Vor rund 4500 Jahren scheint sich in Europa eine Religion zu entwickeln: Die Steinzeitleute begannen, ihre Toten anders zu bestatten und ihnen glockenförmige Keramikbecher ins Grab legten. Wer waren diese Leute, die man als Glockenbecherkultur zusammenfasst? Von Matthias Hennies (BR 2024)
Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Johannes Hitzelberger, Constanze Fennel
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Elisabeth Reuter, Prof. Philipp Stockhammer, Dr. Wolfgang Haak, Dr. Guido Brandt, Prof. Harald Meller
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Sprecher
Elisabeth Reuter, Töpferin, sitzt in ihrer Werkstatt an einem alten Tisch und knetet eine Rolle Ton. Trennt ein Stück ab und formt ein Gefäß.
1. O-Ton Reuter 13:20
(Geräusche) Ich drehe es auf der Unterlage immer und bearbeite es auf der einen Seite mit den Daumen und auf der anderen Seite mit den restlichen Fingern, also mit beiden Händen gleichzeitig -
Sprecher
Sie töpfert einen Becher, der in der Jungsteinzeit, im 3. Jahrtausend vor Christus, in ganz Europa verbreitet war. Damals kannten die Menschen die Töpferscheibe noch nicht, auf der sich Tongeschirr viel schneller produzieren lässt. Die Töpferin aus Friedland in Hessen ist Spezialistin für Gefäße aus frühen Jahrtausenden. Im Handumdrehen formt sie ein rundes Schälchen, Basis für einen „Glockenbecher“, der mit jeder neuen Rolle Ton, die sie auf den Rand aufsetzt, größer wird.
2. O-Ton Reuter 17:45
Und damit das Gefäß breiter wird, setze ich das nicht in die Mitte, sondern eher zum Rand hin und drücke es auch noch nach außen. Wir brauchen die Glockenform.
Sprecher
Der „Glockenbecher“ ist ein gutes, gründlich erforschtes Beispiel für eine große Frage der Geschichtswissenschaften: Wie haben sich in der Vergangenheit neue Ideen verbreitet? In einer Epoche, als es noch keine Schrift gab, als die Menschen nicht in großen, gut organisierten Staaten, nicht in dicht bevölkerten Städten lebten: Haben Einwanderer in jenen Zeiten neues Gedankengut eingeführt? Oder verbreitete es sich von Mund zu Mund, durch Reisende oder Händler, als Ideen-Transfer?
3. O-Ton Reuter 45:59
Ich bearbeite es noch mal nach, um es zu glätten und oben auseinanderzuziehen-
Sprecher
Das Gefäß erinnert an eine Glocke, die auf dem Kopf steht: Ein voluminöser Bauch, dann ein schmaler Hals, der sich wieder zu einer weiten Mündung öffnet. Es war mit regelmäßigen Linien und Mustern verziert. Die Töpferin demonstriert, wie man sie herstellt: Sie legt behutsam eine Schnur um das weiche, ungebrannte Gefäß.
4. O-Ton Reuter 53:08
Das sind so Kordeln, gedrehte, die kann ich in den Ton eindrücken, muss ich mit gutem Augenmaß arbeiten, ich habe jetzt eine Linie rund um mein Gefäß eingedrückt, das sieht man als leichte schräge Spuren in dieser Linie.
Sprecher
Linie wird unter Linie gesetzt, danach ist der Becher fertig zum Brennen. Etwa acht Stunden später kommt ein fein verziertes, stabiles Gefäß aus dem Feuer. Wozu mag man es im dritten Jahrtausend vor Christus verwendet haben?
4 ½. O-Ton Stockhammer 2’20 neu
Wir wüssten natürlich sehr gern, was es mit denen auf sich hat, gerade mit dieser einheitlichen Form: Es gibt Nahrungsrückstands-Analysen an einigen wenigen dieser Becher, in denen man „Mädesüß“ gefunden hat. Ein mir vorher auch unbekanntes Kraut, aus dem man eine alkoholische Substanz ziehen konnte, vielleicht war der Glockenbecher einfach ein spezifisches Gefäß zum Konsum alkoholischer Getränke, so wie wir in Bayern einen Maßkrug haben.
Sprecher
Für die Archäologie ist etwas Anderes wichtiger, stellt Philipp Stockhammer klar, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München: Dass Glockenbecher gegen Ende der Jungsteinzeit massenhaft als repräsentative Grabbeigaben dienten. Unzählige Exemplare haben sich bis heute erhalten, quer durch Europa, und die Gräber hatten – mit kleinen Abweichungen – immer dieselbe Ausstattung, immer dieselben Beigaben.
5. O-Ton Stockhammer 1‘37
In Mitteleuropa würde das Glockenbechergrab eine Körperbestattung sein, mit angezogenen Beinen, es ist eine so genannte Hockerbestattung, wobei alle Skelette Nord/Süd orientiert waren und die typischen Beigaben waren bei den Männern neben einem Keramikbecher oft ein Kupferdolch und eine so genannte Armschutzplatte, das ist etwas, was man am Arm trägt, damit die Sehne des Bogens, wenn man schießt, nicht den Unterarm verletzt.
Sprecher
Viel weiß man nicht über die Gemeinschaften, die diese Bestattungssitte praktizierten. Die Krieger kämpften offensichtlich mit Pfeil und Bogen, sie nutzten vermutlich schon Pferde als Reittiere. Lebensgrundlage war die Landwirtschaft, die Menschen bearbeiteten Äcker und züchteten Vieh. Siedlungen sind in Mitteleuropa bisher nur selten zu Tage gekommen. Die auf dem gesamten Kontinent verbreiteten, einheitlichen Gräber deuten aber auf ein weit gespanntes Kommunikationsnetzwerk hin, das Bevölkerungsgruppen über große Entfernungen verband. Zugleich lassen sie auf eine ziemlich egalitäre Sozialstruktur schließen, doch mancherorts gab es auch eine wohlhabendere Schicht.
5 ½. O-Ton Stockhammer 4:55 neu
Es gibt Gräber auch in Süddeutschland, mit Gold, mit Bernstein – und wir haben auch ein Grab in Süddeutschland, das mit spanischem Silber ausgestattet ist, also Objekte, die klar zeigen, ja, es gab Menschen, die in diesem Netzwerk offensichtlich eine herausragende Position innehatten und denen es möglich war, über dieses Netzwerk aus fremden Regionen Objekte und natürlich auch Wissen zu beziehen.
Sprecher
Entscheidend für die Entwicklung der „Glockenbecher-Kulturen“ war der Einfluss von Steppenhirten, die aus Osteuropa kamen.
6. O-Ton Stockhammer 6:01
Im frühen dritten Jahrtausend wanderten aus der heutigen Ukraine, kann man vielleicht sagen, Steppenhirten nach Mitteleuropa ein, ja, sie kamen bis nach Spanien und wir sehen genetisch bei diesen Einwanderern, dass es vor allem Männer waren. Es ist sehr spannend – wir sehen es am Y-Chromosom, das wird ja auf der männlichen Linie weitergegeben – dass sich das in ganz Europa ausbreitet und auch quasi durchsetzt. Wir wissen nicht, wie friedlich das abgelaufen ist, vor allem, weil zur selben Zeit die männlichen lokalen Linien alle enden.
Sprecher
Friedlich kann es wohl kaum abgegangen sein. Archäologische Belege dafür sind allerdings noch nicht zutage gekommen. Am Erbgut von Skeletten aus Glockenbecher-Gräbern lässt sich nur nachweisen, dass die Steppenhirten einheimische Frauen nahmen und sich mit der mitteleuropäischen Bauernbevölkerung vermischten.
7. O-Ton Stockhammer 7:22
Und aus dieser Vermischung ist eben nicht nur genetisch was passiert, sondern auch kulturell was passiert: Und dieses Glockenbecher-Phänomen ist quasi eine kulturelle Bewältigung dieser Einwanderer aus dem Osten.
Sprecher
Mit der Expansion der Männer aus der Steppe verbreiteten sich die Glockenbecher-Kulturen rasant, quasi parallel zum Weg der Einwanderer. Quer durch Europa, von Osten nach Westen zunehmend, gaben die neuen Gemeinschaften ihren Toten die unverwechselbaren Tongefäße mit ins Grab. Offen war bisher jedoch, ob allein die Migranten aus dem Osten die neue Sitte weitergetragen haben oder ob sie auch unabhängig von den Steppenhirten praktiziert wurde. Ein internationales Forscherteam hat nun Knochen und Zähne von 400 Menschen aus Glockenbecher-Gräbern auf Erbgut der Steppenhirten untersucht, in einer der bisher umfangreichsten Untersuchungen prähistorischer DNA. Archäologen aus ganz Europa holten dafür Skelettreste aus früheren Ausgrabungen aus den Magazinen.
8. O-Ton Haak 8:23
Wir sprechen von Proben aus Portugal, Spanien, Frankreich, den britischen Inseln, dann über Benelux und Mitteleuropa bis hin nach Tschechien, Italien und Ungarn hinein.
Sprecher
Das Projekt eröffnete neue Einblicke in die Veränderungen im Genom der Europäer und illustriert zugleich die großen Fortschritte der Genforschung, erläutert Dr. Wolfgang Haak vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, der als Genetiker daran mitgearbeitet hat.
8 ½. O-Ton Haak
Ich komme ja noch aus einer Generation, wo man das ganz mühselig aus diesen alten Knochenfunden herausarbeiten musste, das waren ganz langwierige Prozesse, und man hat da mit großem Aufwand ganz wenig Informationen herausbekommen, also nur noch wenige Bruchstücke aus dem Genom, die man dann zusammengestückelt hat, und damals hat man noch alles allein gemacht, man hat alles von A-Z, der Probennahme bis letztlich zur Publikation machen können, das ist heute nicht mehr der Fall.
Sprecher
In den großen Projekten der Paläogenetik arbeiten jetzt Spezialisten in Dutzenden Labors von Harvard über Kopenhagen bis Jena zusammen. Das ist möglich – und oft auch nötig –, weil Millionen von Erbgut-Proben nun parallel, in Massen-Analysen, untersucht werden können.
9. O-Ton Haak 4:09
Da musste man auch sich auf den Hosenboden setzen, schön Hausaufgaben machen, das war ne steile Lernkurve für uns alle, das hat natürlich die gesamte Molekulargenetik betroffen, also nicht nur die alte DNA, sondern die Biologie insgesamt, und da ist es egal, was man sequenziert, ob das jetzt die Hefe ist oder der Löwe aus dem Zoo oder eben prähistorische Menschen, wir sind jetzt in der Lage, mit höchster Auflösung die Dinge anzugehen.
Sprecher
Ein Roboter fährt auf einer Laborbank des Jenaer Forschungsinstituts hin und her. Er pipettiert minimale Mengen Erbgut und Chemikalien in winzige Kanäle in einem blauen Kunststoffklotz. Damit beginnt das erste der drei entscheidenden neuen Verfahren: die „Library Preparation“, der Aufbau einer DNA-Bibliothek. Laborleiter Dr. Guido Brandt erläutert die Hintergründe.
10. O-Ton Brandt 3:38
Ich habe ein DNA-Fragment aus einer Probe und damit ich dieses DNA-Fragment analysieren kann, muss ich es manipulieren. Und das machen wir, indem wir an die beiden Enden dieses DNA-Fragments bekannte DNA-Sequenzen herankleben. Das sind selbst designte Sequenz-Schnipsel, die Sie bei Firmen in Auftrag geben und die synthetisieren synthetische DNA. In diesen „Adaptern“, wie wir sie nennen, sind bestimmte Bereiche enthalten, die dafür verantwortlich sind, dass ich die DNA vervielfältigen kann, dass ich sie später aber auch von Fragmenten einer anderen Probe unterscheiden kann. Man muss sich das so vorstellen wie einen Barcode, wie an der Supermarktkasse einen Strichcode.
Sprecher
Dank dieses “Strichcodes” sind die Proben aus dem Erbgut eines Menschen identifizierbar – und können im nächsten Arbeitsschritt zusammen mit der DNA mehrerer hundert anderer Individuen sequenziert werden. Die „Massive Parallele Sequenzierung“, der zweite große Fortschritt, beruht einer dramatischen Verbesserung der Sequenziermaschinen.
11. O-Ton Brandt 7:30
Die Technik von vor 15 Jahren, die wurde letzten Ende verwendet, um das erste humane Genom zu erzeugen, man hat da zwei Jahrzehnte dran gearbeitet und es hat Millionen von Dollar verschlungen, heute ist es möglich, ein humanes Genom für unter 1000 Dollar in 24 Stunden zu erzeugen. Der große Vorteil ist einfach diese massive parallele Sequenzierung, die es mir erlaubt, viele hundert Individuen auf einmal zu bearbeiten und eben Millionen von DNA-Sequenzen in einem Sequenzierlauf zu erzeugen.
Sprecher
Früher mussten Forscher für die Sequenzierung einen Abschnitt aus einer DNA-Probe auswählen. Dass beim „Next Generation Sequencing“, wie es auch genannt wird, nun Millionen DNA-Sequenzen gleichzeitig bearbeitet werden, vereinfacht insbesondere die Erforschung Alten Erbguts: Nun fällt eine solche Fülle von Daten an, dass es keine Bedeutung mehr hat, wenn einige DNA-Sequenzen nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden nicht mehr intakt sind. Die Paläogenetik erlebt daher einen mächtigen Boom.
Sprecher
Die neue Technik wäre nicht komplett ohne den Entwicklungssprung in der Bioinformatik. Um die gigantischen Datenmengen aus der Parallelen Sequenzierung auswerten zu können, mussten neue Computerprogramme geschrieben und leistungsstarke Rechner angeschafft werden.
12. O-Ton Brandt 22:18 (O-Ton vorn gekürzt!)
Durch das Library Prep werden einfach alle Moleküle, die in meiner Probe drin sind, in eine Library transferiert und damit ist es möglich, alle sofort zu sequenzieren. Und später dann eben am Computer der richtigen Position im Genom zuzuordnen. Es wird dann über bestimmte bio-informatische Algorithmen errechnet, wo ein Sequenzschnipsel im Genom am besten hinpasst.
Sprecher
Den Wissenschaftlern eröffnen sich damit neue Erkenntnis-Möglichkeiten:
Statt vor der Analyse auf gut‘ Glück einen DNA-Abschnitt auszuwählen, können sie jetzt das komplette Erbgut mehrerer Individuen rekonstruieren und danach entscheiden, wo die vielversprechenden Abschnitte liegen: Die Y-Chromosomen für die männlichen Linien etwa, die mitochondriale DNA für die Vererbung auf mütterliche Seite oder Mutationen im Erbgut, wenn es um die Charakterisierung von Bevölkerungsgruppen geht.
Sprecher
Im Glockenbecher-Projekt fanden die Genetiker das Erbgut der Steppenhirten in fast allen Skelettresten aus Mittel- und Westeuropa. Nur in den ältesten Proben, die auf etwa 2800 vor Christus datiert werden und aus Spanien stammen, ließ sich keine DNA der Einwanderer feststellen. Für den Archäologen Stockhammer ergibt sich daraus eine klare Schlussfolgerung: Glockenbecher waren auf der iberischen Halbinsel schon vor Ankunft der Einwanderer bekannt. Die neue Bestattungssitte hat sich also nicht nur durch Migration in Europa verbreitet, sondern ist unter iberischen Bevölkerungsgruppen schon vorher weitergetragen worden: als Ideentransfer, sozusagen von Mund zu Mund.
13. O-Ton Stockhammer 11:11& 23:17
Der Impetus kam durch Einwanderer, aber das Glockenbecher-Phänomen an sich ist dann nicht durch großräumige Wanderungen entstanden, sondern durch Kontakt zwischen den Beteiligten. Es war sicher das erste großräumige Phänomen, von dem man zeigen konnte, dass es nicht vor allem durch Migration entstanden ist.
Sprecher
Ausnahme: Die britischen Inseln, die die Einwanderer ab Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus eroberten. Sie löschten die Einheimischen, deren Vorfahren einst Stonehenge erbaut hatten, fast vollständig aus. Und sie brachten die Glockenbecher mit: Auf den britischen Inseln verlaufen Einwanderung und Verbreitung von Glockenbechern eindeutig parallel.
Insgesamt gesehen, liefert die Studie neuen Stoff für einen alten Streit. Lange meinten Altertumswissenschaftler, wo einheitliche Fundensembles zu Tage kamen, hätte auch eine einheitliche Menschengruppe gelebt. So sprach man von einem „Glockenbecher-Volk“.
Oder man meinte, überall, wo eiserne Bratspieße und so genannte „Antennendolche“ ausgegraben wurden, hätten Kelten gewohnt. In den sechziger Jahren kamen Zweifel auf: Kann man tatsächlich aus ähnlichen Objekten schließen, dass ein Volk sie hervorgebracht hat, mit einer übereinstimmenden Signatur des Erbguts? Die Glockenbecher-Untersuchung spricht dagegen.
14. O-Ton Stockhammer 7‘57
Wir haben ja die Gräber der Einwanderer, bevor sie nach Mitteleuropa kamen. Die hatten eben auch Becher, aber die waren keine Glockenbecher, die waren eben ein bisschen anders, die waren schnurverziert. Die hatten keine Kupferdolche, die hatten Steinäxte, die hatten auch Hockerbestattungen, aber nicht Nord-Süd, sondern Ost-West. Und das Spannende ist, das Glockenbecher-Phänomen dreht quasi alle kulturellen Aspekte dieser Steppenhirten in ihr Gegenteil, aber es bleibt ein Dialog, wie eine Dialektik, zwischen dem, was da aus dem Osten in den Westen gekommen ist und dem, was vorher schon im Westen da war.
Sprecher
Die Glockenbecher-Sitte und die Kultur der Einwanderer gehen nicht auf denselben Ursprung zurück, betont Stockhammer, haben sich im Umbruch der massiven, blutigen Einwanderungswelle aber gegenseitig beeinflusst.
Doch die alte Streitfrage ist noch nicht entschieden. Gerade am entscheidenden Resultat der Studie, das den Ideentransfer belegen soll, hat der Genetiker Wolfgang Haak Zweifel. Er hebt hervor: Die Verbreitung von Glockenbechern fällt räumlich und zeitlich zum allergrößten Teil mit der massiven Expansion der Steppenhirten zusammen. Nur die ältesten, auf 2800 vor Christus datierten Glockenbecher aus Spanien passen nicht ins Bild.
15. O-Ton Haak 18:28 (vorn gekürzt!)
Das sind nur diese ersten 300 Jahre, wo das nicht zusammengeht, dann später geht es wirklich 1:1 zusammen, was wir im Rest des Genoms sehen und auch die archäologische Sachkultur, das geht Hand in Hand.
Sprecher
Ist die Datierung der spanischen Funde wirklich zuverlässig? Die Jahreszahl 2800 vor Christus wurde nicht aktuell im Rahmen der Studie ermittelt, sondern lag bereits aus der Ausgrabung vor. Und, so Haak weiter, lassen sich diese Gräber eindeutig der Glockenbecher-Kultur zuordnen? Der Genetiker, der in mehreren internationalen Großprojekten aktiv ist, will das europaweite Phänomen nun noch detaillierter erforschen: mit neuen archäologischen Daten und Erbgut-Analysen von mehreren tausend Individuen.
Sprecher
Weitere Untersuchungen bieten sich auch an, weil hinter der neuen Bestattungssitte mehr steht als nur eine andere Grabbeigabe: Die Menschen begannen eines Tages, ihren Toten Glockenbecher ins Grab zu legen, weil sie für sie eine konkrete Bedeutung hatten. Sie waren Ausdruck einer bestimmten Überzeugung, eines Glaubens. Welche Wünsche und Hoffnungen damit verbunden waren, lässt sich nicht rekonstruieren, doch es war eine neue Religion oder eine neue Ideologie. Und sie hatte erstaunlichen Erfolg, verbreitete sich von Ungarn bis Portugal, von Italien bis auf die britischen Inseln. Die Menschen standen trotz der Entfernung miteinander in Verbindung, sie bildeten ein Netzwerk, sagen die Forscher.
16. O-Ton Haak 25:30
Warum hat es immer wieder funktioniert? Da muss es ja ein kulturelles oder soziologisches Konzept gegeben haben, vielleicht auch eine Ideologie, die dann attraktiv war, das war möglicherweise einfach das Wirtschaftsmodell, das gezogen hat, das Gelobte Land, das neue Ding, es ging aufwärts, vorwärts, das ist ein Modell, das man mal prüfen müsste.
Sprecher
Dieses Netzwerk bereitete wahrscheinlich der Innovation den Boden, die eine neue Epoche einläutete: der Herstellung der Bronze, des ersten praktischen Metalls. Mancherorts in Europa hatten Menschen schon vorher Kupfer bearbeitet, aber kupferne Waffen und Werkzeuge sind relativ weich. Legiert man Kupfer jedoch mit etwas Zinn, wird das Material härter, lässt sich gut bearbeiten und glänzt obendrein wie Gold: Das sind die Vorzüge der Bronze. Bronze ist aber nicht leicht herzustellen, weil Zinnvorkommen in Europa rar sind: Größere Lagerstätten finden sich nur im äußersten Westen Englands, im heutigen Cornwall. Dort ließen sich Menschen der Glockenbecher-Kulturen ab 2450 vor Christus nieder. Viele Archäologen vermuten, dass sie die Kenntnis von der Zinnbronze über den Kontinent verteilten. Philipp Stockhammer:
17. O-Ton Stockhammer 37:22
Gerade das Glockenbecher-Netzwerk war einer der entscheidenden Momente, Wissen auszutauschen: Oh, hier haben wir die Zinnlagerstätten, oh, hier haben wir Kupfer, oh, hier haben wir die neuen metallurgischen Techniken aus dem Orient. Und deshalb war das Glockenbecher-Phänomen eigentlich die entscheidende Triebfeder für die Herausbildung der Bronzezeit in Mitteleuropa, und ich sehe in meinen Forschungen, dass sich in Mitteleuropa eigentlich nur dort die frühe Bronzezeit entwickeln konnte, wo wir vorher auch das Glockenbecher-Phänomen fassen.
ATMO (Besucher im Museum)
Sprecher
Etwa ab 2400 vor Christus entwickelte sich ein Zentrum der frühen Bronze-Herstellung im östlichen Mitteldeutschland. Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle kann eine Fülle einschlägiger archäologischer Funde präsentieren.
18. O-Ton Meller 5:38
Die frühesten Bronze-Objekte, die wir hier haben, kann ich Ihnen zeigen, das sind Dolche…
ATMO (Schritte)
Sprecher
Professor Harald Meller, Museumsdirektor und Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, ist an mehreren Forschungsprojekten zum Anfang der Bronzezeit in Europa beteiligt. Auch er zieht eine Verbindung zwischen der Glockenbecher-Kultur und der Metallverarbeitung.
19. O-Ton Meller 13:27
Die Fähigkeit, Bronze herzustellen, gibt es schon ganz alt im Vorderen Orient und am Balkan, aber bei uns in Mitteleuropa ist die Bronzeherstellung noch mal erfunden worden, zumindest ist das die Hypothese, durch die Eroberung von Südengland, Glockenbecherleute erobern Südengland, und die entdecken dann in Cornwall das Zusammentreffen von reichen Zinnquellen in den Flüssen und dieses Zinn ermöglicht es natürlich, Bronze herzustellen.
Sprecher
Vor einer Wand-hohen Vitrine, in der auf dunklem Stoff mehrere Reihen bronzener Beilklingen aufgehängt sind, eine wie die andere, wird deutlich, welche Revolution die Entdeckung dieses Materials bedeutete: Sie veränderte die Gesellschaft grundlegend.
20. O-Ton Meller 18:39
Der Bronzeguss ist für uns so wahnsinnig wichtig, weil damit die Menschen zum ersten Mal selbstgeschaffen identische Dinge herstellen. Vorher hast du ein Steinbeil, jedes Beil ist anders, abhängig von der Quelle. Das heißt, ein Fürst lässt 100, 200, 300 Beile gießen, und die sind völlig identisch, die kann er jetzt an die Bauernsöhne verleihen, kann er eine Armee aufstellen.
Sprecher
Ab Ende des dritten Jahrtausends vor Christus herrschten erstmals mächtige Fürsten in einigen Gegenden Mitteleuropas. Aus den Glockenbecher-Kulturen, die kaum Hierarchien kannten, hatte sich eine neue Gesellschaftsstruktur gebildet. Meller spricht dabei übrigens von „Glockenbecherleuten“ – als ob sich die bauchigen Tongefäße doch mit einer genetisch einheitlichen Bevölkerung identifizieren ließen. Über die Frage, ob die Bestattungssitte mit Glockenbechern, die erfolgreiche neue Religion, von Einwanderern verbreitet wurde oder als Idee von Mund zu Mund wanderte, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.