Eines Morgens ist alles anders. Anne Sauer beschreibt es so: „Es geht um Antonia oder Toni. Eine Figur, die plötzlich in einem anderen Leben aufwacht.“
In ihrem ersten Roman schickt Anne Sauer ihre Hauptfigur auf eine ungewöhnliche Reise. Eigentlich lebt Toni mit ihrer Langzeitbeziehung Jakob in einer hellhörigen Mietwohnung. Doch eines Tages wacht Antonia auf: in einer völlig anderen Wohnung. Mit einem anderen Mann. Adam.
„Sie ist scheinbar verheiratet mit ihrer Jugendliebe, was sie sehr irritiert, denn den hat sie eigentlich vor ganz vielen Jahren verlassen“, erzählt die Autorin. „Und sie hat ein Baby, was auf ihrer Brust liegt. Sie hat absolut keine Erinnerung daran, dass sie überhaupt dieses Leben geführt haben soll, wie es zu dieser Geburt kam und das ist ein großer Schockzustand zu Beginn…“
Dramaturgisch klar aufgebauter Roman
So wird eine junge Frau plötzlich hineingeworfen, in dieses Leben nebenan. „Im Leben nebenan“ heißt Anne Sauers Debütroman. Anne Sauer, Sie kennen sie vielleicht aus dem Bücher-Kosmos im Internet. Dort empfiehlt sie im Podcast „Monatslese“ Lektüren. In den Sozialen Medien postet Anne Sauer Kurzrezensionen zu Büchern. Und jetzt? Jetzt ist sie selbst Romanautorin geworden.
Ihren Erstling hat Anne Sauer dramaturgisch klar strukturiert. Die Kapitel erzählen im Wechsel von Antonia und Toni. Die gleiche Frau, die eines Tages in einem Leben aufwacht, in dem sie an der ein oder anderen Stelle eine andere Entscheidung getroffen hat.
Was wäre, wenn…?
Ein Gedankenexperiment, das die Frage voranstellt: „Was wäre, wenn…?“ Eine Frage, die sich wohl jeder schon über das eigene Leben gestellt hat, genau wie die Autorin selbst:
„Ich habe das früher noch mehr gemacht und dieses Gedankenexperiment dann auch immer freudig fortgeführt. Mittlerweile entscheide ich mich auch einfach schneller und mache das dann einfach. Also, ich habe ein bisschen mehr Mut gewonnen, aber ich liebe das, ab und zu in dieser ‘Was wäre, wenn‘-zukunftsgerichteten Version meines Lebens, zu versinken.“
Die Geschichte beginnt mit einem Schicksalsschlag
Die berühmte andere Abzweigung auf dem Pfad des Lebens, ja was wäre, wenn man die entlanggegangen wäre? Ein Leben im Konjunktiv – und das dekliniert Sauer an Toni/Antonia durch.
Dabei springt sie nicht unbedingt sanft mit dem Leben ihrer Hauptfigur um. So beginnt Tonis Geschichte mit einem Schicksalsschlag.
Niemand sonst ist im Raum, als ich die Toilettentür zuziehe, schon ganz zittrig den Riegel vorschiebe. Niemand kriegt mit, wie ich meine Jeans aufknöpfe, wie ich beim Anblick des rotbraunen Streifens auf dem Slip sofort die Augen schließe. Warum ist da jetzt Blut. Im Hals nur Enge. Bitte, bitte nicht.“
Quelle: Anne Sauer – Im Leben nebenan
Schwerpunktthema: Mutterschaft
Toni erleidet eine Fehlgeburt. Als Antonia aber wacht sie mit Baby Hanna im Arm auf. Ganz klar: Anne Sauer hat ein Schwerpunktthema. Toni/Antonia beschäftigt nicht das „Was wäre, wenn… ich die Ausbildung bei der Sparkasse angetreten wäre?“ oder „Was wäre, wenn… ich 2011 in Bitcoin investiert hätte“? Sondern, in erster Linie, das Thema Mutterschaft.
Die Autorin erzählt: „Mich hat gereizt, diese zwei sehr kontrastreichen Lebensrealitäten abzubilden: die einer Mutter fünf bis sechs Wochen nach der Geburt und die einer Person, die an dem Kinderwunsch zu scheitern droht. Und was passiert mit denen?“
Trifft Toni ihre Entscheidungen selbst?
In „Im Leben nebenan“ zeigt Sauer zwei Lebensentwürfe: Baby und kein Baby. Freiwillig oder unfreiwillig verschwimmen Lebenswege, die nicht nur von Toni/Antonias inhärenten Wünschen geprägt werden, sondern stark vom Umfeld der Hauptfigur beeinflusst sind. Da redet die Schwiegermutter mit, die Gynäkologin, die Freundin.
»Ich glaub, du wärst ’ne tolle Mutter.« Der erste Stich, aber noch geht’s. »Wahrscheinlich passiert’s, wenn ihr es nicht mehr aktiv versucht.«
Quelle: Anne Sauer – Im Leben nebenan
Auch der frühe Tod der eigenen Mutter quält Toni/Antonia. „Das ist eigentlich etwas, wo Toni irgendwann an den Punkt kommt, dass sie denkt, ich hätte sie fragen sollen. Wie war das damals bei dir?“, erzählt Anne Sauer über ihre Hauptfigur. „Aber diese Fragen – die sind in beiden Welten ein bisschen unterschiedlich, weil eben beide Figuren oder beide Frauen in ganz anderen Situationen sich wiederfinden.“
Ob mit Baby oder ohne – Sauers Protagonistin muss ihren Platz im Leben immer wieder neu verhandeln. In der Beziehung, beruflich. Trotzdem, „Im Leben nebenan“ ist kein Selbsthilfebuch, kein Ratgeber. „Nee, absolut nicht,“ lacht Sauer. „Es ist schon ein Roman, es ist eine reine Fiktion. Und das liegt mir völlig fern, einen Ratgeber zu schreiben.“
Der Text antwortet nicht, sondern fragt
Antworten auf die große Frage, auf das „Was wäre, wenn?“, die bekommen wir in „Im Leben nebenan“ leider keine. „Es sind mehr Fragen, die ich im Text stelle – die die Figuren sich stellen – und damit ja auch die Leser stellen können. Aber alle für sich selbst. Und das habe ich jetzt auch schon gemerkt, das ist ganz interessant: Jeder zieht da so ein bisschen was Eigenes raus.“
Muttersein ist ein zeitgemäßes Literaturthema
Ja, was wäre, wenn…? Was wäre, wenn dieses Debüt an der ein oder anderen Stelle ein wenig mehr Fabulier-Lust gezeigt hätte? Was wäre, wenn die Autorin ihre Erzählung sich nicht am literarischen Trendthema „Mutterschaft“ festbeißen hätte lassen und sie den Bogen größer gespannt hätte, sich nicht einreihend in die vielen guten dieses Sujet-erkundenden Romane von Bettina Wilpert, Linn Strømsborg, Antonia Baum, Mareice Kaiser,… Ja, was wäre dann?
Das lässt sich einfach beantworten: dann wäre es ein anderer Roman geworden.
Der Roman spricht junge Frauen im ersten Lebensdrittel an
Anne Sauers „Im Leben nebenan“ ist ein lesenswertes Debüt. Spielerisch experimentiert Sauer mit dem Leben ihrer Protagonistin, Toni, die dabei ein Avatar für die Unsicherheiten vieler junger Frauen im späten ersten Lebensdrittel wird.
Endgültige Antworten kann das Toni-Antonia-Wechselspiel nicht geben. Denn manche Entscheidungen, die treffen wir selbst – und dann gibt es noch solche, die das Leben für uns trifft.
„Was wäre, wenn…?“ ist eben eine große Frage, auf die wir hier literarisch keine Antwort finden – muss ja aber auch nicht sein, denn Stoff für ein unterhaltsames Gedankenspiel bietet sie allemal.