In aller Ruhe

„Nicht reformfähig“ – Georg Essen über die katholische Kirche


Listen Later

Die katholische Kirche in Deutschland ist in der Krise: sinkende Mitgliederzahlen, der Missbrauchsskandal und gesellschaftspolitische Positionen, die nicht mehr das Lebensgefühl urbaner und junger Menschen ansprechen. Vor allem beim Umgang mit Queerness, der Rolle der Frau und dem Zölibat scheint eine Modernisierung überfällig. Aber: Warum tut sich die katholische Kirche damit so schwer? Und was bedeutet es überhaupt in einer säkularen Welt zu glauben?

In der neuen Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit dem Theologen Georg Essen. Er ist 1961 in Kevelaer am Niederrhein geboren. Er studierte von 1981 bis 1987 in Münster und Freiburg Katholische Theologie und Geschichte. 1994 wurde er „summa cum laude“ zum Dr. theol. an der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster promoviert. Titel der Dissertation: „Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit“. 1999 habilitierte er sich mit der Arbeit „Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie“ Seit 2021 ist er Direktor des Zentralinstituts für Katholische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.

„Was hat mich in Lebenskrisen getragen?“

Was bedeutet für Georg Essen „glauben“? „Was hat mich eigentlich in Lebenskrisen wirklich getragen, wenn wirklich kein Ende in Sicht war, kein Licht am Ende des Tunnels?“ Seine Erfahrung: „Ich kann es nicht gewesen sein. Ich habe mich selbst mehrfach in meinem Leben als sehr schwach und vor allen Dingen sehr angstbesetzt erfahren. “ Und „dann gibt es einige Religionen, die diesen tragenden Grund „Gott“ nennen.“

Und einen solchen, gesellschaftlichen Trost hat er von den Kirchen in Deutschland während der Corona-Zeit vermisst: „Mir fehlte ein großes Symbol, ein großes gesellschaftlich-öffentliches Wort. Da ich schon denke: Die Kirchen hätten sprechen können und Trost stiften.“ Das könne auch die Rolle von Religion in einer säkularen Gesellschaft sein: „Dieser Trost, der etwas stillen soll, was wir einander nicht geben können.“ Auch wenn das früher mal so war, aber: „Das Christentum ist keine Leitkultur in unserer pluralen heutigen Gesellschaft.“ Gleichzeitig sagt Essen auch: „Es ist zwar der Kipppunkt erreicht, was die Mitglieder der beiden Großkirchen angeht. Deren Anteil liegt jetzt ungefähr bei 50 Prozent. Das ist ein rasanter Rückgang. Aber es sind ja immerhin noch 50 Prozent. Und das ist sehr viel.“

„Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes“

„Der christliche Glaube hat ein wirklich erhebliches, strukturelles Problem: Das Problem ist, dass seine Wahrheit ja nicht in einem Buch, in einer Lehre seinen Niederschlag gefunden hat. Das ist sekundär. Das Primäre ist, dass die Wahrheit gebunden ist an ein geschichtliches Ereignis, nämlich an die Person des Jesus von Nazareth“, sagt Georg Essen. Und daraus folge ein Dilemma: „Das große Dilemma des christlichen Glaubens ist, dass seine Wahrheit eigentlich eine Wahrheit in der Vergangenheit ist. Über 2000 Jahre zurück.“ Das heißt: „Kirche ist in dem Sinne nichts anderes als die institutionalisierte Form einer Erinnerungs- und Erzähl-Gemeinschaft.“

Die Kirche müsse „religionsintern eine Antwort über die Würde der Frau und über Homosexualität finden.“ Und: „Empirisch, würde ich tatsächlich sagen, entscheidet sich alles dran. Der Laden bricht auseinander.“ Für Essen gibt die Bibel darauf aber eine Antwort: „Ein jeder Mensch ist das Ebenbild Gottes. Ein jeder Mensch, ohne jede Ausnahme. Und Menschen finden sich vor in ihrer Geschlechtlichkeit, in ihrer Queerness. Und das alles zu dämonisieren oder zur Sünde zu erklären, ist ein Frevel.“ Allzu viel Optimismus auf eine schnelle Modernisierung mag er aber fürs Erste nicht verbreiten: „Der Laden ist nicht wirklich reformfähig und -willig.“

Für die Zukunft wünscht sich Georg Essen, „dass diese Kirche meine Heimat bleibt.“

Empfehlung von Georg Essen

Georg Essen empfiehlt: „Fabelhafte Rebellen - Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ von Andrea Wulf, erschienen bei C. Bertelsmann. „Das ist eine Mikro-Studie über eine bestimmte Zeit in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in Jena, in der alle Geistesgrößen von Schiller, von Fichte, von Humboldt da waren.“ In dieser Zeit liegen laut Essen die „Ursprünge unseres heutigen Freiheitsdenkens.“ Und: „Es ist unglaublich lebendig zu lesen, wie Menschen nicht nur über Freiheit nachdenken, sondern Freiheit emanzipatorisch leben – vor allen Dingen auch endlich mal die Frauen.“

Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche

Produktion und Sounddesign: Justin Patchett

...more
View all episodesView all episodes
Download on the App Store

In aller RuheBy Süddeutsche Zeitung & Carolin Emcke

  • 5
  • 5
  • 5
  • 5
  • 5

5

1 ratings


More shows like In aller Ruhe

View all
Essay und Diskurs by Deutschlandfunk

Essay und Diskurs

22 Listeners

WDR 5 Das philosophische Radio by WDR 5

WDR 5 Das philosophische Radio

26 Listeners

Studio 9 - Der Tag mit ... by Deutschlandfunk Kultur

Studio 9 - Der Tag mit ...

10 Listeners

Das Thema by Süddeutsche Zeitung

Das Thema

33 Listeners

Auf den Punkt by Süddeutsche Zeitung

Auf den Punkt

80 Listeners

Lakonisch Elegant by Deutschlandfunk Kultur

Lakonisch Elegant

9 Listeners

OK, America? by ZEIT ONLINE

OK, America?

98 Listeners

Das Politikteil by ZEIT ONLINE

Das Politikteil

86 Listeners

Piratensender Powerplay by Samira El Ouassil, Friedemann Karig

Piratensender Powerplay

13 Listeners

Die sogenannte Gegenwart by ZEIT ONLINE

Die sogenannte Gegenwart

30 Listeners

Sternstunde Philosophie by Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)

Sternstunde Philosophie

21 Listeners

FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinic by hr

FREIHEIT DELUXE mit Jagoda Marinic

8 Listeners

Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz by taz

Bundestalk - Der Politik-Podcast der taz

6 Listeners

Der Ostcast by ZEIT ONLINE

Der Ostcast

8 Listeners

Was liest du gerade? by ZEIT ONLINE

Was liest du gerade?

4 Listeners