In aller Ruhe

„Putin is paranoid“ – Masha Gessen bei Carolin Emcke über mögliche und unmögliche Exit-Strategien der Ukraine


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Russland führt den Krieg gegen die Ukraine weiterhin mit unverminderter Härte fort. In diesem Winter meldete die Ukraine die heftigsten Drohnenangriffe seit Beginn des Krieges. Die westlichen Sanktionen scheinen Putins Macht nicht zu untergraben. Wie funktioniert das System Putin? Und wie fühlt es sich an, auf der russischen Fahndungsliste zu stehen? Darüber spricht Carolin Emcke in dieser Folge von „In aller Ruhe“ mit Masha Gessen. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.

Masha Gessen, 1967 in Moskau geboren, emigrierte Anfang der 1980er-Jahre mit ihren Eltern in die USA. Nach dem Ende der Sowjetunion kehrte Gessen nach Russland zurück, um dort journalistisch tätig zu sein. Gessen identifiziert sich selbst als non-binär. Aufgrund der zunehmend repressiven Politik in Russland folgte 2013 die Rückkehr in die USA. Gessen gilt als eine der eloquentesten Stimmen der Opposition gegen Wladimir Putin. Gessen ist mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award (2017), dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2019) sowie dem Hannah-Arendt-Preis (2023). Dieser Verleihung ging ein Eklat in Deutschland voraus, weil Gessen in einem Essay für den New Yorker das Warschauer Ghetto während des Nazi-Regimes mit der aktuellen Situation im Gazastreifen verglichen hat. Für Kritiker eine unzulässige Relativierung des Holocausts.

„Es wird immer ein Gesetz geben, das sie gegen dich verwenden können.“

Masha Gessen ist in Russland angeklagt, der fingierte Grund: Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee. Konkret geht es darum, dass Gessen gesagt hat, dass die mehr als 400 getöteten Zivilisten des Massakers von Butscha von russischen Soldaten ermordet wurden. Russland behauptet, dass die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen auf die Straßen des Kiewer Vororts gelegt wurden. Satellitenbilder beweisen das Gegenteil. „Russland benutzt das Gesetz wie viele zeitgenössische Autokratien“, sagt Gessen. Nicht im Sinne eines Rechtsstaates, sondern zur Einschüchterung: „Es wird immer ein Gesetz geben, das sie gegen dich verwenden können.“

Diese Anklage habe letztlich drei Konsequenzen: „Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich nie wieder nach Russland zurückkommen können.“ Eigentlich habe Gessen am ersten Tag nach Putin ins Flugzeug steigen wollen – „Es ist meine Heimat“ –, aber nun sei nicht zu erwarten, dass das je wieder möglich sein werde. Die zweite Konsequenz: Es gebe eine Reihe von Ländern, in denen enge Freunde und Bekannte leben, in die Gessen nicht mehr reisen könne, weil sie an Russland ausliefern – oder Menschen von dort verschleppt und in russische Gefängnisse gebracht werden. „Das ist ein großer Teil der Welt.“ Die dritte Konsequenz betreffe die Länder, die nicht ausliefern, wie zum Beispiel jene in der EU. Aber: „Das sind Länder, in denen Russland Auftragsmörder hat.“ Es sei „kein gemütliches Gefühl, auf der Wanted-Liste Russlands zu stehen“.

„Putin kann man nicht vertrauen.“

Bei der Analyse des Ukraine-Kriegs fällt Gessen eine Asymmetrie der Ausgangslagen auf. „Für Putin ist alles tolerabel, was keine völlige Niederlage ist, wie es der Verlust der Krim wäre.“ Die Konsequenz: „Er kann den Krieg auf unbestimmte Zeit führen.“ Für die Ukraine sei das Gegenteil richtig. „Sie kann den Krieg nur solange führen, wie sie noch Soldaten und die westliche Unterstützung hat – und beides läuft aus.“ Das spielt dem Kreml in die Karten, der keine Exitstrategie braucht und nicht verhandeln wolle. Die Forderungen an die Ukraine, in Friedensverhandlungen einzutreten, seien daher letztlich „unmoralisch“, sagt Gessen. Denn die Forderung, Territorium aufzugeben, bedeute nicht lediglich einen Gebietsverlust für die Ukraine, sondern: „Was man damit sagt, ist: Kannst du nicht deine Cousine, deine Tante, deinen Bruder der russischen Folter preisgeben?“ Denn: „Genau das passiert unter russischer Besatzung durchweg.“

Zudem sei selbst in dem unwahrscheinlichen Szenario, dass Putin bereit wäre zu verhandeln, keine stabile Situation zu erwarten. „Putin kann man nicht vertrauen.“ Seine Ambitionen, die Ukraine einzugliedern, „sind ja bekannt“. Das würde also einen endlos eingefrorenen Krieg bedeuten. „Vielleicht ist ein eingefrorener Krieg besser als ein heißer Krieg – aber es ist nicht sehr viel besser“, sagt Gessen.

Empfehlung von Masha Gessen

Masha Gessen empfiehlt: „Fellow Travelers“, in Deutschland auf Amazon Prime zu sehen. Die Acht-Episoden-Miniserie begleitet ein homosexuelles Paar von der McCarthy-Ära bis zur Zeit der Aids-Epidemie. „Das ist eine der wenigen Serien, die es schaffen, politisch und psychologisch klug von unseren schlechtesten Tendenzen zu erzählen.“

Moderation: Carolin Emcke

Redaktionelle Betreuung: Johannes Korsche

Produzent: Imanuel Pedersen

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In aller RuheBy Süddeutsche Zeitung & Carolin Emcke

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