Machen Städte krank? Tatsächlich ist der Mensch evolutionsbedingt nicht für ein dauerhaftes Zusammenleben auf engem Raum geschaffen. Die Wissenschaft sucht nach (Aus)Wegen für ein gutes Leben in der Stadt. (BR 2021)
Autor/in dieser Folge: Lukas Grasberger
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Andreas Neumann, Andreas Dirscherl, Friedrich Schloffer
Technik: Roland Böhm, Monika Gsaenger
Redaktion: Thomas Morawetz
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Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Es gebe, sagt der Professor für Psychologie an der University of Oxford, ein seit
der Urzeit sehr tief in unserer Biologie verankertes Limit für die Anzahl der
Freunde, die ein Mensch haben kann.
O-Ton 2 Dunbar OV Sprecher
“Die Größe unserer sozialen Gruppen wird direkt vorbestimmt durch die Größe
unserer Gehirne. Wir haben dort eine nur begrenzte Anzahl von ,Slots' in
denen die Identitäten unserer näheren Mitmenschen Platz finden können.”
Dieses Konzept einer kognitiven Grenze für die Anzahl an Menschen, mit denen
eine Einzelperson soziale Beziehungen unterhalten kann - eine Zahl von
Individuen, von denen man den Namen und die wesentlichen persönlichen
Verhältnisse kennt - hat Robin Dunbar berühmt gemacht. Die sogenannte
“Dunbar-Zahl” von 150 hat längst Eingang in psychologische
Nachschlagewerke gefunden. Der Oxford-Forscher Dunbar sieht diese Zahl als
eine Funktion des Neocortex an, also eines Teils der Großhirnrinde, in der der
Mensch einen zusammenhängenden Eindruck seiner Umwelt entwickelt. Die
Großhirnrinde ist auch verantwortlich dafür, dass wir Angst wie Stress
emotional erleben. Und dieser Stress entsteht, wenn uns unser “Nächster” zu
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O-Ton 3 Dunbar OV Sprecher
"Du fährst zusammengedrängt in der U-Bahn, die Mitreisenden nerven dich,
rammen dir den Ellenbogen in die Seite, klauen dir die Zeitung oder das
Sandwich. Hier scheint sich ins Gegenteil zu verkehren, wozu sich
Menschenaffen ursprünglich zu Gruppen zusammengeschlossen haben: zum
Schutz vor Raubtieren. Der moderene Mensch muss Wege finden, mit diesem
sozialen Stress umzugehen.”
Ob in der Londoner U-Bahn, in New York oder München: Zu Beginn der
Corona-Krise schien der Großstadtstress wie weggefegt: Gähnende Leere auf
Straßen, in Bussen und Bahnen. Doch bald mussten die Bewohner der
Ballungsräume feststellen: Der Stress, der durch zu viele Menschen auf einem
Fleck entsteht, der so genannte Dichtestress: Er ist nicht weg. Er ist nur
woanders. Mangels geöffneter Lokale und Läden traten sich die Stadtbewohner
in den Parks und Naherholungsgebieten auf die Füße. Und auch der
Verkehrsstress hat allem Anschein nach letztlich nicht ab - sondern
zugenommen. Einer Greenpeace-Studie zufolge wird in deutschen Städten nun
deutlich mehr Auto gefahren, da viele Menschen nun öffentliche Verkehrsmittel
aus der Sorge vor Ansteckung meiden.
ATMO VERKEHRSLÄRM BERLIN kurz hoch, bleibt liegen
Dem Verkehrslärm auf der Spur ist die Berliner Klangforscherin Antonella
Radicchi von der TU Berlin. Sie hat sich auf die Bedeutung von Geräuschen für
die Stadtplanung spezialisiert. Radicchi führt auf so genannten Soundwalks, zu
Deutsch Klangspaziergängen, durch die Hauptstadt. Ergebnis dieser Streifzüge
ist eine Karte, die entspannende Orte ausweist – und solche die Lärmstress
verursachen. Einer der stressigsten Orte für Anonella Radicchi in dieser
Hinsicht: Die Leipziger Straße in Berlin-Mitte.
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ATMO VERKEHRSLÄRM nochmal kurz hoch
O-Ton 4 Antonella Radicchi, Stadtplanerin und Soundforscherin, TU
Berlin (OV schon drüber)Sprecherin
"Es ist wirklich ein Alptraum, da entlangzugehen. Man hat diese
wunderschönen Arkaden, und dann grenzen sie an eine so laute Straße. Dieser
überdachte Fußweg ist ein Sammelpunkt für Luft- und Lärmverschmutzung.
Die Luft zirkuliert nicht, deshalb strömen die Abgase zwar hinein – kommen
aber nicht mehr hinaus. Dasselbe gilt für den Lärm. Und der wird durch die
Decke und die Fassade sogar noch reflektiert – und wird immer lauter."
ATMO VERKEHRSLÄRM, MIT HUPEN
Oft rauben Staus auf der mehrspurigen Straße im Zentrum Berlins dem
Autofahrer den letzten Nerv. Auch in der österreichischen Hauptstadt Wien
stockte nach der ersten Coronaphase wieder oft der Verkehr. Dies habe nicht
nur mit der Sorge vor einer Corona-Infektion im Nahverkehr zu tun, sagt die
Wiener Verhaltensbiologin und Stadtforscherin Elisabeth Oberzaucher.
O-Ton 5 Elisabeth Oberzaucher, Verhaltensbiologin, Uni Wien
"Viele Menschen steigen in ihr eigenes Auto ein, weil sie der Meinung sind: da
haben sie ein System verstanden, da kennen sie sich aus..."
Denn das Auto garantiere ein abgeschlossenes Territorium und schütze
generell die Individualdistanz.
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Dass einem andere im städtischen Raum zunehmend auf die Pelle rücken, ist
mehr als eine persönliche Wahrnehmung: Offiziellen Statistiken zufolge nimmt
die Stadtbevölkerung zu. Im Jahr 2050 werden nach Berechnungen der
Vereinten Nationen 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Im
Großraum München lebt bereits heute eine Million Menschen mehr als zu
Beginn der 80er-Jahre. Es ist eine zunehmende Beengtheit, die - auch jenseits
von Infektionsängsten - als nervenaufreibend oder gar bedrohlich empfunden
wird – und für die Fachleute den Begriff “Crowding” ersonnen haben.
Und Crowding führt dann dazu, dass damit unterschiedliche negative
Konsequenzen verbunden sind, einfach deswegen, weil andere Menschen im
Der Mitmensch: Er ist im beengten städtischen Raum selten einfach nur da,
betont die Evolutionsbiologin Oberzaucher: Er bewegt sich – wie wir selbst -
von A nach B. Wir nehmen den Anderen aus dem Augenwinkel wahr,
berechnen bewusst oder unbewusst, wann und ob er unseren Weg kreuzt.
Oder spricht er uns womöglich sogar an?
"...und das führt dann relativ schnell zu einer kognitiven Überlastung. Also wir
können mit unserem Gehirn da gar nicht mehr mithalten, und das ist das,
worauf wir dann mit Stress reagieren, und was negative Konsequenzen für uns
Ab wann Menschen die zunehmende städtische Enge als Stress erleben - das
unterliege indes individuellen wie auch kulturellen Faktoren, betont
Oberzaucher. Davor, den Begriff “Dichte” zu eindimensional zu definieren,
warnt auch der Stadtforscher Christopher Boyko von der nordenglischen
Lancaster University. Dichte auf bloße Kennzahlen wie etwa Gebäude, Personen
oder Autos pro Quadratkilometer zu reduzieren - das greife zu kurz, sagt
O-Ton 9 Christopher Boyko, Stadtforscher, Lancaster University, engl,
“Unsere Wahrnehmung, ob es überfüllt ist, kann sehr stark von unseren
persölichen Erfahrungen abhägen. Vielleicht bin ich mit einer großen Familie in
beengten Verhältnissen aufgewachsen, oder einer Stadt, die immer schon
rammelvoll und hektisch war? Dann stresst mich das weniger. Wir haben die
Leute im Zuge einer unserer Forschungsarbeiten gefragt: Was ist für Sie hohe
Dichte, was verstehen Sie unter niedriger Dichte? Und die Breite der Antworten
war enorm. Manche sagten, bei zwei Häusern pro Hektar gehe für sie eine
starke Verdichtung an, bei anderen lag diese Zahl bei eintausend Häusern pro
Hektar. Manche von uns brauchen eine Art Schutzzone um sich herum, eine
Art Blase, die größer ist, als bei anderen. Und wenn jemand in diese Blase
eindringt, dann bekommen sie Beklemmungen, fühlen sich gestresst. Es kann
also sein, dass wir jeweils den gleichen Platz in einem Raum zur Verfügung
haben, ich mich damit gestresst fühle - und du dich nicht.”
Als Wissenschaftler, sagt Christopher Boyko, verfolge er einen ganzheitlichen
Ansatz bei der Bewertung urbaner Dichte.
Zusätzlich zu den üblichen Indikatoren dafür hat Boyko auch subjektive
Faktoren unter die Lupe genommen. Der britische Wissenschaftler spricht hier
von “wahrgenommener Dichte”. Für das Forschungsprojekt "lebenswerte
Städte" hat sein Team von der Lancaster University nicht nur "harte Zahlen"
ausgewertet, sondern Dichte auch in Beziehung zur so genannten Deprivation
gesetzt. Also: gibt es in einem Stadtviertel eine Benachteiligung, gibt es
Mängel in Punkto Gesundheit, Bildung oder hohe Arbeitslosigkeit?
O-Ton 10 Boyko OV Sprecher
“Dabei stachen zwei erstaunliche Erkenntnisse heraus: In Gegenden mit hoher
Dichte und niedriger Deprivation fühlten sich die Menschen am wohlsten:
Solche Gegenden schnitten gut bei der Walkability ab, also der
Fußgängerfreundlichkeit. Dichte wirkte dort positiv - und führte dazu, dass
Bewohner mehr Möglichkeiten hatten, zu Geschäften zu kommen, fußläufig
Gelegenheiten fanden, im öffentlichen Raum zu spielen, oder weiter mobil zu
sein: etwa einen Bus oder einen Zug zu erreichen. Dadurch, dass mehr
Menschen auf der Straße waren, waren sie auch aufmerksamer, was in ihrer
Umgebung passiert - und hatten ein Auge auf potenzielle Störenfriede oder
Kriminelle. Es gab dort im Gegensatz zu Gegenden mit geringer Dichte ein
spezifisches Gemeinschaftsgefühl.”
Dagegen, betont Boyko, war der Wohlfühlfaktor in Gegenden mit geringer
Dichte, aber vielen Benachteiligungsfaktoren am niedrigsten.
O-Ton 11 Boyko OV Sprecher
“Die Menschen dort leben ziemlich versprengt, ziemlich isoliert: Sie haben
keinen Kontakt zu ihren Nachbarn, man schaut auch nicht auf sich.
Ohne Auto kommen sie nirgendwohin, sie finden dort gleichzeitig aber auch
keine angenehmen Treffpunkte vor.”
Für sein Buch “Stress and the City” hat der Berliner Psychiater Mazda Adli
umfangreiche Daten aus Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Architektur
und Stadtplanung zusammengetragen. Eine Erkenntnis: Sozialer Stress wird
verstärkt. wenn sich Stadtbewohner Stressfaktoren hilflos ausgeliefert fühlen.
"Der Stress, der uns in der Stadt krank macht, ist allen Hinweisen nach
sozialer Stress. (...), vor allem dann, wenn er chronisch ist, wenn er als
unbeeinflussbar oder unvorhersehbar erlebt wird. Wir sprechen dann von
geringer environmental mastery. Environmental mastery bezeichnet das
Gefühl, die eigene Umwelt den eigenen Bedürfnissen entsprechend
beeinflussen zu können.(...) Also alles, was wir tun, das unsere
Kontrollerfahrung über eine Lärmquelle verbessert, hilft dabei, diesen Lärm
nicht als so belastend zu empfinden."
Der Psychologe Mazda Adli hält es grundsätzlich für gesundheitsfördernd, sich
genauer mit der Quelle des Übels zu beschäftigen – und damit, was die
Alternativen wären. Lärm, sagt Adli, werde zunächst als mögliche Bedrohung
registriert, der Körper in Alarmbereitschaft versetzt – mit Flucht oder Angriff
als Handlungsoptionen. Wer in einer anonymen Hochhaussiedlung nicht einmal
wisse, wer der Krach machende Nachbar ist, an den man sich wenden könnte:
Der erlebe einen Kontrollverlust, ein Gefühl der Ohnmacht.
O-Ton 15 Mazda Adli, Psychiater, Autor "Stress and the City"
(...)Und dann sind die Folgen, psychische Probleme, Konzentrationsprobleme -
aber auch Herz-Kreislauferkrankungen wie zum Beispiel Bluthochdruck.”
Unter den negativen Begleiterscheinungen des urbanen Lebens leiden
besonders diejenigen, die nicht in der Lage sind, wegzuziehen: Alte, Kranke,
auch Migranten, die dem Lärm, Luftverschmutzung oder auch Hitzestress in
urbanen Betonwüsten nicht entfliehen können. Das Stadtleben mache also
nicht jeden gleich krank, betont Mazda Adli. Dabei kommt der Berliner
Psychiater auf das Beispiel Schizophrenie zu sprechen. Menschen, die ohnehin
eine Veranlagung für psychische Erkrankungen haben, zögen eher in die Stadt,
weil sie auf eine bessere Gesundheitsversorgung hofften - oder einer größeren
Stigmatisierung auf dem Land entkommen möchten. Dort könnten sie sich
dann aber in einer Umgebung wiederfinden, die selbst seelische Störungen
begünstige. Im Fall von schizophrenen Psychosen gelte dies etwa, wenn man
bereits früh dem Stadtstress ausgesetzt sei, sagt Adli.
"Ganz besonders gut ist dieser Zusammenhang für die Schizophrenie gezeigt,
die Stadtbewohner mindestens doppelt so häufig betrifft. Die diejenigen, die
ihre gesamte Kindheit in der Stadt aufgewachsen sind, sogar fast dreimal so
häufig betrifft. Und da gibt es sogar einen Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zur
Anzahl der Jahre, die wir in einer Stadt aufgewachsen sind. Und auch zu der
Größe der Stadt, in der wir aufgewachsen sind und dem Schizophrenie-Risiko
später im Erwachsenenalter."
Wachse ein Mädchen oder ein Bub in der Stadt auf, so nehme die
Wahrscheinlichkeit einer schizophrenen Erkranung mit der Größe der Stadt und
der Anzahl der dort verbrachten Lebensjahre zwar zu. Ziehe das Kind aber
dann von der Stadt aufs Land, so sinke sein Schizophrenie-Risiko wieder. Aber
wenn Kinder so stress-resilient sind: Könnte man ihnen dann nicht
antrainieren, mit urbanem Stress umzugehen - Stadt also von Klein auf lernen?
In der Stadt groß zu werden ist nicht per se schlecht für die Gesundheit, betont
“Man kann sogar sagen, dass das Aufwachsen in der Stadt trotz alledem sehr
viele Vorteile in sich vereint. Vielleicht sogar mehr Vorteile als Nachteile. Denn
man muss auch sagen, dass wir insgesamt auf Stress empfindlicher reagieren,
wenn wir in der Stadt aufgewachsen sind, ist für die meisten Menschen ja auch
ein positiver Anpassungsprozess, und zeigt, dass wir trainierter sind, in der
Stadt mit der Betriebsamkeit und der höheren Ereignisdichte gut umzugehen.”
Der bekannte US-Soziologe Richard Sennett sagt sogar: Kinder, die in der Stad
groß werden, haben eine bessere Chance, zu demokratischen Bürgern zu
werden. Sie lernten von Klein auf, was kulturelle Vielfalt und gesellschaftliche
Komplexität bedeuten. Auch für alleinerziehende Eltern sei das Leben in der
Stadt, wo sie leichter Betreuungsplätze finden, womöglich stressfreier als auf
dem Land, gibt der Psychologe Amazda Adli zu bedenken. Insgesamt biete die
Stadt vielen Menschen mehr Vor- als Nachteile. Adli spricht von urban
advantage, dem städtischen Vorteil. Der liegt nicht nur in einem besseren
Zugang zu Schulen und Hochschulen, sondern auch in einer größeren Auswahl
an Jobs, mehr Freizeitangebot und einer besseren Gesundheitsversorgung.