Es gibt wenige belastbare Belege, dass es früher, etwa in der Steinzeit, ein echtes Matriarchat gab – also ein gesellschaftliches System, in dem die Frauen die herrschende Klasse bildeten. Was manche als einen Hinweis werten, sind die bekannten frühen Frauen-Skulpturen – etwa die berühmte Venus vom Hohlefels aus der Schwäbischen Alb oder die Venus von Willendorf aus Österreich und andere. Es wurde früher schnell spekuliert, dass diese Skulpturen Göttinnen dargestellt haben. Angenommen, die Deutung ist richtig, dann findet man also aus der Zeit – das war die Eiszeit, vor 25.000 bis 40.000 Jahren – Darstellungen von Göttinnen, aber keine von Göttern. Also scheint es, dass die Frauen irgendwie wichtiger waren.
Das Problem: Das mit den Göttinnen ist reine Spekulation. Rein theoretisch können die Figuren genauso gut dekoratives Spielzeug gewesen sein oder steingewordene Männerfantasien. Das wird man vermutlich nie genau herausfinden. Insofern beweisen diese Figuren in Bezug auf ein Matriarchat ziemlich wenig.
Was gibt es sonst für Belege aus der Steinzeit, die etwas über die Rollen von Männern und Frauen verraten?
Ich bleibe mal in Europa. Da kann man sich Gräber anschauen: Wie wurden Männer und Frauen jeweils bestattet? Gab es da Unterschiede? Tatsächlich hat die Untersuchung von Gräbern schon geholfen, mit einem Mythos aufzuräumen. Früher gab es das Bild: Männer waren die Jäger, die die Nahrung herbeischafften, Frauen haben allenfalls ergänzend Früchte gesammelt und sich ansonsten um die Familie gekümmert. Das Bild wurde über den Haufen geworfen, als man Gräber fand, die umfangreich mit Jagdutensilien dekoriert waren – aber die Leiche sich als Frau entpuppte. Also haben auch Frauen gejagt, aber auch das beweist noch kein Matriarchat, sondern allenfalls eine gewisse Gleichstellung. Auch an anderen Befunden zeigt sich, dass es in der europäischen Steinzeit bis zu einem bestimmten Punkt zwar kein ausgeprägtes Matriarchat gab, aber die Geschlechter eher gleichgestellt waren.
"Bis zu einem gewissen Punkt" – wann und warum kippte das in Richtung Patriarchat?
Da hilft eine weitere Spur weiter: Die Genetik. Die Wissenschaft kann inzwischen die Gene von Steinzeitskeletten immer besser analysieren, und diese Gene können einiges verraten: Waren die Toten, die zusammen in Gräbern liegen, miteinander verwandt? Und wenn ja, wie? Kam es bei der Frage, wer wird mit wem zusammen bestattet wird, auf die väterliche oder die mütterliche Linie an? Die Gene verraten auch: Wer war alteingesessen, wer ist hinzugezogen oder eingewandert? Diese Informationen sind sehr aufschlussreich. Sie deuten darauf hin, dass sich vor knapp 6.000 Jahren einiges verändert hat.
Was hat sich vor etwa 6.000 Jahren verändert?
Zum einen wurde die Landwirtschaft intensiviert. Ackerbau gab es schon vorher, da waren auch die Frauen beteiligt. Aber vor knapp 6.000 Jahren, im weiteren Ostseegebiet, kamen Bauern auf den Gedanken, ihre Felder mithilfe von Ochsen zu pflügen. Das war schwere körperliche Arbeit, bei der man nicht nebenher kleine Kinder beaufsichtigen konnte. Das könnte ein Faktor gewesen sein, der dazu führte, dass sich die Ernährerrolle einseitig zu den Männern verschoben hat.
Das andere, was sich in dieser Zeit nachweisen lässt, sind verstärkte Handelsaktivitäten. An der Atlantikküste wurde Salz gewonnen und gehandelt, auch Jade. Das Händlerdasein ist männlich, denn man ist viel unterwegs mit Booten oder zieht auf Ochsenkarren übers Land. Auch das geht schwer mit kleinen Babys. Und zweitens war Handel etwas, womit man zu Wohlstand und damit auch zu Einfluss kommen konnte. Auch hier entsteht eine Verknüpfung von männlicher Rolle und höherem sozialem Status.
Das klingt plausibel. Aber kann man belegen, dass die Männer dadurch dominanter wurden?
Dass genau das die Gründe waren, kann man nicht beweisen. Aber es fällt auf, dass zeitgleich mit Ochsenpflug und Salzhandel die Männer bedeutsamer wurden. Das zeigt sich in der Grabkultur. Jetzt entstanden nämlich die großen Hügelgräber, aber auch die Megalithgräber, die wir vor allem aus Frankreich und Großbritannien kennen. Die deuten darauf hin, dass es jetzt zum einen eine deutliche stärkere soziale Schichtung gab als vorher. Und dass zum anderen dort, wo Familien bestattet wurden, die Väterlinie relevant war.
Was heißt das konkret?
Ein gutes Beispiel ist ein Großsteingrab in Südengland, in Hazleton. Dort sind 35 Personen aus fünf Generationen bestattet. Von diesen 35 stammen 15 von einem einzigen Mann ab, der offenbar mit vier Frauen Kinder gezeugt hat. Er war sozusagen das, was man sich unter einem waschechten Patriarchen vorstellt. Aus mehreren Generationen waren jeweils die Söhne bestattet – aber keine einzige erwachsene Tochter. Denn die Töchter, so sieht es aus, zogen regelmäßig weg – auch das ein Merkmal patriarchaler Strukturen. Die Männer bleiben, , die jungen Frauen werden anderswohin verheiratet.
Das sind typische Funde, die zeigen: Um diese Zeit, vor knapp 6.000 Jahren, haben sich die Verhältnisse erkennbar Richtung Männer verschoben.
Und das hat sich dann verfestigt?
Ja, und es kam noch etwas hinzu. Ein paar Jahrhunderte später, also vor 5.000 Jahren, kam aus den Steppen der heutigen Ukraine und Russlands eine große Einwanderungswelle. Das haben Archäologen schon länger vermutet, aber 2015 haben das zwei genetische Untersuchen bestätigt. Das war nicht irgendeine Einwanderung, sondern nach der Einwanderung des Homo sapiens aus Afrika und einer zweiten Welle von frühen Ackerbauern aus Anatolien, war das die dritte ganz große Einwanderungswelle, die das frühe Europa geprägt hat. Das waren die sogenannten Schnurkeramiker, auch bekannt als Jamnaja-Kultur. Die da eingewandert sind, waren Hirten, Reiter, und zwar überwiegend Männer. Die kamen nach Mittel- und Westeuropa und haben in relativ kurzer Zeit die Landschaft dominiert. Sie haben, so der genetische Befund, mit den Frauen der alteingesessenen Bauernkultur Familien gegründet. Dabei hat sich die Männer-Dominanz noch verstärkt und verfestigt.
Fazit: Ob es in der Urzeit jemals ein echtes Matriarchat gegeben hat, ist reine Spekulation, die Belege dafür sind sehr schwach. Zumindest aber waren die Geschlechter lange Zeit relativ gleichgestellt. Vor knapp 6.000 Jahren ist die gesellschaftliche Struktur dann offenbar in mehreren Schritten immer mehr Richtung Männerdominanz gekippt.
Ein Tipp für die, die sich mehr für diese Zusammenhänge interessieren, ist das Buch "Mütter Europas: Die letzten 43.000 Jahre" von Karin Bojs. Sie schreibt darin über die ganzen Diskussionen, die es seit Jahrzehnten in der Archäologie über das Thema gibt.
Ich habe hier nur von Europa geredet. In anderen Weltgegenden, etwa in Indonesien, gibt es durchaus auch heute Beispiele für matriarchale Strukturen.