ziemlich mächtiges Druckmittel an der Hand.
SPRECHER
Sagt der Insolvenzrechtler Christoph G. Paulus. Er ist emeritierter Professor der Humboldt-Universität Berlin und Autor des Buches „Große Pleiten und die Wege des Insolvenzrechts“.
Musik 3
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'47
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Die drakonischen Strafen im antiken Rom zeigen: So eine Pleite ist keine Kleinigkeit, oft sogar ein Drama. Kein Wunder – es geht um Existenzen, die auf dem Spiel stehen, um Verträge, die gebrochen werden, um viel Geld – und manchmal auch um kreative Buchführung, sprich: Betrug. Alles in allem eine komplexe Gemengelage. Wobei heute bei einer Firmenpleite nicht mehr kurzer Prozess gemacht wird, sondern der lange: Zwei bis sechs Jahre dauern Insolvenzverfahren – mit Ausnahmen, die sich jahrzehntelang hinziehen. Es dauert eben, bis im Detail aufgedröselt ist, wer was bekommt.
Musik 4
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'40
SPRECHER
Aber der Reihe nach. Im Prinzip geht es darum: Ein Unternehmen geht – salopp gesprochen – Pleite, ist also insolvent, was nichts anderes als zahlungsunfähig bedeutet. Früher sagte man auch Konkurs dazu, das ist heute aber nicht mehr so üblich. Die Gründe für so eine Pleite sind vielfältig: Missmanagement, Konjunktureinbruch oder nachlassendes Interesse am Angebot. Aber generell kann man sagen: Je mehr geliehenes Geld in einer Firma steckt, desto größer das Risiko.
02 O-TON (Kranzusch)
Die Insolvenzgefährdung steigt im Allgemeinen, wenn ein Unternehmen hohe Investitionen tätigen muss oder wenn sie Projekte vorfinanzieren müssen.
SPRECHER
Sagt der Sozialwirt Peter Kranzusch. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn.
03 O-TON (Kranzusch)
Typisch ist das in Branchen wie der Baubranche oder auch im Verkehrssektor. Aber es gibt auch Branchen mit einem hohen Verdrängungswettbewerb – also wo es viele Gründungen gibt, da gibt es auch viele Austritte – und da beobachten wir dann auch Insolvenzen, wenn sich die Investitionen noch nicht amortisiert haben. Also das ist zum Beispiel häufig der Fall im Handel, bei Gaststätten, bei Diskotheken, bei Fitnessstudios.
SPRECHER
Mit Blick auf die gesamte Wirtschaft sind Insolvenzen aber eher selten. (2024 waren es bundesweit 22.000 Unternehmen, die Insolvenz angemeldet haben. Die allermeisten davon waren Kleinstunternehmen mit wenigen Beschäftigten.)
04 O-TON (Kranzusch)
Nur jede zehnte Schließung eines Unternehmens erfolgt im Wege eines Insolvenzantrags. Also die Masse der Unternehmen, die liquidiert werden, wo die Selbständigen ihre Tätigkeit einstellen, passiert ohne Insolvenz.
SPRECHER
Das ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Steuerberaterin die Kanzlei oder ein Tischler den Betrieb dichtmachen, sei es aus Altersgründen oder weil sich die Firma nicht mehr rechnet. Das ist, wenn man so will, der Normalfall. Insolvenzen sind eher die Ausnahme.
MUSIK 5
"Rania (2)" - Album: Überleben - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'50
SPRECHER
In die Schlagzeilen geraten Insolvenzen, wenn es sich um große Unternehmen handelt: Das Bauunternehmen Philipp Holzmann etwa, die Drogeriekette Schlecker, Lehman Brothers, Galeria oder der Zahlungsdienstleister Wirecard. Oft kommt es dann zu zahlreichen Entlassungen und manchmal wird auch Betrug im großen Stil offenkundig, siehe Wirecard. Aber der Schmied oder die Steuerberaterin, die Insolvenz anmelden, schaffen es nicht in die Medien – und trotzdem ist jede Pleite ein Drama, nicht nur für den Schuldner oder die Schuldnerin, sondern auch für die Gläubiger – und davon gibt es oft reichlich. Der Insolvenzrechtler Christoph G. Paulus:
05 O-TON (Paulus)
Die beiden berühmtesten sind einmal die Banken und zum anderen der Fiskus, also der Steuerstaat. Aber was man nicht so auf dem Bildschirm hat, natürlich auch jeder Lieferant. Auch jeder Dienstleister, der mir irgendetwas erbringt.
SPRECHER
So ein Unternehmen hat oft zahlreiche Vertragsbeziehungen – mit anderen Firmen, die Material oder Vorprodukte liefern, mit Rechts- oder Steuerberaterinnen, Stromanbietern und so weiter. Zum Kreis der Gläubiger gehören aber auch die Angestellten und womöglich ein Vermieter oder eine Vermieterin. Bei richtig großen Unternehmen kann sogar eine ganze Region betroffen sein, sagt der Sozialwirt Peter Kranzusch.
06 O-TON (Kranzusch)
Weil das in einer ländlichen Region vielleicht dann der einzige große Arbeitgeber ist. Und wenn der dann schließt, dann hat es eine große Wirkung für die Bevölkerung, Arbeitsplätze fallen weg, und es hat eben auch noch Folgen für Zulieferer von Materialien, von Dienstleistungen, bis hin zu Gaststätten und Handelseinrichtungen.
Musik 6
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'47
SPRECHER
Ein Beispiel ist die Pleite der Werft Bremer Vulkan, bei der Mitte der 1990er rund 20.000 Menschen ihren Job verloren und die einen jahrelangen Niedergang der gesamten Region nach sich zog. Oder 2009 die Insolvenz des Versandhändlers Quelle: 4000 Arbeitsplätze fielen weg, die Arbeitslosenquote im Raum Nürnberg/Fürth stieg um 36 Prozent. Manchmal hängt eben die ganze Region mit drin, wenn eine Firma Insolvenz anmeldet – genauer: einen Antrag auf Insolvenz stellt.
07 O-TON (Kranzusch)
Also es bedarf eines Antrags. Wer kann den Antrag stellen? Das kann entweder ein Gläubiger sein oder auch der Unternehmer selbst.
SPRECHER
((Für Kapitalgesellschaften wie GmbHs oder Aktiengesellschaften gibt es sogar eine Pflicht, einen Antrag zu stellen, wenn sie zahlungsunfähig oder überschuldet sind. Wer dieser Pflicht nicht nachkommt, kann im Gefängnis landen, Stichwort Insolvenzverschleppung – da ist es wieder: das mächtige Druckmittel gegenüber Schuldnerinnen und Schuldnern.))
MUSIK 7
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'22
SPRECHER
Ist die Insolvenz ordentlich angemeldet und vom Gericht geprüft und genehmigt, kommt in der Regel der Insolvenzverwalter oder die Insolvenzverwalterin ins Spiel. Er oder sie übernimmt gewissermaßen das Ruder des sinkenden Schiffes – das aber manchmal noch gerettet werden kann.
08 O-TON (Kranzusch)
Dann kommt es darauf an, ob der Insolvenzverwalter in dieser frühen Phase schon erkennt, okay, ich finde jemand, der dieses Unternehmen vielleicht kauft oder das Unternehmen kann sich selber retten mit neuen Investoren.
SPRECHER
Das gelingt aber nur manchmal.
09 O-TON (Kranzusch)
Man sagt grob, 80 bis 90 Prozent aller Unternehmen werden geschlossen.
SPRECHER
Weil die Masse der Unternehmen Kleinstunternehmen sind, die dann einfach ihre Arbeit einstellen. Betrachtet man nur große Unternehmen sehen die Zahlen anders aus.
10 O-TON (Kranzusch)
Das sind Unternehmen mit mindestens 100 Beschäftigten oder mit mindestens 20 Millionen Umsatz, dann kann man grob sagen, mindestens 50 Prozent der Unternehmen werden als Ganzes gerettet oder werden in Teilen gerettet.
SPRECHER
Auch weil sich manchmal die Kommune bemüht, die Firma zu erhalten, damit die Arbeitsplätze nicht wegfallen. Gelingt die Rettung nicht, heißt es: Alles muss raus, der große Ausverkauf beginnt. Es geht darum, möglichst viel Geld zu erlösen, um die Gläubiger so gut es geht auszubezahlen. Dabei gilt der Grundsatz:
11 O-TON (Paulus)
Wir verteilen den Verlust gleichmäßig. Das ist der Gleichbehandlungsgrundsatz der Gläubiger, par conditio creditorum.
SPRECHER
Das ist allerdings kaum durchzuhalten. Denn im Prinzip sind zwar alle gleich, aber in der Praxis sind dann manche doch ein bisschen gleicher. Zum Beispiel wenn sie Sicherheiten erhalten haben.
12 O-TON (Kranzusch)
Das sind zum Beispiel Banken, die einen Kredit geben und dafür dann aber einen Eintrag in das Grundbuch erhalten.
SPRECHER
Sie bekommen dann auch Geld aus dem Verkauf der Immobilie. Aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer genießen einen gewissen Schutz.
13 O-TON (Paulus)
Die haben einen Schutzmechanismus dergestalt, dass sie auf jeden Fall die letzten drei Monate vor dem Antrag des Insolvenzverfahrens ihr Gehalt vollständig bezahlt bekommen. Wenn nicht von ihrem Arbeitgeber, dann von einer Bundesanstalt.
SPRECHER
Eher wenig bleibt übrig für diejenigen, die keine Sicherheiten haben – erstaunlich wenig sogar.
14 O-TON (Paulus)
Im Schnitt bekommt der Gläubiger drei Prozent. Das heißt, von den geschuldeten 100 Euro kriegt er drei Euro. Und wenn ich im Schnitt sage, heißt das natürlich, dass er gelegentlich mal zehn Euro bekommt. In ganz, ganz seltenen Fällen sogar mehr. Aber in ganz vielen Fällen bekommt er Null.
Musik 8
"Pink" - Album: Colours of Air - Komponist: Loscil & Lawrence English - Ausführender: Loscil & Lawrence English - Länge: 0'40
SPRECHER
Der Lieferant von Vorprodukten oder die Steuerberaterin der Firma gehen also oft leer aus.
Dass es so wenig zu verteilen gibt, liegt daran, dass ein Insolvenzantrag erst spät gestellt wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – und es könnte ja noch ein Großauftrag kommen oder jemand, der von dem Produkt begeistert ist und investiert.
15 O-TON (Paulus)
Man vermeidet das auf Deubel komm raus. Und je länger sich das hinzieht, desto weniger ist da. Es ist völlig klar, wenn ich merke, in einem Jahr oder in zwei Jahren, wenn es so weitergeht wie jetzt, bin ich in der Pleite, dass mit jedem weiteren Tag, an dem ich keine Gegenschritte unternehme – ich muss ja weiter meine Rechnungen bezahlen – das Geld wird immer weniger und dadurch ist eben für die Gläubiger im Falle der Verteilung immer weniger da.
SPRECHER
Und das obwohl wir in Deutschland den Fokus eher auf die Ansprüche von Gläubigerinnen und Gläubigern haben.
16 O-TON (Paulus)
Wir in Deutschland zielen traditionell darauf ab, mit dem Insolvenzverfahren die Gläubiger bestmöglich zu befriedigen. Mit dieser Sichtweise hängen wir noch ganz stark im antiken Rom drin. Sie erinnern sich, da war den Gläubigern die Macht an die Hand gegeben, den Schuldner in Stücke zu schneiden.
SPRECHER
Deutschland hat traditionell also einen Fokus auf die Gläubiger – in anderen Ländern ist das anders.
17 O-TON (Paulus)
Die Franzosen beispielsweise haben als Ziel ihres Insolvenzrechts so viele Arbeitsplätze wie möglich zu retten und Unternehmen am Leben zu halten. Das haben die Argentinier auch. Die wollen eben gewissermaßen die Wirtschaft als solche retten und den sozialen Frieden.
SPRECHER
Und nochmal eine andere Herangehensweise haben die angelsächsischen Länder, allen voran die USA:
18 O-TON (Paulus)
Da ist das Ziel des Insolvenzrechts, dem Schuldner wieder auf die Beine zu helfen.
Musik 9
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'25
SPRECHER
Die Beispiele zeigen schon: Das Abwägen zwischen Schuldnern und Gläubigern läuft überall ein bisschen anders. Tatsächlich lässt sich das auch an einigen Begriffen ablesen. Vor unserem heutigen Insolvenzrecht gab es hierzulande das Konkursrecht. Und hier zeigt das Wort schon, worum es bei einer Pleite ging.
19 O-TON (Kunstreich)
Das Wort leitet sich ab vom lateinischen concursus creditorum, also dem Zusammenlauf der Gläubiger oder auch Wettlauf. Und dieses Zusammenlaufen der Gläubiger, die darum wetteifern, noch einen Teil vom Kuchen abzubekommen, der offenbar nicht für alle reicht, das steckt da drin. Und das richtet eben das Augenmerk auf das Verteilungsproblem, was dahintersteht.
SPRECHER
Sagt der Historiker Jasper Kunstreich. Er forscht am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie in Frankfurt am Main. Und er weist darauf hin, dass Begriffe wie „Schulden“ und „Gläubiger“ einen moralischen Anklang haben: Da hat jemand eine „Schuld“ und jemand anderes hat an die Rückzahlung „geglaubt“. Auch hier gibt es historische Wurzeln.
20 O-TON (Kunstreich)
Die ersten Konkursvorschriften im heutigen Sinne, die wir so nennen würden, haben sich im Mittelalter herausgebildet und in den Renaissancestätten in Italien. Und die haben tatsächlich den Konkurs oft mit so einer besonderen Form von Demütigung verknüpft, so eine Art von öffentlicher Schande. Zum Beispiel, indem eine Glocke geläutet wurde und die Schuldner auf den Marktplatz geführt wurden. Oder die mussten eine sogenannte Schandkappe tragen, solche Sachen.
SPRECHER
Und wer jetzt denkt: lange her und das Mittelalter war sowieso ziemlich grausam, sollte sich vor Augen halten, dass solche Moralvorstellungen oft sehr lange Schatten werfen - bis ins 20. Jahrhundert.
21 O-TON (Kranzusch)
Die Insolvenz ist der bürgerliche Tod des Kaufmanns. Und bis weit in die 50er, 60er Jahre war das üblich, dass ein Unternehmer, der insolvent wurde, der hat sich auch am Ende erschossen, weil die Schande viel zu groß war.
Musik 10
"Politische Entscheidungen" - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Album: Berlin 1945 - Tagebuch einer Großstadt (Die Original Filmmusik) - Länge: 1'47
SPRECHER
Aber zunächst ins 19. Jahrhundert. Denn da entwickelte sich das erste allgemeine Konkursrecht. Das war nötig, weil sich die Wirtschaft zu dieser Zeit stark veränderte. Es war die Zeit, als die Industrialisierung ihren Anfang nahm.
22 O-TON (Kunstreich)
Mit dieser industriellen Revolution veränderte sich das Arbeiten und das Wirtschaften aller Menschen komplett und der Agrarsektor hat aufgehört, der alles dominierende Sektor zu sein.
SPRECHER
Die ersten industriellen Zentren entwickelten sich hierzulande in Sachsen und im Rheinland, wo Textilien oder Metall in großen Fabriken verarbeitet wurden. Daneben entstanden im Ruhrgebiet erste große Bergbauunternehmen. Und von Hansestädten wie Hamburg oder Lübeck aus machten Kaufleute bereits Geschäfte nach Übersee. Aber so unterschiedlich diese Unternehmungen und Geschäfte auch waren – eines hatten alle gemeinsam: Um sie aufzubauen, musste man erst mal investieren und man brauchte viel, viel Geld. Aber wie das eben so ist im Leben: nicht alles gelingt. Pleiten gab es immer wieder. Was es nicht gab, war ein Staat mit einer einheitlichen Rechtsordnung. Die Region in der Mitte Europas war damals stark zersplittert: Es gab Königreiche wie Bayern oder Sachsen, Herzogtümer wie Braunschweig oder Baden und freie Hansestädte. Der Umgang mit Schuldnerinnen und Schuldnern war überall anders geregelt. Was dazu führte, dass Menschen, die Pleite gingen, regelmäßig ungeschoren das Weite suchten.
23 O-TON (Kunstreich)
Die nächste Landesgrenze ist ja nur ein paar Kilometer entfernt. Und dann haut er einfach ab und hinterlässt im Zweifel auch noch Frau und Kind, die dann die Gemeinschaft durchfüttern muss.
SPRECHER
Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde das zumindest erschwert. Ein paar Jahre später, 1879, trat dann die erste reichsweite Konkursordnung in Kraft. Das Machtspiel zwischen Schuldnern und Gläubigern bekam ein einheitliches Rahmenwerk. Es zielte vor allem darauf ab, die Gläubiger zu befriedigen. Der Schuldner, die Schuldnerin musste zwar keine Schandkappe mehr tragen, war aber in wirtschaftlicher Hinsicht für den Rest des Lebens erledigt. Und trotzdem galt die neue Konkursordnung als fortschrittlich.
24 O-TON (Kunstreich)
Die wurde oft als großer Wurf erst mal dargestellt, weil sie eine sehr komplizierte und zersplitterte Materie wirklich vereinheitlicht hat. Aber es hat sich doch im 20. Jahrhundert dann gezeigt, dass sie mit ganz vielem nicht so gut zurechtkam, weil sie nämlich in erster Linie – ein Kind ihrer Zeit – den Einzelkaufmann vor Augen hatte und vielleicht nicht so sehr die Aktiengesellschaft, die GmbH, die Unternehmen, die wir dann im 20. Jahrhundert haben.
SPRECHER
Denn mit zunehmender Größe und Komplexität der Unternehmen braucht man eben im Insolvenzfall andere Regelungen.
Musik 11
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'57
SPRECHER
Die Konkursordnung war aber auch sehr lange in Kraft. 1935 kam die sogenannte Vergleichsordnung hinzu, aber einen ganz neuen Rahmen für Firmenpleiten gab es erst 1999, also 120 Jahre später.
25 O-TON (Kunstreich)
Da sind wir nach der Wiedervereinigung, da musste ja sozusagen dafür gesorgt werden, dass wir einen einheitlichen Rechtsraum haben mit den neuen Bundesländern. Aber die Kritik an der alten Konkursordnung hat eigentlich schon in den 1970ern eingesetzt.
SPRECHER
Aus mehreren Gründen. Zum einen hatten sich Firmen stark verändert. Nicht nur waren neue Rechtsformen hinzugekommen, sondern auch die Unternehmen selbst wandelten sich. Statt Fabrikhallen mit vielen Maschinen oder großen Fuhrparks, die man im Falle einer Pleite veräußern kann, wurden Dienstleistungen und immaterielle Güter immer wichtiger.
26 O-TON (Paulus)
Know-how spielt eine Rolle, Goodwill, Charisma. Und das sind Werte, die kann ich nicht wirklich gut auf dem Markt verkaufen. Wie soll ich Know-how verkaufen? Ich kann nicht aus ihrem Hirn herausschneiden, wie man eine Software entwickelt oder wie man eine KI entwickelt, und das bei Ebay an den Meistbietenden verkaufen, das geht nun mal nicht.
SPRECHER
Gleichzeitig zeigte der Bankruptcy Code, der 1979 in den USA in Kraft trat, wie ein modernes Insolvenzrecht aussehen kann. Das veränderte den Blick auf Unternehmenspleiten weltweit.
27 O-TON (Paulus)
Was jetzt mal, historisch gesehen, völlig überraschend ist, dass eine neue juristische Erfindung auf den Markt kommt und innerhalb von wenigen Jahrzehnten praktisch die gesamte Welt erobert. Und das ist der Fall mit dem Reorganisationsverfahren, mit dem berühmten Chapter-Eleven-Verfahren.
SPRECHER
Das Chapter Eleven, also das elfte Kapitel, ist Teil der US-amerikanischen Insolvenzordnung. Es bietet einer Firma eine Reihe von Möglichkeiten, sich im Rahmen der Insolvenz neu zu strukturieren. Ungünstige Verträge etwa, zum Beispiel über hohe Stromkosten, können neu ausgehandelt werden. Es räumt dem Unternehmer, der Unternehmerin also weitreichende Rechte ein. Das Ziel ist, dass die Firma wieder eine wirtschaftliche Perspektive bekommt – und das macht oft auch für Gläubigerinnen und Gläubiger Sinn. Vor allem, wenn es sich um Dienstleistungsfirmen handelt, wo nach einem Ausverkauf nicht viel zu verteilen wäre. Deshalb stimmen sie der Sanierung meist zu, selbst wenn sich ihre Konditionen verschlechtern.
28 O-TON (Paulus)
Das tun sie nicht deswegen, weil sie jetzt so besonders humanistisch gesinnt und die christliche Nächstenliebe entdeckt hätten, sondern das tun sie deswegen, weil das ökonomische Kalkül ihnen sagt: Wenn wir an unser Geld rankommen, müssen wir in den sauren Apfel beißen und müssen dem Schuldner auf die Beine helfen.
SPRECHER
Nach dem Vorbild der USA wurden die Insolvenzordnungen mittlerweile in vielen Ländern umgestaltet oder zumindest angepasst.
Musik 12
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'42
SPRECHER
In Deutschland trat die neue Insolvenzordnung 1999 in Kraft. Sie sieht unter anderem eine mögliche Restschuldbefreiung, also einen Schuldenerlass vor, um Schuldnern einen wirtschaftlichen Neustart zu ermöglichen. Denn Einzelunternehmer oder Inhaberinnen kleinerer Personengesellschaften haften bei einer Pleite oft mit ihrem Privatvermögen. Außerdem ermöglicht die neue Insolvenzordnung die Sanierung von Unternehmen. Einige Reformen aus den letzten Jahren haben das noch weiter vereinfacht. Zum Beispiel bestimmt heute nicht mehr unbedingt das Gericht den Insolvenzverwalter oder die Insolvenzverwalterin.
29 O-TON (Kranzusch)
Seit 2012 haben wir erstmalig die Möglichkeit, dass der Schuldner selber im Vorfeld einen Insolvenzverwalter sich aussucht und diesen Insolvenzverwalter dann beauftragt, ein Sanierungskonzept zu erstellen. Das ist dann das sogenannte Schutzschirm-Verfahren.
SPRECHER
Das Ziel ist, möglichst frühzeitig umzusteuern und nicht immer weiter zu warten, bis die Pleite da ist. Das gilt auch für die Reform, die 2021 auf Druck der EU umgesetzt wurde.
30 O-TON (Paulus)
Es muss am Horizont bereits das rote Licht flackern, das rote Licht der Insolvenz. Aber es ist noch genug Verhandlungsspielraum da, dass ich jetzt als Schuldner zu meinen Gläubigern sagen kann: Wir setzen uns zusammen und versuchen mal, ob ich meine Rettung schaffen kann mit euch.
SPRECHER
Neu daran ist, dass der Schuldner, die Schuldnerin sich die Gläubiger aussuchen kann – und ganz wichtig: Es gilt nicht mehr das Prinzip der Einstimmigkeit, sondern es reicht, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Gläubiger den neuen Konditionen zustimmt. Die überstimmten Gläubiger müssen sich der Mehrheit fügen. Wenn man so will, hat sich die deutsche Insolvenzordnung also der US-Amerikanischen immer weiter angenähert. Mehr als in früheren Zeiten geht es darum, der Unternehmerin, dem Unternehmer wieder auf die Beine zu helfen. Das hat implizit auch das Verhältnis zwischen Schuldnern und Gläubigern verändert.
Musik 13
"Humankind" - Album: Shock Waves - Komponistin und Ausführende: Ulrike Haage - Länge: 0'46
SPRECHER
Über den ganz langen Zeitverlauf betrachtet, kann man sagen: Es gab eine enorme Machtverschiebung zugunsten des Schuldners.
31 O-TON (Paulus)
Am Anfang das Zwölftafelgesetz: Die Gläubiger sind völlig entrüstet über den Schuldner, der nicht bezahlt und schneiden den in Stücke. Und heute der Schuldner, der zu den Gläubigern hingeht und sagt: Freunde, wir setzen uns jetzt mal zusammen und verhandeln darüber, dass ich aus der Insolvenz rauskomme, also es ist schon ein Machtinstrument in der Hand des Schuldners.
SPRECHER
Ein Machtinstrument in der Hand des Schuldners, von dem aber – wenn alles gut geht – letztlich alle profitieren.
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