In aller Ruhe

„Strategische Quecksilbrigkeit“ – Nicole Deitelhoff bei Carolin Emcke über die Rolle des Westens im Ukraine-Krieg


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Seit dem 24. Februar 2022 herrscht Krieg in der Ukraine, seit 15 Monaten. Dabei sollte die russische Invasion, zumindest in der Vorstellung des Kremls, schnell wieder vorbei sein. Kiew sollte innerhalb weniger Tage besetzt sein, die Ukraine überrannt werden. Doch das Kriegsgeschehen hat sich in einen Abnutzungskrieg entwickelt. Mit zähen, langen und verlustreichen Kämpfen um einzelne Städte wie Bachmut. Wie blickt eine Friedens- und Konfliktforscherin auf diesen Krieg?

In der achten Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Nicole Deitelhoff. Deitelhoff, geboren 1974 in Eutin in Schleswig-Holstein, ist Leiterin des Leibniz-Institut Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, das die Ursachen internationaler und innerstaatlicher Konflikte analysiert und Wege sucht, diese Konflikte zu lösen. Sie gibt das jährliche „Friedensgutachten“ mit heraus, das mit Empfehlungen an die Bundesregierung weitergegeben wird. Deitelhoff studierte Politikwissenschaft, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt sowie Political Science an der State University of New York at Buffalo.

„Szenen, wie man sie eher von der Westfront im Ersten Weltkrieg kennt“

Hinter dem Handeln des russischen Präsidenten Wladimir Putin kann sie ein rationales Kalkül erkennen: „Nehmen wir mal an, es wäre tatsächlich innerhalb von fünf bis sieben Tagen der Sturm auf Kiew gelungen. Dann hätte Russland faktisch, wie Putin es ja auch vermutlich kalkuliert hat, die entsprechenden öffentlichen Strukturen unterwandern können und dann die Angleichung oder die Einvernahme der Ukraine durch Russland bewerkstelligen können. Das wäre alles noch logisch gewesen.“ Aber: „Dass es ein landbasierten Panzerkrieg geben würde – und das ist so einer – damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Das habe ich eigentlich für faktisch ausgeschlossen gehalten.“

Über das Kriegsgeschehen sagt Deitelhoff: „Das sind Szenen, wie man sie eher von der Westfront im Ersten Weltkrieg kennt. Also wirklich: Insbesondere bei den Wagner-Truppen, die über den Körpern ihrer toten Kameraden versuchen, weitere Gebietsgewinne zu machen. Und die fallen einer nach dem anderen. Das sind wirklich schreckliche Bilder.“

Der Krieg in den Medien als „postmodernes Spiel“

Die mediale Beobachtung und der Diskurs über den Krieg gegen die Ukraine blende sehr viele wichtige Themen aus: „Die Frontlinie ist ja nur die Spitze, die wir sehen können, aber darunter verbirgt sich der komplette Unterbau. Es geht um die sozialen Verhältnisse in den jeweiligen Konfliktparteien, um Verteilungsfragen, es geht um Ressourcen. Und das kommt in der Tat sehr, sehr kurz.“ Stattdessen erkennt Deitelhoff im Diskurs über den Krieg, „eine Art postmodernes Spiel, das wir beobachten und bei dem wir ein unterschiedliches Team anfeuern. Und wir schauen eben deswegen auch nur auf diese direkte Konfrontation zwischen den Teams.“

In der Debatte um ein Kriegsende nimmt Deitelhoff wahr, dass zwei Ebenen vermischt werden: „Ich würde sagen: Strategische und taktische Fragen werden direkt mit Moral aufgeladen und können dadurch eben nicht mehr getrennt behandelt werden. Das ist ein großes Problem. Also ich kann nicht über strategische Bedeutung sprechen, ohne dass ich gleichzeitig dazu Stellung nehmen muss, ob die Ukraine gewinnen oder verlieren muss.“ Die Folge: eine „moralische Durchdringung von eigentlich analytischen Fragen, die dazu führt, dass wir bestimmte Bedingungen gar nicht mehr diskutieren können.“ Zum Beispiel: „Wir können eigentlich nicht mehr darüber sprechen, dass wir ganz unterschiedliche Enden von Kriegen kennen. Und dass wir viel darüber wissen, was in Kriegen passieren muss und gegeben sein muss, dass es zu einem Ende kommt. Wir haben diese Expertise, aber es ist kaum möglich, sie auf den Tisch zu legen und nüchtern darüber zu sprechen.“

Wie dieser Krieg enden kann? Und warum es selten „gerechte Frieden“ gibt – darüber spricht Nicole Deitelhoff in dieser Folge.

Empfehlung von Nicole Deitelhoff

Nicole Deitelhoff empfiehlt die Horror-Serie „Midnight Mass“, 7 Folgen auf Netflix. Eine Serie, „die mich nicht loslässt“. In der Serie vollbringt ein junger Priester in einem Fischereidorf Wunder und löst einen religiösen Eifer in dem sterbenden Städtchen aus. „Es geht um Schuld, Vergebung, Sühne und Verdammnis.“ Eine „Horrorserie, aber sie setzt kaum auf blutige Schockeffekt, sondern eher auf der Horror, der sich der sich aus dem Ungewissen, aus diesem nicht Sichtbaren ergibt.“ Und ohne zu viel zu spoilern: „Ich kann schon mal sagen, es ist nicht so eine Happy-End-Serie, aber sie ist fantastisch.“

Redaktionelle Betreuung, Text zur Folge: Johannes Korsche

Produktion: Imanuel Pedersen

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In aller RuheBy Süddeutsche Zeitung & Carolin Emcke

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