In aller Ruhe

„Toxische Objekte“ – Léontine Meijer-van Mensch bei Carolin Emcke über Kolonialismus und Museen


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Wer ethnologische Museen besucht, der taucht ein in eine ihm unvertraute Welt. In andere Kulturen und Kontexte. Und doch – so verschieden die jeweiligen Ausstellungen auch sein mögen – verbindet sie eines: eine oftmals von Kolonialismus geprägte Herkunft der Gegenstände. Wie damit umgehen? Und was für ein Ort kann das Museum in unserer Gesellschaft sein?

In der fünften Folge von „In aller Ruhe“ spricht Carolin Emcke mit Léontine Meijer-van Mensch. Meijer-van Mensch, geboren 1972 in Hilversum in den Niederlanden, ist Direktorin des „Grassi Museums für Völkerkunde zu Leipzig“. In der Sammlung des Leipziger Museums befinden sich etwa 200 000 Objekte, es ist eine der größten ethnologischen Sammlungen in Deutschland. Meijer-van Mensch studierte „Neue und Theoretische Geschichte“ und „Jüdische Studien“ in Amsterdam, Jerusalem und Berlin sowie „Schutz Europäischer Kulturgüter“ mit Schwerpunkt Museologie in Frankfurt (Oder). Bevor sie Leiterin des Grassi Museums wurde, war sie unter anderem Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin.

„Mit was für einer kolonialen Perspektive schauen wir immer noch auf auf die Welt?“

Museen sind für Léontine Meijer-van Mensch „inklusive Orte für kritischen Dialog“. Mehr noch: Museen könnten neben Arbeitsplatz und Wohnung ein sogenannter „dritter Ort“ sein. Der Ort, wo die Gesellschaft sich trifft, wie am Dorfbrunnen. Das Museum als „gesellschaftliche Dorfpumpe, wo wir tatsächlich Demokratie verhandeln“.

Gerade ethnologische Museen könnten einen wesentlichen Beitrag zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes leisten, indem sie „dort anfangen, wo es am meisten wehtut.“ Bei den Fragen: „Wie haben wir gesammelt, kategorisiert und Kulturen in Schubladen gesteckt und mit was für einer kolonialen Perspektive schauen wir immer noch auf auf die Welt?“ Deshalb gehöre es zu den Kernaufgaben von Sammlungen und Museen „sich über die Erwerbskontexte Gedanken zu machen. Es geht nicht mehr ohne das – und glücklicherweise, würde ich sagen.“ Das beginne schon bei dem „semi-neutralen Wort: Erwerb.“ Hinter dem sich oftmals eine koloniale Geschichte verbirgt. Aber: „Da steht dann erworben und fertig.“

„Da sind auch Tränen geflossen, weil es so schön war“

Das Traurige an ethnologischen Objekte sei, dass sie ihrem ursprünglich häufig performativen, rituellen Kontext entrissen wurden, so Meijer-van Mensch. Und den verlieren sie natürlich, wenn sie im Museum ausgestellt werden. „Warum Objekte nicht viel stärker in einem Community-Kontext wieder benutzen?“ Sofern es die nachträgliche, konservatorische Behandlung der Stücke ermögliche. Aber es bleibt dann für Meijer-van Mensch die Frage: „Was geben wir dann zurück? Im doppelten Sinne des Wortes häufig: toxische Objekte.“

Als Ende Dezember 2022 die ersten „Benin Bronzen“ an Nigeria zurückgegeben wurden, saß Meijer-van Mensch im Flugzeug mit Außenministerin Annalena Baerbock. „Wir als Institution haben ein Ritual-Schwert, einen Ahnenstab und einen Gedenkkopf zurückgegeben. Sehr wertvolle – kulturell bedeutsame und nicht wertvolle im merkantilistischen Sinne – sondern kulturell bedeutsame Artefakte.“ Es sei sehr bewegend gewesen: „Da sind auch Tränen geflossen, weil es so schön war.“

Empfehlung von Leontine Meijer-van Mensch

Léontine Meijer-van Mensch empfiehlt: „Wo die Fremde beginnt – Über Identität in der fragilen Gegenwart“ von der Journalistin Elisabeth Wellershaus, erschienen im C.H. Beck Verlag. „In ihrem Buch erforscht Wellershaus Kontexte, in denen Fremdheit sich nicht gleich auf den ersten Blick erschließt: in Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, Nachbarschaften, der Familie – in unmittelbarer Nähe. Sie erzählt von unentschlossenen Biografien, komplexen Identitäten und verknüpft die Weltwahrnehmungen anderer mit eigenen“, kündigt der Verlag das Buch an. Für Meijer-van Mensch: Ein Buch, das die statische Grenze zwischen „Wir und die Anderen, zwischen was fremd und was nicht-fremd ist“ aufmacht. Und das Buch hat auch „meine Vision resoniert, was wir in diesen dritten Orten verhandeln müssen, die wir jetzt noch ethnologische Museen nennen.“

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In aller RuheBy Süddeutsche Zeitung & Carolin Emcke

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